Nachdem sich eine Mehrheit des Landtags auf den Stabilitätsmechanismus zusammengerüttelt hat, der dann eine ernsthafte Regierung ins Amt brachte, hätte man ja sagen können: Ist ja noch mal gut gegangen.
Die Vereinbarung sollte in eine Auflösung des Parlaments münden, darauf hatten sich alle verständigt. Doch insbesondere in den Reihen der CDU gab es einige, die das nicht mehr wollten, weil sie bemerkten, dass die Mandate immer nur auf Zeit und nicht unbefristet sind. Plötzlich blieb es bei einer Minderheitsregierung ohne die erforderliche Grundlage einer parlamentarischen Arbeitsweise. Wenn wir ehrlich sein wollen, dann dürfen wir uns nach diesem Hergang nicht darüber wundern, dass 85 Prozent der Thüringer glauben – Zitat –: „Politiker sind sich immer [dann] einig, wenn es darum geht, ihre Privilegien zu schützen.“ Denn genau das ist das, was am Ende hängen bleibt. Und damit kann man nicht zufrieden sein, das gilt fraktionsübergreifend.
Geprägt von dieser demokratischen Enttäuschung und dem parlamentarischen Gerangel um eine Mehrheitssuche für jedes einzelne Vorhaben erlebten wir, dass Putin die Ukraine angriff. Putin startete einen Angriffskrieg gegen die Ukraine und gegen den Frieden in Europa. Seitdem ist unser gesellschaftlicher Alltag geprägt von verteidigungspolitischen Debatten. Alle Menschen in Thüringen wussten mitzureden, wenn darüber gestritten wurde, ob die Ukraine nun Taurus-Raketen bekommen soll oder nicht, genauso
wie alle zum Fußballtrainer werden – wir hatten es gerade schon bei Herrn Kemmerich –, sobald die Europameisterschaft läuft. Das ist eine Transformation ungeahnten Ausmaßes. Gerade eben waren wir noch mit Mundschutz und Kontaktbeschränkung unterwegs und plötzlich herrschte ein Krieg auf unserem Kontinent. Es ist zwischenzeitlich für uns scheinbar selbstverständlich geworden, horrende Summen für Verteidigung und Militär besser zu finden als für Sozialpolitik.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Zuge des Krieges kamen die Energiekrise, die Ölkrise, Heizungsdebatten, Notfallhilfen. Plötzlich war alles 10 Prozent teurer, außer der eigenen Arbeitsleistung. Zudem erleben wir auch immer öfter klimabedingte Naturkatastrophen. Da fragt sich nicht nur der Thüringer und die geneigte Thüringerin: Was kommt als Nächstes? Die Antwort lautete: Hamas-Terroristen werden Hunderte Menschen in Israel töten und entführen, woraufhin Israel in den Gaza-Streifen einmarschieren wird, um Krieg gegen die Hamas zu führen, was wiederum eine humanitäre Katastrophe auslöst. Die Lage im Nahen Osten ist unberechenbar und brandgefährlich. Das alles klingt nach Horror, das ist es auch.
41 Prozent der Befragten im Thüringen-Monitor wollen ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland. Im Moment steht die Vermutung im Raum, dass herausragende Persönlichkeiten der AfD deutsche Interessen so sehr wertschätzen, dass sie sie für Bargeld zum persönlichen Vorteil mit anderen Nationen teilen. Ich halte das für sehr, sehr besorgniserregend, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach all dem Gesagten erweist sich der Begriff „Polykrise“ vielleicht doch nicht so ganz als angemessen, denn was ich hier von den vergangenen fünf Jahren beschrieben habe, sind nicht viele Krisen, die nacheinander aufgetreten sind. Was wir erlebt haben, sind Krisen, die ineinandergegriffen haben, und zwar von einem Ausmaß, wie es kein Experte und auch kein Fußballtrainer allein erfassen kann. Es verwundert deshalb auch gar nicht, dass 60 Prozent der Thüringerinnen und Thüringer populistisch eingestellt sind. Einfache Antworten auf komplexe Fragen – das erscheint charmant, aber gut ist es nicht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Thüringen-Monitor zeigt auf, dass die Verbreitung rechtsextremer Einstellungen in Thüringen deutlich angestiegen ist. Der ständige Klangkörper der rechten und rechtsextremen Abgeordneten dieses Parlaments, der unserer Gesellschaft auf den Ohren liegt, hat seine Abdrücke hinterlassen, insbesondere im Hinblick auf die Einstellung bezogen auf Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen. 59 Prozent halten laut des Thüringen-Monitors die BRD für überfremdet und 50 Prozent unterstellen gar, dass Ausländer nur zu uns kämen, um unseren Sozialstaat auszunutzen.
Bei allen kriegerischen Konflikten, den Krisen und Notständen, die uns kontinental, aber auch darüber hinaus begegnen, verwundert es doch wenig, dass die Zahl der Schutzsuchenden derart angestiegen ist. Natürlich sind damit enorme Herausforderungen verbunden, aber das sind keine Optionen für oder gegen, wie wir uns entscheiden. Das sind Herausforderungen, die uns die Gegenwart stellt und mit denen wir umgehen müssen. Genauso wie mit dem Fachkräftemangel: 80 Prozent der Befragten spüren im Alltag den Fachkräftemangel und wiederum 66 Prozent sind für eine verstärkte Zuwanderung ausländischer Fachkräfte.
Im Rahmen einer Klausur unserer SPD-Landtagsfraktion haben wir im vergangenen Juni eine Industriewäscherei in Schmalkalden besucht. Unter anderem bedient diese Wäscherei alle umliegenden Kranken
häuser mit Textilien und deren Reinigung. Achtung an alle, die sensible Nasen haben: Es roch dort ziemlich übel. Auf einem Laufband liefen alle denkbaren Textilien der umliegenden Krankenhäuser vorbei: blutige OP-Kittel, vollgepullerte Bettwäsche und jede Menge Stoff mit allen denkbaren Flüssigkeiten getränkt. Weil es technisch noch nicht anders möglich ist, muss dieser Wareneingang dort händisch sortiert werden. Die jeweiligen Einwurfschächte waren deshalb auch beschriftet, jedoch nicht in deutscher Sprache. Der Geschäftsführer sagte uns: Bei uns arbeiten unterschiedlichste Nationalitäten. Dafür sind wir sehr dankbar, denn wenn unsere zu 95 Prozent aus dem Ausland stammenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht da wären, stünden die Krankenhäuser der gesamten Region still.
Es gibt darüber hinaus unzählige weitere Beispiele, die belegen, dass unser gesellschaftlicher Alltag an manchen Stellen nur zu halten ist, weil Menschen aus dem Ausland hier bei uns arbeiten, ob das im Bereich der Gastronomie, der Medizin, im Dienstleistungssektor oder eben am Fließband ist. Wir haben mehr Arbeit, als wir als Gesellschaft leisten können. Deshalb müssen wir dankbar und bestrebt sein, gastfreundlich und weltoffen andere zu uns einzuladen.
Das wollen auch mehr als zwei Drittel der Befragten des Thüringen-Monitors. Ich sage es mal so: Mit der rechten Flanke hier im Haus sind wir alles andere als gastfreundlich und weltoffen.
Aber jetzt kommt ein kleiner Sprung: Renteneintrittsalter, Zwölf-Punkte-Plan, das ist auch sehr deutlich. Herr Kemmerich, Sie haben gerade schon darüber gesprochen: 97 Prozent der Menschen in Thüringen lehnen die Erhöhung des Renteneintrittsalters klar ab. Insofern ist es schon bemerkenswert, wenn Sie jetzt mit Ihrem Zwölf-Punkte-Plan genau dort die Axt anlegen wollen. Lassen Sie doch bitte die Finger von denen, die jeden Monat darum kämpfen, einen Beitrag für unsere Gesellschaft zu leisten und die es verdient haben, in den Ruhestand zu wechseln, bevor sie körperlich völlig am Ende sind!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mehr als die Hälfte der Menschen sagt, es sei eine gute Idee, Anreize zu schaffen, um die Erwerbstätigkeit von Frauen zu erhöhen. Denen möchte ich gern antworten: Dann wählt am 1. September nicht rechts von der SPD! Zuerst braucht es den gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Damit wäre kein Anreiz, sondern Gerechtigkeit geschaffen. Und als Nächstes braucht es die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, damit wir als familienfreundlichstes Land den Menschen das zu bieten haben, was sie brauchen, um als Familie hier auch gut leben zu können. Dazu gehört ein Betreuungsschlüssel in den Kindergärten, der nicht immer dazu zwingt, den Betreuungsbedarf regelmäßig mit Rundschreiben an die Eltern prüfen zu lassen, da der aktuelle Personalnotstand nur eine Rumpfbetreuung zulässt. Dazu gehören Arbeitsbedingungen, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zulassen, eine medizinische Versorgung, die einen nicht mit Wartelisten, sondern mit Terminvorschlägen und Behandlungsoptionen konfrontiert, gute Schulen und flächendeckende Schulsozialarbeit, ein im ganzen Land verfügbarer und zuverlässiger öffentlicher Personennahverkehr, attraktiver und bezahlbarer Wohnraum, ansehnliche und gut unterhaltende kulturelle Angebote, intakte Naturlandschaften usw. Eine lange Liste, die sich ewig fortsetzen lässt. Das ist, was 97 Prozent meinen, wenn sie sagen, wir sollen die Region für Beschäftigte zum Leben und Arbeiten attraktiver machen.
Für all das braucht es jedoch zunächst eine funktionierende parlamentarische Arbeit, die auf Partnerschaften beruht, bei denen eine Grunderwerbsteuersenkung eben nicht als Familienpolitik gefeiert wird. Wer – außer
Immobilienunternehmen – wählt denn schon seinen Wohnort, seine Heimat nach dem Satz der Grunderwerbsteuer aus?
Wenn wir jedoch den Betreuungsschlüssel in den Kindergärten verbessern wollen, reden wir uns hier im Hause in Verhandlungen für Mehrheiten den Mund fusselig, nur um am Ende seitens der konservativen und rechten Mehrheit des Landtags mit einem Kopfschütteln begegnet zu werden, wenn es um konkrete Verbesserungen geht, die das Land voranbringen könnten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der aktuelle Thüringen-Monitor hat auch die Frage der Herausforderungen des Arbeitsmarkts und die damit verbundene Transformation thematisiert. Für die vorhin erwähnte
Wäscherei sind die Bestrebungen völlig klar. Das händische Sortieren der Dreckwäsche muss – sobald es möglich ist – durch Roboter erledigt werden. Das ist die Digitalisierung von Arbeitsprozessen, die Anheuerung von Platinen, Prozessoren und elektronischen Widerständen, die auf der Basis von Algorithmen das erledigen, was bisher menschliche Arbeit leistete. Diesen komplexen Maschinen muss kein Urlaub genehmigt werden, sie fragen nicht nach Weihnachtsgeld, sie werden nicht krank und sie machen auch nie Feierabend. Und genau davor haben 7 Prozent der Befragten des Thüringen-Monitors Angst. Und diese Angst sollten wir ernst nehmen und eine gut konzipierte Arbeitsmarktpolitik entgegensetzen, die die Transformation nicht passieren lässt, sondern sie moderiert und begleitet.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein noch größeres Problem habe ich eben bereits angesprochen, die Forderung nach einer gerechten Entlohnung und nach konkreten Verbesserungen der allgemeinen Arbeitsbedingungen. Klar – in unserer Gesellschaft gilt die Tarifautonomie und das ist auch gut so. Aber gute Arbeitsmarktpolitik, die Beschäftigungsverhältnisse fördert und deren Ansiedlung in der Region ermöglicht, ist ein erster Schritt. Die Frage, welche Unternehmen Fördergelder in welchem Umfang erhalten, muss an Bedingungen geknüpft sein. Was wir in den neuen Ländern unbedingt brauchen, ist eine stärkere Kultur der betrieblichen Mitbestimmung und eine höhere Tarifabdeckung.
Ein letzter Aspekt scheint mir noch herausragend wichtig. Über 50 Prozent der Befragten haben Angst, durch die Entwicklung digitaler Technologien abgehängt zu werden. Diese Erfahrung haben unzählige
Thüringerinnen und Thüringer bereits gemacht. Sie haben beispielsweise in Jena jahrelang als Dreher gearbeitet. Doch nach der Wiedervereinigung hieß ihr Beruf plötzlich Zerspanungsfacharbeiter und wurde von CNC-Fräsmaschinen erledigt, die in der BRD bereits durch fortschrittlichere Kollegen programmiert wurden. In Fachkreisen nennt man solch ein Ereignis vermutlich Innovationssprung, aber als persönliche Erfahrung ist das demütigend, frustrierend und niederziehend.
Die Angst vor einer Wiederholung dieser Erfahrung sitzt tief. Wir müssen nicht nur dafür sorgen, dass die Ängste vor technologischem Fortschritt abgebaut werden, sondern dass alles landespolitisch Mögliche dafür getan wird, die Entwicklung des Fortschritts so zu gestalten, dass jeder und jede Einzelne und die Gesellschaft als Ganzes davon profitieren können. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. Aus den Reihen der Abgeordneten liegen mir jetzt keine weiteren Wortmeldungen vor, weswegen wir am Ende dieses Tagesordnungspunkts sind. Ich gehe davon aus, dass wir jetzt nicht noch einen Tagesordnungspunkt vor der Mittagspause aufrufen, das würde wahrscheinlich auch die Zeit maßgeblich überschreiten. Das heißt also, wir treten jetzt ein in eine Mittagspause von etwa 30 Minuten bis 13.17 Uhr. Danach geht es weiter mit den Wahlen und der Fragestunde.
Wahl eines Mitglieds der Kommission nach Artikel 10 Grundgesetz (G 10-Kommission) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD - Drucksache 7/9897 -
Gewählt ist nach Vorgaben des Thüringer Gesetzes zur Ausführung des Artikel 10-Gesetzes, wer die Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Landtags erhält, mithin mindestens 46 Stimmen.
Der Wahlvorschlag der Fraktion der AfD liegt Ihnen in der Drucksache 7/9897 vor. Vorgeschlagen ist Herr Abgeordneter Uwe Thrum.
Die Vorbereitung des Wahlvorschlags in einem Gremium außerhalb des Plenums zur Ermöglichung einer zweiten Wahlwiederholung hat in der 85. Sitzung des Ältestenrates am 1. November 2022 stattgefunden. Wird hier die Aussprache gewünscht? Das sehe ich nicht.
a) Wahl eines Mitglieds des Richterwahlausschusses Wahlvorschlag der Fraktion der AfD - Drucksache 7/9898 -
Nach den Vorgaben des Thüringer Richter- und Staatsanwältegesetzes werden die dem Landtag angehörenden Mitglieder des Richterwahlausschusses mit Zweidrittelmehrheit gewählt.
Der Wahlvorschlag der Fraktion der AfD liegt Ihnen in Drucksache 7/9898 vor. Vorgeschlagen ist Herr Abgeordneter René Aust.
b) Wahl eines Vertreters für ein Mitglied des Richterwahlausschusses Wahlvorschlag der Fraktion der AfD - Drucksache 7/9899 -
Nach den Vorgaben des Thüringer Richter- und Staatsanwältegesetzes wird die Vertreterin bzw. der Vertreter eines Mitglieds des Richterwahlausschusses, dass dem Landtag angehört, mit Zweidrittelmehrheit gewählt.
Der Wahlvorschlag der Fraktion der AfD liegt Ihnen in Drucksache 7/9899 vor. Vorgeschlagen ist Herr Abgeordneter Jörg Henke.