Protokoll der Sitzung vom 21.04.2016

Herr Abgeordneter Fiedler, die Stadt Nordhausen fordert noch eine verstärkte Pflicht zur Eingemeindung von Umlandgemeinden in Ober- und Mittelzentren.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Ergebnisse all dieser Diskussionen sind in den Gesetzgebungsprozess mit eingeflossen und angesichts der massiv veränderten Rahmenbedingungen erwarten die Bürger von uns auch klare Antworten auf drängende Fragen. Wir geben die Antworten und den rechtlichen Rahmen unter anderem mit diesem Vorschaltgesetz. Wir sind sicher, dass es auch die richtigen Antworten sind. Ich werde

(Minister Dr. Poppenhäger)

auch nicht müde, stets zu wiederholen, geschätzte Frau Tasch, unser Land steht vor großen Herausforderungen. Wer das ignoriert, verschließt sich der Zukunft Thüringens und wird auch seiner Verantwortung vor den Bürgerinnen und Bürgern nicht gerecht.

(Zwischenruf Abg. Tasch, CDU: Das ignorie- ren wir auch nicht!)

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU: Ihr wollt das Land nur kaputt machen, ihr wollt nur alles, alles kaputt machen!)

Die Auswirkungen des demografischen Wandels und die zu erwartende Negativentwicklung der öffentlichen Haushalte sind so gravierend, dass sie die Leistungs- und Funktionsfähigkeit unserer Gemeinden und Landkreise ernsthaft gefährden.

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU: Ihr könnt doch nicht erwarten, dass es vorwärtsgeht!)

Die nüchternen Fakten der zu erwartenden Bevölkerungsentwicklung sind vielfach benannt worden und sie sind nicht ernsthaft zu bestreiten. Die Basis für die großen Vorgaben unseres Leitbilds und nun auch des Vorschaltgesetzes sind die Ergebnisse der ersten regionalisierten Bevölkerungsvorausberechnung des Landesamts für Statistik. Diese Vorausberechnungen liegen seit dem 5. April auch für die kreisangehörigen Gemeinden vor. Die Ergebnisse für die Landkreise und kreisfreien Städte wurden bereits im September 2015 veröffentlicht. Thüringen wird im Jahr 2035 voraussichtlich weniger als 1,9 Millionen Einwohner zählen. Kaum mehr als 900.000 Thüringer werden dann noch im erwerbsfähigen Alter sein. Das ist weniger als die Hälfte der Bevölkerung. Der Bevölkerungsrückgang wird der Vorausberechnung zufolge alle Landkreise und kreisfreien Städte bis auf Erfurt, Jena und Eisenach treffen. So wird Gera mit einem Bevölkerungsrückgang etwa 16 Prozent seiner Einwohner verlieren, Suhl knapp 9 Prozent und selbst die Klassikerstadt Weimar muss mit einem Bevölkerungsrückgang von 3,8 Prozent rechnen. Der Landkreis Greiz, um nur ein Beispiel zu nennen, wird bis 2035 voraussichtlich nur noch etwa 82.000 Einwohner zählen.

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU: Wenn ihr so weitermacht, gibt es das Land bald nicht mehr!)

Das ist ein Viertel weniger als noch im Jahr 2014. Nach der letzten Erhebung des Landesamts für Statistik werden über 30 Gemeinden mit einem Bevölkerungsverlust von über 40 Prozent bis zum Jahr 2035 rechnen müssen.

(Unruhe CDU)

Darunter auch Tröbnitz, sehr geehrter Herr Abgeordneter Fiedler, Herr Bürgermeister Fiedler, auch Ihre Gemeinde Tröbnitz mit minus 41 Prozent.

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU: Das wird aber nicht reichen!)

(Unruhe CDU)

Darüber hinaus – da hilft auch kein Geschrei aus der letzten Reihe –

(Beifall DIE LINKE)

werden über 240 Gemeinden mit einem Bevölkerungsverlust von 30 bis 40 Prozent rechnen müssen.

(Unruhe CDU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der demografische Wandel wird Gesamtdeutschland nachhaltig verändern und er wird auch vor Thüringen nicht Halt machen. Wer anderes behauptet, ist blind vor den Fakten, die auf der Hand liegen.

(Zwischenruf aus der Fraktion der CDU: Und dumm!)

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Menschen werden weniger und im Durchschnitt älter. Der Freistaat und seine Kommunen stehen dadurch natürlich vor großen Herausforderungen. Die umfangreichen Leistungen der Gebietskörperschaften müssen trotz sinkender Einwohnerzahl aufrechterhalten und an die Bedürfnisse der alternden Gesellschaft angepasst werden. Gleichzeitig wird es wegen des sinkenden Anteils der erwerbstätigen Bevölkerung geringere Einnahmen geben. Die finanziellen Spielräume des Landes und der Kommunen werden dadurch enger. Seit 1994 wurde die Anzahl der Gemeinden in Thüringen mit enormer staatlicher Unterstützung der Bevölkerungsrealität angepasst. Wie die vielen Thüringer Gesetze zur Neugliederung kreisangehöriger Gemeinden der vergangenen Jahre zeigen, ist eben auch in zahlreichen Gemeinden die Erkenntnis gereift, dass die besten Zukunftschancen im Zusammenschluss zu stärkeren Einheiten liegen.

(Beifall DIE LINKE)

Dabei war und ist die Bildung von Landgemeinden im ländlichen Raum auch von besonderem Interesse. Hinzu kommt die sichtbare und absehbare Entwicklung der öffentlichen Haushalte. Nach dem Auslaufen des Solidarpakts II im Jahr 2019 muss Thüringen einen Einnahmerückgang in Höhe von möglicherweise 2,5 Milliarden Euro in seinem Haushalt kompensieren. Zeitgleich ist damit zu rechnen, dass die Leistungen aus dem bundesstaatlichen Finanzausgleich um etwa 301 Millionen Euro zurückgehen.

(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Da habt ihr ja mit den 10 Milliarden den richtigen Weg eingeschlagen!)

(Minister Dr. Poppenhäger)

Außerdem ist zu erwarten, dass die Einnahmen aus den Mitteln der Europäischen Union wie bereits in der gegenwärtigen Förderperiode weiter sinken werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, alle hier in diesem Raum, auch die Abgeordneten der Opposition, kennen und spüren den Handlungsdruck seit Langem.

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU: Nein, nein!)

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der demografische Wandel wird sich auf viele gesellschaftliche und wirtschaftliche Bereiche auswirken und letztlich jeden Bürger in der einen oder anderen Form betreffen. Das Land steht außerdem in der Verantwortung, den Einsatz der zur Verfügung stehenden Finanzmittel so zu organisieren, dass die öffentlichen Ausgaben trotz sinkender Einnahmen in gleichbleibend hoher Qualität erfüllt werden können.

Die Anfälligkeit Thüringens gegenüber den Auswirkungen des demografischen Wandels und der finanziellen Entwicklung steht in Verbindung mit der bisherigen Kleinteiligkeit der kommunalen Strukturen. Thüringen hat 17 Landkreise, 6 kreisfreie Städte und 843 kreisangehörige Gemeinden. Dabei haben bereits jetzt mehr als 40 Prozent der Gemeinden weniger als 500 Einwohner und etwa 65 Prozent weniger als 1.000 Einwohner. Lassen Sie mich nur als Beispiel die Gemeinde Kleinbockedra im Landkreis Saale-Holzland nennen. Sie ist mit 35 Einwohnern – übrigens 20 Frauen und 15 Männern – nicht nur die kleinste Gemeinde Thüringens, sondern nach meiner Kenntnis auch die kleinste Gemeinde Ostdeutschlands.

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU: Die haben sogar vor Kurzem ihren Bürgermeister abge- wählt!)

Die Landkreise Thüringens haben im Durchschnitt etwas weniger als 95.000 Einwohner, während der Bundesdurchschnitt bei etwa 187.000 Einwohnern liegt und damit nahezu das Doppelte beträgt. Diese Zahlen werden sich infolge der demografischen Entwicklung größtenteils weiter verringern und in manchen Teilen Thüringens in dramatischem Ausmaß.

Nachdem in der Vergangenheit die Probleme zwar erkannt, aber nicht angegangen wurden – ich erinnere nur an das Expertengutachten und die folgende Regierungskommission der Regierung Lieberknecht –, ist diese Landesregierung angetreten, Thüringen fit für die Zukunft zu machen. Wir machen keine Reform der Reform wegen, sondern Dreh- und Angelpunkt ist für uns die Leistungsfähigkeit der Gemeinden und Landkreise, die wir für

unsere Bürgerinnen und Bürger auch in Zukunft sicherstellen wollen und sicherstellen müssen.

(Beifall DIE LINKE)

Die Thüringer Verfassung weist den Gemeinden und Landkreisen als Gebietskörperschaften mit Selbstverwaltungsrecht umfassende Aufgaben zu.

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU: Nicht nur Aufgaben, sondern auch Rechte!)

Um diese Aufgaben so zu erfüllen, dass sie den Erwartungen unserer Bürgerinnen und Bürger und auch der Wirtschaft sowie den verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht werden können, müssen die Gebietskörperschaften umfassend leistungsfähig sein. Sie müssen in der Lage sein, ihre Aufgaben sachgerecht, bürgernah, rechtssicher und auch eigenverantwortlich wahrzunehmen. Sie müssen fähig sein, eine wirksame kommunale Selbstverwaltung zu gewährleisten und ihren Bürgern eine ernsthafte Mitwirkung an den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu ermöglichen. Es liegt einfach auf der Hand, dass die Verwaltungskraft, aber auch die Investitionskraft einer 6.000-Einwohner-Stadt wesentlich höher ist als die einer 600-Seelen-Gemeinde.

Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten, auch mit Blick auf die globalisierte Gesellschaft können wir Reformen in Thüringen nicht losgelöst vom Rest der Welt betrachten. Die Reformen sind auch notwendig, um Thüringen einen festen Wettbewerbsplatz zwischen den Bundesländern und als europäische Region zu sichern. Dieses Leitbild der umfassend leistungsfähigen Gemeinden und Landkreise ist der Ausgangspunkt des Ihnen vorliegenden Gesetzentwurfs. Er findet seine Basis in der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie, die auch ein Mindestmaß an Leistungsfähigkeit voraussetzt, damit die Gemeinden und Landkreise ihre Funktionen tatsächlich auch erfüllen können.

(Zwischenruf Abg. Tasch, CDU: Das ist im Eichsfeld gegeben!)

Vor diesem Hintergrund ist die Durchführung einer flächendeckenden Gebietsreform zur Vergrößerung der kommunalen Gebietskörperschaften zwingend. Wir wollen nicht ein Größer-um-jeden-Preis, aber wir wollen kommunale Strukturen, die den Anforderungen an die Zukunft gewachsen sind. Dabei will ich auch aufgrund der Presseberichterstattung der letzten Tage insbesondere herausstellen, dass die von der Landesregierung genannten Zahlen gerade auch für den kommunalen Bereich feste Konstanten darstellen. Gemeinden und Kreise sollen diese im Regelfall erfüllen, jedoch kann in begründeten Fällen – ich stelle auch klar: in Einzelfällen – hiervon abgewichen werden.

(Minister Dr. Poppenhäger)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Vorbereitung dieses Gesetzentwurfs hat die Landesregierung mögliche Alternativen zu einer flächendeckenden Gebietsreform geprüft, insbesondere die Beibehaltung des Status quo, die Möglichkeiten der interkommunalen Zusammenarbeit, eine Beschränkung auf freiwillige Strukturänderung und die Einführung neuer Organisationsmodelle auf gemeindlicher Ebene wie auch der Verbandsgemeinde. Hierbei wurde das jeweilige Verbesserungspotenzial bewertet und mögliche nachteilige Auswirkungen auf die Gebietskörperschaften und auch die bürgerschaftliche Teilhabe gegeneinander abgewogen. Im Ergebnis stellt aus Sicht der Landesregierung eine flächendeckende Gebietsreform unter Berücksichtigung der Belange der Gebietskörperschaften, der Bürger und der Wirtschaft die sachgerechteste Lösung dar.

Die Landesregierung verfolgt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das Ziel, die Leistungsfähigkeit der Landkreise und die Leistungsfähigkeit der Gemeinden zu stärken und damit auch dauerhaft zu erhalten. Nur so kann sichergestellt werden, dass Thüringen auch langfristig die örtlichen und überörtlichen kommunalen Aufgaben auf der Basis einer wirksamen kommunalen Selbstverwaltung wahrnehmen kann. Sowohl die Größe des Hoheitsgebiets als auch die Einwohnerzahl beeinflussen die Leistungs- und Verwaltungskraft maßgeblich. Größeren Gebietskörperschaften ist es durch eine Bündelung der vorhandenen Kräfte besser möglich, ihre Ressourcen effektiv zu nutzen, aber eben auch qualifiziertes und spezialisiertes Personal, wovon wir in der Tat in Thüringen kein Überangebot haben, einzusetzen und wichtige Investitionen zu tätigen. Ein größeres Hoheitsgebiet mit einer stärkeren Einwohnerzahl verbessert ganz erheblich die kommunalen Gestaltungs- und Planungsmöglichkeiten und es ermöglicht eine wirtschaftlichere Errichtung und Unterhaltung von kommunalen Einrichtungen mit einer höheren Auslastung. Der Gesetzentwurf sieht daher für die Landkreise, kreisfreien Städte und Gemeinden Mindesteinwohnerzahlen vor, die sich auf das Jahr 2035 beziehen. Für Landkreise wird ein Größenkorridor von 130.000 bis 250.000 Einwohner vorgeschlagen. Um bürgerfreundliche Strukturen zu erhalten, soll die Maximalfläche eines Landkreises 3.000 Quadratkilometer nicht überschreiten.

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU: Alles kleine Saarländer!)

Für kreisfreie Städte, die aufgrund ihrer wesentlich höheren Einwohnerdichte ihre Aufgaben effizient erfüllen können, ist eine Mindestgröße von 100.000 Einwohnern vorgesehen und kreisangehörige Gemeinden sollen künftig mindestens 6.000 Einwohner haben. Die bisherigen Verwaltungsgemeinschaften sollen zu Einheitsoder Landgemeinden fortentwickelt werden. Einheits

und Landgemeinden bilden eine starke Struktur, in der alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft sachgerecht, bürgernah, rechtssicher und in eigener Verantwortung wahrgenommen werden können. Die Einheitlichkeit der Verantwortung für ein gemeinsames Gebiet sichert die nachhaltige Stärkung der Leistungs- und Verwaltungskraft. Die Landgemeinde verbindet dabei die Vorteile der Einheitsgemeinde mit den weitgehenden Gestaltungsspielräumen ihrer Ortschaften und damit stärken wir auch den ländlichen Raum, meine sehr verehrten Damen und Herren.