Reinhold Bocklet

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Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass das Projekt eines europäischen Verfassungsvertrages zu wichtig ist, als dass man diese Sache hier mit kabarettreifen Einlagen behandeln sollte.
Die Einlassungen, die ich von der Opposition gehört habe, waren zum Teil schlicht unsäglich. Ich sage Ihnen auch, warum. Seriöserweise kann man über das Projekt des Verfassungsvertrages erst dann ein Urteil fällen, wenn alles auf dem Tisch liegt. Wir sind uns einig darüber, dass dies in Etappen erfolgt.
Es ist so, dass der Teil 3, in dem die Einzelermächtigungen enthalten sind, noch gar nicht verabschiedet ist, sondern dass der Gipfel diesen Teil zurückgestellt hat. Deswegen können Sie nicht von vornherein ein Urteil fällen und sagen, das ist alles großartig.
Wir haben ein Urteil gefällt über das, was auf dem Tisch liegt, und das will ich Ihnen gleich im Einzelnen deutlich machen.
Wenn Sie hier behaupten, Bayern habe sich in den letzten Jahren in der Europapolitik negativ betätigt, dann kann ich Ihnen nur Folgendes entgegenhalten: Der Vertrag von Maastricht, der die Regionen und die deutschen Länder erstmals im Europäischen Vertrag anerkannt hat, der den deutschen Ländern erstmals eine Mitwirkungsmöglichkeit auf europäischer Ebene gegeben hat, der das Subsidiaritätsprinzip eingeführt hat – das ist nicht der jetzige Verfassungsvertrag, sondern der Vertrag von Maastricht –, geht maßgeblich auf die Initiative der deutschen Länder und innerhalb dieser Länder auf Bayern zusammen mit Nordrhein-Westfalen zurück. Auch die Tatsache, dass es einen Stabilitätspakt als Pendant zum Euro gibt, geht maßgeblich darauf zurück, dass Bayern immer ein Hüter der Stabilität in Bezug auf die Währung gewesen ist. Ebenso verhält es sich mit diesem Vertrag hier.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die Staatsregierung steht nicht zurück, das, was erreicht worden ist, positiv zu würdigen. Wir würdigen, dass es weiterhin ein Ratifikationserfordernis für Vertragsänderungen gibt. Sie wissen sehr wohl, dass versucht worden ist, dieses Ratifikationserfordernis durch die nationalen Parlamente auszuhebeln. Wir sehen es als sehr positiv an, dass sich die Reichweite der EU-Zuständigkeiten nicht bestimmt nach den Zielen, die in Teil 1 geregelt sind, sondern nach den Einzelermächtigungen, die erst in den nächsten zwei Wochen endgültig festgelegt werden. Wir halten es für positiv, dass die so genannte Flexibilitätsklausel weiter dem Erfordernis der Einstimmigkeit unterliegt, wenngleich wir die notwendige zeitliche Befristung nicht erreicht haben. Wir halten es für positiv, dass die Mehrheitsentscheidung bei der Gesetzgebung nun der Regel
fall ist; denn dies bedeutet eine Stärkung der parlamentarischen Demokratie. Wir halten es auch für positiv, dass in verstärkter Weise zur Mehrheitsentscheidung übergegangen wird und die Einstimmigkeit Ausnahme bleibt. Ich habe auch positiv zu würdigen, dass die kommunale Selbstverwaltung erstmals im Vertrag anerkannt wird.
Bei aller Freude über das, was gemeinsam erreicht worden ist, sollten wir aber die Probleme, die noch bestehen und über die eine gemeinsame Auffassung der Länder in Deutschland besteht, nicht gering schätzen. Ich will Ihnen hierzu ein paar Beispiele nennen.
Sie wissen alle, dass die Kommission seit einigen Jahren, nämlich seit dem Gipfel von Lissabon, versucht, durch die so genannte offene Koordinierung bestimmte politische Gebiete an sich zu reißen, für die sie keine Kompetenz hat. Für die Beschäftigung steht die Koordinierung im Vertrag, aber sonst für keinen anderen Komplex. Das hat die Kommission aber nicht daran gehindert, in den letzten Jahren in der Sozialpolitik, in der Bildungspolitik und in der Wirtschaftspolitik das System und die Methode der offenen Koordinierung einzuführen und damit Vorgaben zu machen.
Sie müssen sich nur einmal vorstellen, dass die wirtschaftspolitischen Leitlinien der Kommission im Rahmen der offenen Koordinierung der Wirtschaft 60 Seiten umfassen. Als ich einen kompetenten EG-Politiker darauf angesprochen habe, hat der mir zur Antwort gegeben, diese Leitlinien müssen Sie doch nicht beachten, die sind doch nicht rechtsverbindlich. Ich frage mich, was das für ein politisches System ist, in dem eine Institution wirtschaftspolitische Leitlinien im Umfang von 60 Seiten produziert und in dem die politischen Adressaten dieser Arbeit sagen, das interessiert uns nicht. Darum geht es doch.
Nun geht man her und fügt in den Verfassungsvertrag eine Kompetenz der Kommission für Maßnahmen im Zusammenhang mit den Grundsätzen der Wirtschaftspolitik ein.
Außerdem führt man eine Koordinierungskompetenz in der Sozialpolitik ein. Herr Maget, ich hätte mir gewünscht, dass Sie Ihre eigene Bundesregierung in diesem Punkt ein bisschen besser unterstützt hätten. Als sich die Kommission vor einem Jahr in einem Bericht anheischig gemacht hat, im Rahmen der an sich gerissenen Koordinierung auf dem Gebiet der sozialen Sicherungssysteme Urteile über die deutsche Situation zu fällen,
war man in der Bundesregierung völlig zu Recht sehr erbost darüber, dass sich die Kommission dies anmaßt.
Jetzt sind wir an dem entscheidenden Punkt; denn jetzt schreiben wir in den Verfassungsvertrag sogar noch das Recht der Kommission hinein, die Sozialpolitik zu koordinieren. Das steht bisher nicht drin. Das sind die Punkte,
die wir kritisieren. Das ist im Grunde ein Blankoscheck für die Kommission, eine generelle wirtschaftspolitische Ausrichtung der Europäischen Union vorzunehmen, und zwar nicht nur in der Wirtschaftspolitik, sondern auch in der Arbeitsmarkt-, in der Steuer- und in der Sozialpolitik. Sie wissen selbst, dass „Wirtschaftspolitik“ ein umfassender Begriff ist.
Der zweite Punkt ist die Einwanderung. Wir haben in Brüssel im Ministerrat erstritten – und Herr Schily hält sich daran –, dass die Zuwanderung eine einstimmig zu verabschiedende Sache bleiben soll. Was ist jetzt? – Schauen Sie sich doch den Vertragsentwurf an; da ist der gesamte Einwanderungskomplex gemeinsame Politik, die der Mehrheitsentscheidung im Rat unterliegt.
Jetzt wäre es an Ihnen, uns, die Staatsregierung, im Bundesrat zu unterstützen, damit wir erreichen, dass es wieder zum Erfordernis der Einstimmigkeit bei der Einwanderungspolitik kommt.
Deshalb dürfen Sie die Staatsregierung nicht auf die Anklagebank setzen, wenn wir auf die Fehler, die in dem Entwurf vorhanden sind, aufmerksam machen.
Ein weiterer Punkt ist der Eigenmittelbeschluss. Bisher ist es so, dass die Höhe und die einzelnen Teile der Eigenmittel einstimmig beschlossen werden müssen. Jetzt geht es nur noch darum, dass die Höhe der Eigenmittel, also der Gesamtumfang, einstimmig beschlossen wird; die einzelnen Teile sollen in der Zukunft mit Mehrheit verabschiedet werden können. Das heißt, das Verhältnis von bruttosozialproduktbezogenem Beitrag und von Mehrwertsteueranteil an der Finanzierung der EG kann in Zukunft mit der Mehrheit der Stimmen gegen den größten Nettozahler, also gegen Deutschland, beschlossen werden. Da wir aber im Moment noch durch die Mehrwertsteuer insofern benachteiligt sind, als dem Mehrwertsteueraufkommen innerdeutsch in den neuen Ländern nicht eine entsprechende Wirtschaftsleistung gegenübersteht, haben wir einen Nachteil davon, wenn man den Mehrwertsteueranteil als Finanzierungsquelle erhöht. Aus diesem Grund sind wir dafür, dass es bei der Einstimmigkeit nicht nur beim Gesamtbetrag, sondern auch bei den einzelnen Finanzierungssäulen bleibt.
Ich komme zu einem weiteren Punkt, nämlich dem Klagerecht der Regionen mit Gesetzgebungskompetenz.
Das haben wir in diesem Entwurf nicht bekommen. Ich finde, gerade ein Landesparlament und die Opposition eines Landesparlaments müssten, darauf hinzuweisen, dass dies nicht erreicht wurde. Man ist noch lange kein Anti-Europäer, wenn man die Mängel in diesem Vertrag deutlich anspricht. Es geht nur darum, dass man jetzt in einer Phase, in der man noch etwas gestalten und beeinflussen kann, die Punkte nach vorne stellt, die noch
geändert werden müssen, und sagt, auf diesem Gebiet muss noch etwas getan werden.
Außerdem müssen wir die Regierungskonferenz abwarten; denn wir wissen das Ergebnis der Regierungskonferenz überhaupt noch nicht.
Herr Maget, auch dies ist sehr wohl möglich.
Schließlich muss man noch eines sehen: Es kann notwendig sein, dass man am Ende die Zustimmung der deutschen Länder zu diesem Vertrag davon abhängig macht, ob die Bundesregierung bereit ist, im innerdeutschen Verhältnis, also im Bund-Länder-Verhältnis, entsprechende Korrekturen vorzunehmen. Ich sage das deshalb sehr genau, weil am Mittwoch der letzten Woche der Bundesaußenminister im Europaausschuss des Bundesrates eine Änderung des Artikels 23 des Grundgesetzes und der Bund-Länder-Vereinbarung kategorisch ablehnte, während der Bundeskanzler zwei Tage vorher meinte, darüber könne man reden. Solche Dinge müssen vorher geklärt sein. Man kann von uns nicht verlangen, dass wir die Augen schließen und in dieser Frage einen Blankoscheck erteilen, weil alle darüber so begeistert sind, dass da überhaupt einmal ein Dokument auf dem Tisch liegt, ohne dass die darin enthaltenen Mängel angesprochen werden. Dabei besteht noch die Chance, etwas Vernünftiges zu erreichen. In diesem Sinne sind die Haltung und die Einlassungen der Bayerischen Staatsregierung sowohl auf der Europaministerkonferenz als auch im Bundesrat zu verstehen.
Ich kann Sie beruhigen: Zwischen Teufel, Merkel und Stoiber besteht in der Beurteilung dieses vorliegenden Dokuments Einmütigkeit. Deswegen haben wir am letzten Freitag eine völlig gemeinsame Position niedergelegt. Darin stehen alle gemeinsamen Forderungen für die nächsten Wochen und Monate, die ich hier vorgetragen habe. Deshalb ist das, was Sie uns hier vorwerfen, schlicht und einfach Theater. Der Grund dafür, warum Sie das machen, ist relativ durchsichtig. Positive Argumente haben Sie nicht, weil Sie hier die Staatsregierung nur angreifen und nichts dazu tun wollen, uns zu helfen und in den Punkten des Verfassungsvertrags, wo es notwendig ist, gemeinsam etwas zu erreichen.
Frau Präsidentin, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist hier davon die Rede gewesen, dass es eine Großtat von Herrn Eichel sei, dass er nicht mehr gegen einen blauen Brief aus Brüssel vorgehe.
Nachdem Herr Schröder und Herr Eichel im Frühjahr dieses Jahres alles getan haben, um einen blauen Brief aus Brüssel zu unterdrücken, kann ich nur sagen, dass sie damit einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet haben, den Stabilitätspakt in den Augen der Menschen in Europa zu ruinieren.
Es ist eine grenzenlose Scheinheiligkeit, wenn man jetzt daran geht und ein Verhalten, wie es der Stabilitätspakt erfordert, noch als Heldentat hinstellt.
Das Zweite: Glaubwürdigkeit und Stabilitätspakt! Herr Kollege Müller, obwohl die Bundesregierung verpflichtet gewesen wäre, bereits Anfang September die notwendigen Zahlen nach Brüssel zu liefern, damit die Kommission zu einer sachgerechten Bewertung der Situation in Deutschland hätte kommen können, hat sie dies bewusst nicht getan und damit den Wähler über die wahre Situation in Deutschland getäuscht.
Herr Eichel hat vier Wochen vor der Bundestagswahl im „Stern“ Folgendes formuliert – ich zitiere –: „Wir kriegen das hin. Da bleibt bestimmt ein Puffer von einigen Milliarden.“
Nur wenige Tage vor der Bundestagswahl hat er im Bundestag erklärt:: „Wir stehen fest zum europäischen Stabilitätspakt. Die Regierung setzt auf eine solide Finanzierung unter Verzicht auf neue Schulden.“
Wer hat jetzt das deutsche Volk angelogen – wir oder Sie?
Drittens sage ich Ihnen: Ich war bei dem Gespräch von Ministerpräsident Dr. Stoiber mit Chirac dabei.
Ich kann ihnen dazu sagen, es ging darum, dass verhindert werden musste, dass der Herr Schröder die Osterweiterung auf dem Rücken der deutschen Bauern austrägt und finanziert.
Deswegen hat der bayerische Ministerpräsident völlig zu Recht darauf bestanden, dass die Agenda 2000, die unter Herrn Schröder 1999 festgelegt worden ist,
bis 2006 mit den Direktzahlungen in vollem Umfang aufrechterhalten wird.
Damit sind die Behauptungen, die Sie hier aufgestellt haben, eindeutig widerlegt.
Frau Zweite Vizepräsidentin Riess: Vielen Dank, Herr Staatsminister. Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Die Aussprache ist geschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung, die in namentlicher Form erfolgen soll.
Die entsprechend gekennzeichneten Urnen sind bereits aufgestellt worden. – Die Ja-Urne steht auf der Seite der CSU-Fraktion, die Nein-Urne auf der Oppositionsseite und die Urne für die Enthaltungen steht auf dem Stenografentisch.
Mit der Abstimmung kann begonnen werden. Hierfür stehen 5 Minuten zur Verfügung.
Frau Zweite Vizepräsidentin Riess: Liebe Kollegen, die Abstimmung ist abgeschlossen. Das Ergebnis wird außerhalb des Plenarsaals ausgezählt und von mir später bekannt gegeben.
Die restlichen Dringlichkeitsanträge werden in die Ausschüsse verwiesen.
Ich rufe nun auf, wie zwischen den Fraktionen vereinbart:
Tagesordnungspunkt 20
Antrag der Abgeordneten Riess, Dinglreiter, Dr. Bernhard und anderer (CSU)
BAB-Südring München (Drucksache 14/9746)
Hierzu hat die SPD-Fraktion um das Wort zur Geschäftsordnung gebeten. Ich erteile deshalb Frau Kollegin Radermacher das Wort.
Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Nacht zum Montag schlossen die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten in Nizza ihre Verhandlungen zur Regierungskonferenz ab. Im Rampenlicht steht natürlich die Vereinbarung zur institutionellen Reform der Europäischen Union. Darüber hinaus hat sich der Europäische Rat aber auch mit einer Reihe weiterer Themen beschäftigt, auf die ich ebenfalls kurz eingehen werde und auf die leider Gottes meine Vorredner nicht eingegangen sind.
Im Mittelpunkt der Regierungskonferenz standen die Probleme, die der Gipfel von Amsterdam nicht zu lösen vermocht hatte. Was die künftige Größe der Europäischen Kommission betrifft, hat die Regierungskonferenz Folgendes beschlossen: Bis zum Jahre 2005 bleibt der Status quo unverändert. Große Mitgliedstaaten stellen zwei Kommissare, Länder, welche vor dem Jahr 2005 beitreten, erhalten einen Kommissar; ab dem Jahr 2005 verzichten die großen Mitgliedstaaten auf ihren zweiten Kommissar; jeder Mitgliedstaat, auch jeder neue, erhält einen Kommissar, bis eine Kommissionsgröße von 27 Mitgliedern erreicht wird. Anschließend soll der Rat einstimmig die Höhe und die Modalitäten einer paritätischen
Rotation, wie es wörtlich heißt, bestimmen. Abgesehen vom Verzicht der großen Mitgliedstaaten auf einen zweiten Kommissar ist dies nur vordergründig eine Lösung, da nicht abzusehen ist, ob und wie der spätere – einstimmige – Beschluss des Rates zustande kommt. Damit wurde die Reform der Kommission in diesem Punkt vertagt.
Positiv muss allerdings gewertet werden, dass der Kommissionspräsident nun eine politische Richtlinienkompetenz erhält. Im Vertrag wird ausdrücklich sein Recht beschrieben, den Kommissaren Zuständigkeiten zuzuweisen und diese nachträglich zu ändern. Nach Billigung durch das Kommissionskollegium soll er auch das Recht erhalten, einzelne Kommissare zu entlassen.
Hinsichtlich der Stimmenwägung im Rat wurde im Ergebnis eine dreifache qualifizierte Mehrheit beschlossen. Voraussetzung für einen Beschluss des Ministerrates sind danach erstens die Erreichung einer qualifizierten Mehrheit von 74% der gewogenen Stimmen, wobei die Skala der Stimmgewichte von der bisherigen Bandbreite 2 bis 10 auf 3 bis 29 für die großen Mitgliedstaaten erweitert wurde. Die größeren Mitgliedstaaten werden damit gegenüber den kleineren etwas besser gestellt. Zwischen den großen Mitgliedstaaten wird nicht differenziert.
Frankreich hat sich mit seiner Forderung, dass Deutschland nicht mehr Stimmen als die übrigen großen Mitgliedstaaten haben dürfe, durchgesetzt. Außerdem muss eine Mehrheit der Mitgliedstaaten bei einem Beschluss des Rates zustimmen. Schließlich kann auf Antrag eines Mitgliedstaates die Feststellung verlangt werden, ob der Beschlussvorschlag von einer Bevölkerungsmehrheit von 62% getragen wird. Damit wird erstmals eine Möglichkeit zur Berücksichtigung der Bevölkerungszahl bei der Abstimmung im Rat geschaffen, was den Schönheitsfehler bei der Stimmgewichtung gegenüber den anderen großen Mitgliedstaaten mehr als aufwiegt.
Aus der Sicht der Staatsregierung ist dies ein positives Element des Gipfelbeschlusses. Zusammen mit zwei weiteren großen Mitgliedstaaten hat Deutschland damit eine Sperrminorität. Allerdings: Die Beschlussfassung nach drei verschiedenen Mehrheiten dürfte zu einer Komplizierung des Entscheidungsprozesses beitragen.
Bei der Reform des Europäischen Parlaments wurde die derzeitige Degression verändert. Deutschland behält danach 99 Sitze. Die Sitze der Abgeordneten der anderen großen Mitgliedstaaten verringern sich von derzeit 87 auf 74. Die Gesamtzahl der Abgeordneten nach dem Beitritt der zwölf Kandidatenländer wurde auf 732 festgelegt. Im Hinblick auf eine stärkere Proportionalität war dies ein Schritt in die richtige Richtung. Die von uns stets geforderte Wahlgleichheit nach dem Grundsatz „one man – one vote“ ist jedoch bei weitem noch nicht erreicht. Dies zeigt sich vor allem im Verhältnis der großen zu den kleineren Mitgliedstaaten.
Konsequenterweise hat das Europäische Parlament in Nizza auch nicht wesentlich mehr Rechte erhalten, eben weil die demokratische Legitimation noch nicht in der
Weise hergestellt ist, dass die volle Proportionalität – bis auf ein paar Grundmandate für jeden Mitgliedstaat – sichergestellt wurde. Zur Frage des Übergangs in die Mehrheitsentscheidung beschränke ich mich auf einige besonders wichtige Politikbereiche, zumal der genaue Vertragstext noch nicht vorliegt. Bei den Strukturfonds soll der Übergang in die Mehrheitsentscheidung erst ab dem Jahr 2007 erfolgen. Da zu diesem Zeitpunkt die neue finanzielle Vorausschau, die ab dem Jahr 2007 gilt, und die darauf aufbauende neue Strukturfondsverordnung bereits beschlossen sind, greift die Mehrheitentscheidung faktisch erst ab dem Jahr 2014. Das Kohäsionsland Spanien hat sich dabei wieder einmal durchgesetzt.
Für den Bereich „Asyl und Einwanderung“ hat die Bundesregierung dem Übergang zur Mehrheitsentscheidung unter der Bedingung zugestimmt, dass bis zum Jahr 2004 in der Europäischen Union einheitliche Regeln hierfür geschaffen werden. Die Bundesregierung hofft offenbar, bis zu diesem Zeitpunkt für Deutschland akzeptable Regelungen erreichen zu können. Nach unserer Auffassung bedeutet das, dass dabei die immer noch unzureichende Lastenverteilung geregelt werden muss. Angesichts der einwanderungsfreundlichen Politik der Europäischen Kommission sehe ich die Gefahr, dass der deutsche Asylkompromiss unterlaufen wird und mittelfristig die Asylbewerberzahlern in Deutschland wieder ansteigen werden.
In der Steuer- und weitgehend auch in der Sozialpolitik wurde die Einstimmigkeit beibehalten. Bei den Steuern können die EU-Mitgliedstaaten frühestens fünf Jahre nach In-Kraft-Treten des Vertrags von Nizza einstimmig beschließen, bei einigen Punkten der indirekten Besteuerung und der Unternehmensbesteuerung zur qualifizierten Mehrheit überzugehen. Regelungen zur Umsatzsteuer, zu Verbrauchsabgaben und zu direkten Steuern verbleiben jedoch in der Einstimmigkeit. Gerade für die Steuerpolitik ist das Verhandlungsergebnis grundsätzlich zu begrüßen. Eine einheitliche Politikgestaltung auf diesen Feldern würde letztlich zu höheren Steuern führen und den notwendigen Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten untergraben. Einheitliche Regelungen im Steuerrecht sind nach unserer Überzeugung nur dort sinnvoll, wo Mißbrauch verhindert werden muss.
Die Ergebnisse in diesen wichtigen Politikfeldern erscheinen nur für den mager, für den Mehrheitsabstimmungen und Zentralisierungen in Brüssel Werte an sich sind. Die Staatsregierung ist aber der Auffassung, dass die Steuer- und die Sozialpolitik weitgehend in der Hand der Mitgliedstaaten bleiben müssen. Insofern begrüßen wir dieses Ergebnis der Konferenz von Nizza. Wir können die negative Bewertung derjenigen nicht teilen, die möglichst viele Punkte auf europäischer Ebene in die Mehrheitsabstimmung geben wollen. Aus diesem Grunde empfehle ich Ihnen, den Antrag der GRÜNEN abzulehnen, da darin genau das Gegenteil gefordert wird. In diesem Antrag heißt es: „In zu vielen Themenbereichen bleibt das Vetorecht erhalten.“ Diese Aussage ist völlig undifferenziert. Ich bin gefragt worden, welche bayerischen Interessen betroffen waren. Für Bayern stelle ich nochmals fest: Wir können auf keinen Fall der Überführung der direkten Besteuerung und der sozialen
Sicherungssysteme in die Mehrheitsentscheidung auf europäischer Ebene zustimmen.
Außerdem ist für Bayern wichtig, dass es hinsichtlich der Kulturpolitik und der Regelung der Berufsordnung bei der Einstimmigkeit bleibt. Das bedeutet zum Beispiel, dass die deutsche Handwerksordnung nicht von Brüssel ausgehebelt werden darf. Die Bundesregierung hat unter anderem vorgeschlagen, den Artikel 47 Absatz 2 EGV, der die Grundsätze der Berufsordnung regelt, in die Mehrheitsabstimmung zu geben. Gleichzeitig hat der Bundeswirtschaftsminister dem deutschen Handwerk versprochen, dass bei der Handwerksordnung nichts geschehen werde. Erst als wir dies in der Öffentlichkeit thematisiert und gefordert haben, dass die Bundesregierung endlich einmal sagen solle, ob sie die Handwerksordnung erhalten oder sie über die Mehrheitsabstimmung zur Disposition stellen wolle, hat die Bundesregierung eine Korrektur ihres Kurses vorgenommen und angeregt, dass die Handwerksordnung der Einstimmigkeit unterliegen solle.
Das aus der Sicht der Staatsregierung erfreulichste Ergebnis der Verhandlungen ist die Vereinbarung des so genannten Post-Nizza-Prozesses zur genauen Abgrenzung der Aufgaben zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten. Hierzu soll im Jahr 2004 eine weitere Regierungskonferenz stattfinden. Dies ist eine eindeutige Bestätigung der Politik der Staatsregierung und der Mehrheit dieses Hauses. Wir haben diese Kompetenzabgrenzung im Interesse der Transparenz, im Interesse einer demokratischen Zuordnung der Verantwortlichkeiten und im Interesse einer erfolgreichen Osterweiterung seit Jahren gefordert. Bis vor kurzem sind wir dafür von der Bundesregierung, von Herrn Schröder und Herrn Fischer öffentlich als Politiker geziehen worden, die politische Utopien verbreiteten. Die Bundesregierung hat behauptet, die Umsetzung dieser Forderungen sei nicht möglich. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, diese Veränderungen waren möglich, weil wir dafür gekämpft und die deutschen Länder dafür gewonnen haben.
Wir konnten schließlich auch die Bundesregierung von der Notwendigkeit unserer Forderungen überzeugen. Die Bundesregierung hat sich jedoch erst überzeugen lassen, als die Bundesländer geschlossen mit der Ablehnung des Vertrags von Nizza im Bundesrat gedroht haben. Erst nach dieser Drohung hat bei der Bundesregierung ein Umdenken stattgefunden.
Frau Kollegin Gote, ich möchte Ihnen noch etwas sagen: Sie haben erklärt, das Subsidiaritätsprinzip solle politisch umgesetzt werden. Sie haben sich zwar mit Europa beschäftigt, aber eines scheint Ihnen entgangen zu sein: Als das Subsidiaritätsprinzip in den Vertrag von Maastricht hineingeschrieben wurde, hat sich nur wenig bewegt.
Erst durch die Kompetenzabgrenzung wird sozusagen das Subsidiaritätsprinzip rechtlich konkretisiert, weil erst
dann Rechtssicherheit im Hinblick auf die Auslegung besteht. Deswegen müssen wir auf der Kompetenzabgrenzung bestehen.
Das zweite ist: Wir spielen die Kompetenzabgrenzung nicht gegen die Osterweiterung aus. Bei der Größe von 25 bis 30 Mitgliedstaaten ist es eigentlich für jedermann einsichtig, dass sich die Europäische Union auf wenige wichtige Dinge konzentrieren muss, die nur auf europäischer Ebene gelöst werden können. Deswegen brauchen wir in den Verträgen die klare Definition der europäischen Aufgaben. Lassen Sie sich eines gesagt sein: Außenminister Fischer hat erst vor acht Wochen auf einem Colloquium in Berlin öffentlich erklärt, dass er die Forderungen nach Kompetenzabgrenzung oder nach Verfassungsvertrag von der Union und der CSU übernommen habe. Wenn schon Herr Fischer dies zugibt, können Sie es, Frau Gote, allemal zugeben.
Sie sollten nicht Polemik üben, wo Polemik nicht angebracht ist.
Lassen Sie mich ein differenziertes zweifaches Fazit ziehen: Erstens. Die Ergebnisse der Regierungskonferenz legen ein nüchternes Zeugnis über die Grenzen der Reformfähigkeit der Europäischen Union und zwar schon mit 15 Mitgliedstaaten ab. Die Einigung war nur auf einem kleinen gemeinsamen Nenner möglich. Sie gibt einen Vorgeschmack auf die gewaltigen Verteilungskonflikte, die im Zusammenhang mit der Osterweiterung noch bewältigt werden müssen. Sie zeigen aber auch, dass die Konferenz von Anfang an mit der Beschränkung auf die drei Leftovers thematisch falsch angelegt war. Das ist die Antwort auf den Beitrag des Kollegen Dr. Köhler. Es war die entscheidende Frage ausgeklammert, welche Aufgaben ein enorm erweitertes und wesentlich heterogeneres Europa künftig gemeinsam erledigen muss und kann. Man kann kein vernünftiges Ergebnis zu den Prozeduren, sprich zu den Mehrheitsentscheidungen, erwarten, wenn man die Diskussion über die gemeinsamen politischen Ziele, sprich die Aufgaben, ausklammert. Wir haben angemahnt, dass die Logik von Nizza erfordert hätte, dass man vorher die Kompetenzabgrenzung klärt, bevor man über die Frage redet, ob man von der Einstimmigkeit zur Mehrheitsabstimmung übergeht. Nun gilt es bis zum Jahre 2004 dieses Manko auszugleichen.
Zweitens. Eigentlicher Anspruch von Nizza war, die Europäische Union auf die Osterweiterung vorzubereiten. Hier hat es einen Schritt nach vorne gegeben. Das Ziel ist aber entgegen den allgemeinen Beteuerungen noch längst nicht erreicht. Mit der mühsamen Reform der EU-Institutionen wurde lediglich eine erste Etappe zurückgelegt. Es fehlen aber noch zwei ganz wesentliche Schritte für eine erfolgreiche Osterweiterung. Zum einen gilt es, die Aufgaben der Europäischen Union zu konzentrieren, zu reformieren und klar abzugrenzen.
Ich möchte noch einmal unterstreichen, was ich vorhin erwähnt habe: Die Europäische Union mit 27 oder mehr Mitgliedern wird viel größere Unterschiede aufweisen als die heutige Union. Deshalb muss sich die Europäische Union auf das unbedingt auf europäischer Ebene zu Erledigende konzentrieren. Der Post-Nizza-Prozess, das heißt die Vorbereitung der neuen Regierungskonferenz für die Kompetenzabgrenzung, darf nicht auf die lange Bank geschoben, sondern muss umgehend in Gang gesetzt werden.
Das jetzt Folgende kompliziert die Sache sehr: Noch völlig ungelöst ist die realistische und gerechte Finanzierung der Osterweiterung. Die Agenda 2000 des Europäischen Rates von Berlin im letzten Jahr hat die Finanzierung der Osterweiterung nicht vorbereitet. Unsere damaligen Warnungen bestätigen sich immer mehr. Ohne grundlegende Reform der Agrar- und Strukturpolitik, die 80% des EU-Haushaltes verschlingen, steht die Erweiterung auf tönernen Füßen. Die Beitrittskandidaten werden kaum auf Direkthilfen für die Landwirtschaft verzichten, wie dies die Agenda 2000 unterstellt. Die unveränderte Fortführung der Strukturpolitik würde bei 27 Mitgliedern die Verdoppelung der Mittel bedeuten, wie das die Kommission erst kürzlich selbst festgestellt hat. Wer soll das bezahlen? Soll Deutschland als ohnehin größter Nettozahler seine Beiträge verdoppeln? Hier brauchen wir noch vor der Erweiterung Klarheit.
Die eigentlichen Verteilungskämpfe stehen uns also erst noch bevor. Daher gilt umso mehr: Die Reform der Aufgaben ist die entscheidende Voraussetzung für das Gelingen der Erweiterung. Es gibt noch viel zu tun. Ich sage Ihnen eines: Dies ist die europapolitische Bewährungsprobe der Bundesregierung. Die Bundesregierung muss alles tun, um durch eine gerechte Neuordnung sicherzustellen, dass der Erweiterungsprozess nicht verzögert wird. Was die Bundesregierung heute in der Rhetorik macht – in der Realität hat sie noch gar nichts getan – ist, den Kandidatenländern Daten zu nennen, wie zum Beispiel auf dem Gipfel in Nizza das Jahr 2004, und damit den Eindruck zu erwecken, man müsse sich nicht vorher reformieren, um die Osterweiterung bewältigen zu können.
Nach diesem Ausblick auf die Ergebnisse der Regierungskonferenz möchte ich in Kürze die übrigen Ergebnisse des Europäischen Rates in Nizza zusammenfassen.
Mit der Proklamation der Grundrechtecharta hat sich die Europäische Union eine politische Leitlinie gegeben. Wenn auch rechtlich nicht verbindlich, wird die Charta für den Europäischen Gerichtshof Rechtsprechungsgrundlage sein. Dies ist nicht unproblematisch, weil die niedergelegten Grundrechte zum Teil weit über die Zuständigkeit der EU hinausgehen. Auch aus diesem Grund ist die Aufgabenabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten dringlich.
Im Zusammenhang mit der Osterweiterung hat sich der Europäische Rat von Nizza zwar erneut zum „Grundsatz der Differenzierung“, das heißt des individuellen Fortgangs der Verhandlungen für jeden Beitrittskandidaten bekannt. Mit der indirekten Nennung eines Zieldatums
für die ersten Beitritte für das Jahr 2004, hat man gesagt, man hoffe, dass die ersten Kandidaten bereits an der nächsten Direktwahl 2004 teilnehmen könnten. Das brachte einen völlig falschen Zungenschlag in die Vorbereitung der Erweiterung. Jahreszahlen versprechen etwas, was nicht vom Zeitablauf, sondern von den tatsächlichen Fortschritten abhängen muss.
Positiv zu vermerken ist, dass der Europäische Rat die Kommission ersucht hat – das ist für Sie interessant, Herr Köhler –, für die Grenzregionen ein Programm zur Festigung ihrer wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit vorzuschlagen. Etwas, was vorher von der Bundesregierung immer abgelehnt worden ist, ist jetzt vom Gipfel beschlossen worden als Auftrag an die Kommission. Die Staatsregierung hat dies seit langem gefordert. Wir sehen der Ausarbeitung dieses Programms mit größtem Interesse entgegen. Vorschläge dafür haben wir schon mehrfach vorgelegt.
Drittens. Hinweisen möchte ich auch auf die Annahme der EU-Sozialagenda sowie auf die Billigung der beschäftigungspolitischen Leitlinien für 2001. Beide Prozesse werden auf die Methode der so genannten „Offenen Koordinierung“ gestützt. Letztlich wird damit der „Aufbau eines aktiven Wohlfahrtsstaates“ gefordert, wie das eine Presseagentur kürzlich kommentiert hat. Die Staatsregierung sieht diese Entwicklung mit äußerster Sorge. Hier gibt ein europäisches Organ, nämlich der Europäische Rat, Zielvorgaben in Bereichen nationaler Zuständigkeiten. Damit findet ein politisches Ringen um das „Ob“ und das „Warum“ in den demokratisch legitimierten und verantwortlichen nationalen und regionalen Parlamenten überhaupt nicht mehr statt!
Man hat eine Vorgabe des – unzuständigen – EU-Organs und ist nur noch Umsetzungsinstrument für europäische Beschlüsse. Das ist ein weiterer Grund, um mit einer deutlichen Aufgabenabgrenzung so rasch wie möglich für klare Verhältnisse zu sorgen!
Ich möchte Ihnen zur Illustrierung dieser Ausführung folgendes sagen: Vor kurzem hat der Generaldirektor der Generaldirektion Kultur der Kommission, Herr van der Pas, auf den Einwand, er habe bei Schul- und Ausbildungsfragen auf europäischer Ebene eigentlich keine Kompetenz, in schöner Offenheit erklärt: „Wo wir laut Vertrag keine Kompetenz haben, aber die Notwendigkeit zum Handeln sehen, wenden wir die Methode der ‚Offenen Koordinierung‚ an.“ Das bedeutet, dass der Europäische Rat einen Auftrag gibt und dieser Auftrag von allen Ebenen bis hinunter zu den Ländern durchzuführen ist. Es wird sogar noch die Einhaltung dieses Beschlusses kontrolliert, wie es im Protokoll des Gipfels von Lissabon heißt.
Mein Fazit ist: Die Bekenntnisse der Regierungskonferenz zur Notwendigkeit einer Abgrenzung der EU-Kompetenzen finden im tatsächlichen Handeln der Europäischen Union, jedenfalls gemessen an dem, was in Nizza beschlossen worden ist, noch keinen Niederschlag. Die Fehlentwicklung der Europäischen Union in Richtung auf mehr EU-Vorgaben in den einzelnen Politikbereichen geht ungeachtet der Gipfelbeschlüsse und des Beschlusses der Einberufung einer neuen Regierungskonferenz zum Zweck der Sicherstellung der Kompetenzabgrenzung
ungebremst weiter. Deshalb müssen jetzt endlich auf europäischer Ebene den Worten Taten folgen, und zwar in die richtige Richtung. Unsere Aufgabe besteht darin, gemeinsam dafür zu sorgen, dass die ausufernde Tätigkeit auf europäischer Ebene in den nächsten Jahren so eingeschränkt wird, dass dann auch die Osterweiterung für alle Beteiligten ein Erfolg werden kann.
Frau Zweite Vizepräsidentin Riess: Die Aussprache ist geschlossen. Wir kommen zur Abstimmung. Durch den Bericht des Staatsministers ist der CSU-Dringlichkeitsantrag 14/5318 erledigt.
Ich lasse dann über den Dringlichkeitsantrag 14/5330 des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN abstimmen. Wer diesem Antrag seine Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. – Das ist die Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und Herr Abgeordneter Hartenstein. Gegenstimmen? – Das sind die Fraktion der CSU und zwei Stimmen aus den Reihen der SPD. Enthaltungen? – Das ist die Fraktion der SPD. Damit ist der Dringlichkeitsantrag abgelehnt.
Ich rufe auf:
Dringlichkeitsantrag der Abgeordneten Maget, Strasser, Dr. Kaiser und anderer und Fraktion (SPD)
Planungsfehler und Kostenüberschreitungen bei der ICE-Neubaustrecke Ingolstadt – Nürnberg (Drucksa- che 14/5319)
Ich bitte um Wortmeldungen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Kollege Schläger.
Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass heute eine solche Debatte stattfindet. Dies ist ein Beitrag zur Herstellung von Öffentlichkeit zum Thema Europa. Ich finde es gut, dass hier der Grundkonsens zu Europa beschworen worden ist.
Ich verstehe aber nicht, dass diejenigen kritisiert werden, die auf der Grundlage dieses Grundkonsenses über Europa kritische Bemerkungen zu dem machen, wie Europa dem Bürger gegenüber in Erscheinung tritt. Ist es eigentlich antieuropäisch, wenn man feststellt, dass die Europäische Union in Bosnien und im Kosovo versagt hat und deswegen eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik notwendig ist? Ist es antieuropäisch, wenn man darauf hinweist, dass in Brüssel viel Überflüssiges getan wird, dass die „Methode Monnet“, mit der wir den Binnenmarkt und die Währungsunion erreicht haben, jetzt nicht mehr ausreicht und keine Antwort darauf gibt, wie dieses Europa politisch gestaltet werden soll? Wer dafür eintritt, dass diese Schicksalsgemeinschaft der Europäischen Union in der Zukunft Erfolg hat, muss auch die Kraft haben, die Mängel anzusprechen, die heute dieses europäische Projekt kennzeichnen. Nur dann haben wir die Chance, es besser zu machen.
Ich bin etwas erstaunt darüber, dass man leicht ironisch über den Begriff des Europa der Nationen und Regionen hinweggeht. Was wir damit meinen, ist ganz klar: Diese Europäische Union muss auch in der Zukunft auf den Nationen aufbauen, und sie muss gerade aus der Sicht der deutschen Länder den Regionen den nötigen Freiraum lassen. Ich hätte mir gewünscht, dass gerade im Bayerischen Landtag von Ihnen, Herr Dr. Köhler, dieser Aspekt nicht ironisch behandelt worden wäre, sondern als ein gemeinsames Anliegen, die Staatlichkeit der Länder nicht durch eine immer größere Zentralisierung durch Brüssel weiter aushöhlen zu lassen. Darum geht es bei dem Thema „Bayerns Zukunft in Europa“.
Ich will Ihnen klar sagen: Unsere Europapolitik hat erstens das Ziel, in einer Europäischen Union mit 20 bis 30 Mitgliedstaaten nur noch das in Europa machen zu lassen, was wirklich nur auf europäischer Ebene gemacht werden kann. Alles andere muss in die Mitgliedstaaten zurückverlagert werden. Zweitens brauchen wir handlungsfähige Organe auf europäischer Ebene, und drittens – das ist das Entscheidende – muss es weiterhin in der Kompetenz der Mitgliedstaaten bleiben, darüber zu entscheiden, was auf europäischer Ebene gemacht wird. Das darf nicht auf die europäische Ebene verlagert werden.
Sie kennen den Begriff der Kompetenz-Kompetenz. Wenn wir uns über die Inhalte im Klaren sind, ist es müßig, darüber zu diskutieren, ob man nun von einer europäischen Föderation oder von etwas anderem spricht. Ich denke, hier kann man zustimmen.
Jetzt sage ich Ihnen eines, meine Damen und Herren von der Opposition: Wenn ich mir die Verhandlungsführung der Bundesregierung in der gegenwärtigen Regierungskonferenz ansehe, fällt mir zweierlei auf, Beispiele dafür, wie es nicht laufen darf. Da erklärt der Bundeswirtschaftsminister gegenüber dem Handwerk, man solle unbesorgt sein; an der Handwerksordnung werde sich nichts ändern. Gleichzeitig verhandelt in der Regierungskonferenz die Bundesregierung, vertreten durch das Auswärtige Amt, und zeigt die Bereitschaft, Artikel 47 Absatz 2 des EG-Vertrags, in dem es um Grundsätze der Berufsordnungen geht, die nach geltendem Recht nur einstimmig geändert werden können, der Mehrheitsabstimmung zugänglich zu machen. Wenn man sich ein wenig in Europa auskennt, weiß man: Nur in zwei Mitgliedstaaten gibt es eine Handwerksordnung und den großen Befähigungsnachweis. Wenn man die Entscheidung darüber per Stimmenmehrheit treffen lässt, dann – das ist so sicher wie das Amen in der Kirche – wird es im Zuge der Harmonisierung auf europäischer Ebene dazu kommen, dass Handwerksordnung und Befähigungsnachweis entfallen. Die Bundesregierung kann doch nicht gegenüber dem Handwerk eine Position vertreten und in der Regierungskonferenz auf das Gegenteil dessen hinwirken.
Das zweite Beispiel. Es ist Herrn Bundesinnenminister Schily hoch anzurechnen, dass er der Kritik unseres Innenministers Dr. Beckstein folgt, die dieser an den Vorstellungen der Kommission zum Recht auf Familienzusammenführung für Drittstaatsangehörige und zum Asylrecht geübt hat.
Insofern kann man hoffen, dass die Bundesregierung im Ministerrat gegen die entsprechenden Vorschläge der Kommission stimmt.
Was tut aber die Bundesregierung in der Regierungskonferenz? Sie gibt zu erkennen, dass sie dafür ist, das Einstimmigkeitsprinzip im Zusammenhang mit dem Einwanderungs- und Asylrecht nicht erst in fünf Jahren aufzugeben, sondern schon jetzt, als Ergebnis dieser Regierungskonferenz. Damit wird es Herrn Bundesinnenminister Schily unmöglich gemacht, so weitgehende Regelungen zu stoppen, die von Brüsseler Seite kommen. Hinzu kommt – insofern haben Sie Recht, Herr von Heckel –:
Möglicherweise steht Herr Schily in der SPD mit seiner Meinung allein da. Jedenfalls haben alle SPD-Abgeordneten im Europaparlament den Plänen der Kommission zugestimmt. Sie alle waren dafür, dass wesentlich mehr an Familiennachzug zugelassen wird, als es unserem nationalen Recht entspräche.
Wozu haben die Länder Artikel 23 des Grundgesetzes erstritten, wenn deren Position nun in der Regierungskonferenz kein Thema mehr ist? Inzwischen hat die Ministerpräsidentenkonferenz der Bundesregierung ins Stammbuch geschrieben, dass diese in der Regierungskonferenz die Rechte und Interessen der Länder bislang nicht hinreichend berücksichtigt hat. Noch ein Beispiel dafür, wie es nicht laufen sollte: Im Rahmen des Gipfels in Lissabon im März dieses Jahres hat die Bundesregierung einen Gipfelbeschluss mitgetragen, wonach die Mitgliedstaaten zum Beispiel im Rahmen der sogenannten offenen Koordinierung aus den vor Ort bestehenden Schulen Mehrzwecklernzentren machen sollen. Bislang hat die Bundesregierung den Ländern nicht mitgeteilt, was in dem Zusammenhang alles beschlossen wurde und was die Länder nun umzusetzen haben. Hier hat die Bundesregierung Länderrechte verletzt. In Deutschland dürfte sie so etwas nie tun. Auf dem Gipfel in Lissabon hat sie Länderrechte vernachlässigt. Leider kommt hier von Ihnen überhaupt keine Kritik daran, meine Damen und Herren von der Opposition. Deswegen möchte ich ausdrücklich feststellen: Wir sollten gemeinsam auf die Bundesregierung einwirken, damit sie bei solchen Fragen Länderrechte besser beachtet, als sie es bisher getan hat. Das sollte ein gemeinsames Anliegen sein.
Lassen Sie mich noch kurz etwas zur Osterweiterung sagen. Die Osterweiterung ist politisch entschieden. Wir alle sind für die Osterweiterung. Die Frage ist nicht ob, sondern wie sie vollzogen werden soll. Als Nachbarn Tschechiens haben wir besondere und legitime Interessen. Wir haben besondere Interessen, weil Bayern an Tschechien angrenzt und weil unsere Grenzregionen in besonderer Weise von der Osterweiterung betroffen sind. Wir halten es für notwendig, gewisse Übergangsbestimmungen zu erlassen und ein Sonderprogramm für die Grenzregionen aufzulegen.
Die fünf Bundesländer, die an die Erweiterungsgebiete grenzen, vertreten hier eine gemeinsame Position. Gemeinsam haben wir Herrn Kommissar Verheugen geschrieben und ihm entsprechende Vorschläge unterbreitet. Er hatte uns in der Europaministerkonferenz dazu sogar aufgefordert. Doch hat die Bundesregierung bislang nicht die Forderung erhoben, etwa im Hinblick auf die Freizügigkeit, die Dienstleistungsfreiheit, die Landwirtschaft oder den Transport Übergangsbestimmungen zu vereinbaren. Ein Sonderprogramm für die Grenzregionen hat sie schon gar nicht gefordert. Da ist es doch mehr als recht und billig, dass wir, die Betroffenen, im Interesse der in den Grenzregionen lebenden Menschen darauf hinweisen, dass es anlässlich des Beitritts von Spanien und Portugal so genannte Mittelmeerprogramme gab, und zwar schon vor dem Vollzug des Beitritts jener Staaten. Diese Mittelmeerprogramme waren übrigens mit 4,1 Milliarden ECU ausgestattet. Bislang ist nichts dergleichen vorgesehen. Deswegen ist es so wichtig, jetzt gemeinsam vorzugehen.
Allerdings befindet sich Herr Kommissar Verheugen in einer außerordentlich misslichen Situation: Er kann zwar verhandeln, hat aber keinen Einfluss darauf, wie die Osterweiterung wettbewerbsrechtlich oder regionalpolitisch abgewickelt wird. So hat er Herrn Kollegen Dr. Schnappauf und mich darum gebeten, dahin gehend unter anderem auf Herrn Kommissar Monti einzuwirken, dass dieser das tut, was Herr Verheugen gerne machen würde. Meine Damen und Herren von der Opposition, in dieser Situation wäre es nützlich, wenn Sie an unserer Seite stünden, anstatt billige Kritik an dem zu üben, was bereits getan wurde.
Noch eine Bemerkung zur Daseinsvorsorge. Meine Damen und Herren von der Opposition, von Ihrer Seite wurde erklärt, wir befürchteten grundlos, dass die Grundrechte-Charta über den Geltungsbereich des jetzigen EU-Rechts hinausgehen werde. Außerdem wurde darauf verwiesen, dass Artikel 51 der GrundrechteCharta eine entsprechende Schranke vorsehe. Ich darf Ihnen in dem Zusammenhang ein Beispiel nennen. Die Kommission hat am 20. September dieses Jahres eine Mitteilung zur Daseinsvorsorge herausgebracht. Darin wurde der Anspruch erhoben, dass Brüssel nicht nur die Wettbewerbsseite kontrollieren dürfe – das ist das gute Recht der EU-Kommission –, sondern auch inhaltliche Vorgaben zur Gestaltung der Daseinsvorsorge durch die Kommunen machen dürfe. In ihrem Papier beruft sich die Kommission auf Artikel 36 der Grundrechte-Charta über den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse. Sie sehen: Bevor die Grundrechte-Charta rechtsverbindlich geworden oder feierlich verkündet worden wäre, beruft sich die Kommission auf diesen Text, um weitere Kompetenzen an sich ziehen zu können. Vor dem Hintergrund ist es mehr als berechtigt, dass wir erklären: Die Grundrechte-Charta darf überhaupt nur rechtsverbindlich werden, wenn gleichzeitig die Kompetenzen im Rahmen eines Verfassungsvertrags klar geregelt werden.
Wir sollten – gerade Sie von der Linken – im Überschwang über die Grundrechtecharta nicht aus den Augen verlieren, dass es dort erhebliche Fußangeln gibt. Gerade ein Landespolitiker sollte sich Artikel 14 ansehen, in dem das Recht auf Bildung gewährleistet wird. Die EU hat nur sehr eingeschränkte Kompetenzen in der Bildungspolitik, aber hier wird das Grundrecht festgeschrieben. Es heißt:
Jede Person hat das Recht auf Bildung sowie auf Zugang zur beruflichen Aus- und Weiterbildung.
Das nimmt Brüssel mit der Grundrechtecharta für sich in Anspruch. Der nächste Schritt wird wahrscheinlich sein, dass Vorgaben für die Mitgliedstaaten und Länder gemacht werden, wie das Ganze umzusetzen ist. Meine Begeisterung hält sich in Grenzen, wenn ich solche Dinge lese. Eigentlich wäre es die Aufgabe der Landespolitiker, ihre Kompetenzen dagegenzusetzen und zu verteidigen.
Ich bitte Sie, die Bayerische Staatsregierung in diesen Dingen entsprechend zu unterstützen. Ich meine wirklich, dass wir ein gemeinsames Anliegen haben, nämlich dass die Ordnung, die mit der Europäischen Union geschaffen worden und die unsere Schicksalsgemeinschaft ist, auch in Zukunft Erfolg haben muss; aber nicht in der Weise, dass alles zentral in Brüssel geregelt wird und die Länder nur noch hochpotenzierte Verwaltungseinheiten sind.
Schließlich zum Schluss: Da die Werteordnung – die beschworen worden ist – in einer Grundrechtecharta niedergelegt wurde, wäre es das wichtigste gewesen, dass die 14 Mitgliedstaaten sich an geltendes Recht gehalten und Österreich nicht gegen jedes Recht mit Sanktionen überzogen hätten.
Die Bürger fragen sich, was eine Grundrechtecharta nützen solle, die feierlich beschworen wird, wenn aus politischem Opportunismus und parteipolitischer Schlagseite gegen einen Mitgliedstaat ohne irgendeinen Grund vorgegangen wird.
Wenn wir in den Taten glaubwürdig sind, werden auch unsere Worte im Hinblick auf die Grundrechtecharta bei den Menschen Gehör finden. In diesem Sinne möchte ich Sie herzlich bitten, mit dem nötigen Realismus an die Sache heranzugehen, die Fortschritte gemeinsam zu bewältigen und unsere Aufgabe zu sehen, nämlich die Eigenständigkeit der deutschen Länder im gemeinsamen Europa in der Weise zu erhalten, dass sich die Menschen durch Landtag und Staatsregierung repräsentiert fühlen können, weil sie eigene Entscheidungsgewalt haben und demokratisch Einfluss nehmen können.