Protokoll der Sitzung vom 24.06.2003

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 118. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Aufnahmegenehmigung wurde erteilt.

Wir kommen zur

Gedenkveranstaltung aus Anlass des 50. Jahrestages des 17. Juni 1953

Meine Damen und Herren! Am 17. Juni hat sich der Volksaufstand der DDR zum 50. Mal gejährt. Das gibt uns Anlass, heute eine Gedenkstunde abzuhalten.

In der Geschichte unseres Volkes gibt es Situationen, die Trauer und Scham hervorrufen, und es gibt Ereignisse, auf die wir mit Stolz zurückblicken können. Der 17. Juni 1953 gehört zur zweiten Kategorie. Was sich damals in der DDR ereignete, war ein landesweiter Aufschrei gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung, gegen Spaltung und Teilung. Der Volksaufstand scheiterte zwar in seinen wesentlichen Zielen. Vor der Geschichte jedoch haben sich der Wille zu Freiheit und Selbstbestimmung und das Streben nach Einheit durchgesetzt. Am 17. Juni 1953 fand die erste Volks-Erhebung im eigentlichen Sinne des Wortes in einem Land des kommunistischen Ostblocks statt, „das Wetterleuchten einer neuen Zeit, das Menetekel eines Emanzipationsprozesses, der Ost- und Südeuropa erfassen sollte, zuletzt die Sowjetunion selbst“, so schreibt der Historiker Karl Wilhelm Fricke. Der 17. Juni 1953 wurde zu einem Symbol des Widerstands gegen Diktatur und Unrechtsherrschaft. Albert Camus stellte einmal fest, die Deutschen hätten sich durch die Ereignisse des 17. Juni 1953 rehabilitiert, denn sie setzten sich für die Freiheit ein. Diese Worte haben nach wie vor Gültigkeit.

Die tiefere Bedeutung, die mit dem 17. Juni 1953 verbunden ist, fordert uns auf, das Geschehen von damals als ein Stück gemeinsamer deutscher Geschichte zu begreifen. Unter diesem Motto steht die heutige Gedenkstunde. Wir konnten einen renommierten evangelischen Theologen, Politiker und Zeitzeugen gewinnen, der unter der SED-Diktatur Repressalien ausgesetzt war und nach deren Scheitern maßgeblich zur deutschen Einheit beigetragen hat: Prof. Dr. Richard Schröder.

(Allgemeiner Beifall)

Prof. Schröder wird den geistigen Bogen über rund vier Jahrzehnte Nachkriegszeit spannen und zum Thema „Vom 17. Juni zum 3. Oktober – Der Weg zur Deutschen Einheit“ sprechen. Im Namen des gesamten Hohen Hauses und persönlich heiße ich Herrn Prof. Schröder sehr herzlich willkommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute wissen wir über das Geschehen vor 50 Jahren ziemlich genau Bescheid. Die Archive

von SED, Roter Armee und Staatssicherheit wurden geöffnet und haben das früher geheime Herrschaftswissen dem Volk zurückgegeben. Es seien exemplarisch einige Fakten genannt: In über 700 Orten in der DDR kam es im Juni 1953 zu Kundgebungen, Demonstrationen und Streiks, mancherorts auch zu vorübergehenden Machtübernahmen und zur Erstürmung von SED-Zentralen und Stasi-Gefängnissen. In Görlitz und Bitterfeld wurden die Bürgermeister abgesetzt und durch Arbeitervertreter ersetzt.

Über diesen spektakulären Ereignissen dürfen wir den Widerstand vieler nicht vergessen, den sie in ihrem Umkreis geleistet haben – als einen Aufstand des Gewissens gegen Geheimdienst und Staatsapparat. Wir wissen von zahlreichen Frauen und Männern, die Zivilcourage im Alltag zeigten und ihre Ablehnung des Regimes durch Einzelaktionen zum Ausdruck brachten – zu ihnen zählt auch Prof. Dr. Richard Schröder, der sich als junger bekennender Christ weigerte, den „Jungen Pionieren“ beizutreten, und der die Jugendweihe ablehnte; ferner sei erinnert an den Vorsitzenden eines Ortsvereins der Nationalen Front, der sein Parteibuch verbrannte; an den Pfarrer, der in seiner Predigt die SED als Verbrecherpartei bezeichnete; an den Drehorgelspieler, der „Schmählieder“ gegen die Regierung sang; an die FDJ-Mitglieder, die SED-Fahnen und Bilder der Parteiführung verbrannten. Diese und zahlreiche andere Menschen, deren Namen im SED-Staatsapparat aktenkundig waren und deren Schicksale erst allmählich wieder ans Tageslicht treten, haben ganz bewusst Zeichen gesetzt und dafür gesellschaftliche Nachteile in Kauf genommen. Sie haben der Welt gezeigt, dass Freiheit und Menschenwürde unbezwingbar sind. Ihnen allen bezeugen wir unseren Dank und unseren Respekt.

Über eine Million Menschen solidarisierte sich damals mit den Zielen der Aufständischen, etwa die Hälfte davon in den mitteldeutschen Wirtschaftsregionen zwischen Leipzig, Halle und Magdeburg. Es war mehr als nur ein „Arbeiteraufstand“: Bauern, Angestellte, Akademiker, Angehörige von Kirchen und Jugendgruppen und sogar vereinzelt Mitglieder von SED und Volkspolizei schlossen sich an. Aus dem massiven Protest gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen und gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen wurde binnen kurzer Zeit eine Erhebung für Freiheit, Menschenrechte und Einheit. „Kollegen, reiht euch ein, wir wollen freie Menschen sein“, erscholl der Ruf auf der Stalinallee in Ostberlin und wurde durch ein ganzes Land getragen. Daneben wurden Forderungen nach dem Rücktritt der Regierung, nach freien Wahlen, nach Zulassung demokratischer Parteien erhoben. Die gewaltsame Niederschlagung des Aufstandes forderte Opfer, deren Zahl wir nicht genau kennen: Menschen wurden getötet, verletzt, verhaftet, angeklagt, zu Gefängnisstrafen verurteilt, oder sie kehrten der DDR den Rücken. Allein im ersten Halbjahr 1953 sahen rund 230000 Menschen in der Flucht den letzten Ausweg.

Um ihre Verbundenheit und Solidarität mit den mutigen Frauen und Männern im östlichen Teil Deutschlands zu bekunden, gedachten die bayerischen Landtagsabgeordneten in der Sitzung vom 23. Juni 1953 in einer

Schweigeminute der Opfer von Unterdrückung und Gewaltherrschaft.

Der damalige Landtagspräsident Dr. Alois Hundhammer führte unter anderem aus:

Mit diesen Opfern gemeinsam gedenken wir der vielen Tausende, die in Ostdeutschland, aber auch in anderen vom gleichen Gewaltsystem beherrschten Ländern gequält und unterdrückt, in Gefangenschaft, in Gefängnissen und Konzentrationslagern schmachten. Möge die freie Welt alles tun, um der Menschenwürde überall Geltung zu verschaffen!

Bundeskanzler Konrad Adenauer legte am 23. Juni 1953 vor dem Deutschen Bundestag das folgende feierliche Versprechen ab:

Wir werden nicht ruhen – diesen Schwur lege ich hier ab für das gesamte deutsche Volk –, bis auch die 18 Millionen in der Sowjetzone wieder in Freiheit leben, bis ganz Deutschland wieder vereint ist in Frieden und Freiheit.

Als Symbol und Erinnerungszeichen fassten am 1. Juli 1953 die demokratischen Parteien im Deutschen Bundestag den Beschluss, den 17. Juni zum „Tag der Deutschen Einheit“ zu erklären.

Nach der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstands folgte zwar eine kurze Zeitspanne, in der die Versorgungslage der Bevölkerung in der damaligen DDR verbessert und die Arbeitsbedingungen erleichtert wurden. Gleichzeitig wurde jedoch der Überwachungsstaat perfektioniert, die innere Repression nahm zu, Kritik wurde verboten. Junge Menschen, die sich nicht anpassten, durften Ausbildung, Schule oder Studium nicht erfolgreich beenden. Sie wurden auf Jahrzehnte hin sozial benachteiligt.

Der Bau der Mauer am 13. August 1961 war eine Bankrotterklärung des SED-Machtapparates und zugleich Ausdruck einer menschenverachtenden Politik. Bürger des eigenen Staates wurden eingesperrt, freie Wahlen waren nicht gestattet, Freizügigkeit und Reisemöglichkeiten sehr stark eingeschränkt. Die Mauer brachte unzähligen Menschen großes Leid. Frauen, Männer und Kinder wurden bei Fluchtversuchen getötet oder verwundet. Die Spaltung Deutschlands und Europas wurde besiegelt. Enttäuschung, Resignation und ein Sich-Abfinden mit den bestehenden Zuständen ließen die Einheit Deutschlands in weite Ferne rücken. „Uns Deutschen in West und Ost war die Perspektive der Einheit ja fast gänzlich abhanden gekommen“, drückte es Joachim Gauck einmal aus.

Dennoch: Die Sehnsucht der Menschen in der ehemaligen DDR nach Freiheit, Selbstbestimmung und Einheit konnte nie gänzlich ausgelöscht werden. Im Herbst 1989 brach sie sich eindrucksvoll Bahn. Zu Hunderttausenden gingen Frauen und Männer in Leipzig, Dresden und anderen Orten unter großem persönlichen Risiko auf die Straße, um für die Freiheit einzutreten. Sie riefen zunächst: „Wir sind das Volk!“ und dann – der Ruf wurde immer lauter –: „Wir sind e i n Volk!“ Anders als 1953

gelang es ihnen diesmal, die Macht des SED-Staates ins Wanken und zum Einsturz zu bringen. Damit wurde 1989 auf friedlichem Wege vollendet, was im Widerstand gegen das totalitäre SED-Regime von Anfang an begonnen hatte und wofür der 17. Juni 1953 ein eindrucksvolles Zeugnis ablegt.

Die Vollendung der deutschen Einheit zeigt letztlich, dass die Opfer des Aufstands von 1953 nicht vergeblich waren. Deshalb dürfen wir jene Menschen nicht vergessen, die vor 50 Jahren für Freiheit und Demokratie gekämpft haben und die als Vorbilder den Zusammenbruch des Unrechtsregimes mit vorbereitet haben. Die Menschen in der damaligen DDR haben – ich zitiere noch einmal Joachim Gauck – „allen Deutschen das Eintrittsbillett in den Kreis jener Nationen gelöst, die eine Freiheitstradition haben. Sie haben uns eine neue Würde gegeben.“

Die Ereignisse in den ersten Novembertagen des Jahres 1989 gaben der Geschichte unseres Landes eine neue Wendung. Sie haben aber auch eine europäische Dimension. Sie stehen in der Tradition der Freiheitsbewegungen von 1953 in der DDR, von 1956 in Ungarn, von 1968 in der Tschechoslowakei und von 1980/81 in Polen. Diese Marksteine in der europäischen Nachkriegsgeschichte machen deutlich, dass auch für das zusammenwachsende Europa Menschenrechte, Stabilität, Frieden und Freiheit als verbindende Grundelemente unverzichtbar sind.

Es war auffallend, wie sehr in den vergangenen Tagen und Wochen der 17. Juni 1953 im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand. Zahlreiche Gedenk- und Vortragsveranstaltungen fanden statt, Zeitungen, Magazine, Rundfunk- und Fernsehsendungen berichteten – in der überwiegenden Mehrzahl – objektiv und detailliert über Ursachen, Abläufe und Folgen der dramatischen Geschehnisse. Das ist begrüßenswert. Nur so können unterschiedliche Erfahrungen und Geschichtsbilder, die sich in vier Jahrzehnten Teilung geformt haben, gemeinsam aufgearbeitet werden. Damit verbunden ist die Verpflichtung, Konsequenzen zu ziehen und uns Klarheit darüber zu verschaffen, worin unsere Aufgaben heute und morgen bestehen.

Eine wesentliche Botschaft des 17. Juni 1953 lautet: Demokratie und Freiheit sind keine Selbstverständlichkeit, sondern nur so weit und so lange gesichert, wie wir sie bewusst leben und aktiv verteidigen. Ideologien, die den Menschen absolute Gleichheit und stete Gerechtigkeit – also ein irdisches Paradies – versprechen, sind der Nährboden für totalitäre Regime, die den Anspruch erheben, den Volkswillen zu kennen und ihn durchzusetzen. Der Philosoph Karl Popper hat das treffend so formuliert:

Von allen politischen Idealen ist der Wunsch, die Menschen glücklich zu machen, vielleicht der gefährlichste.... Der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, produziert stets die Hölle.

Um das „demokratische Immunsystem“ gegen sozialutopische Heilsversprechungen zu stärken, gilt es, immer wieder deutlich zu machen, dass Politik in der parlamentarischen Demokratie nicht den Wunschtraum einer Erlö

sung für alle erfüllen will, sondern dass sie mehrheitsfähige Lösungen anbietet, die dann auch in die Wirklichkeit umgesetzt werden können.

Ein Wettbewerb um die besten Lösungen gehört zum Kernbestand unserer demokratischen und föderalen Ordnung. Eine der ersten Maßnahmen zur Schaffung des sozialistischen Einheitsstaates in der ehemaligen DDR war die Abschaffung der Länder im Jahre 1952. Damit wurden nicht nur traditionelle staatliche Strukturen beseitigt, sondern den Menschen wurden bewusst Heimat und Identität als prägende Strukturen genommen. Doch diese haben das innerlich niemals wirklich akzeptiert. So war es nur folgerichtig, dass kurz nach dem Fall der Mauer der Ruf nach Wiedererrichtung der „alten“ Länder ertönte. Auf diese Tatsache haben Sie, Herr Prof. Schröder, in einem Vortrag vor der Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen Landesparlamente im Juni 2002 hingewiesen. Als Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR haben Sie mit die Weichen für eine Wiederbelebung des föderalen Prinzips in Deutschland gestellt – im Bewusstsein seiner historischen Wurzeln und seiner Fähigkeit, der Freiheit einen optimalen Rahmen zu bieten.

Herr Prof. Schröder, als bekennender Christ mussten Sie – ich habe es eingangs bereits erwähnt – während der SED-Diktatur persönliche Nachteile erdulden. Als sich der Zusammenbruch des DDR-Systems abzeichnete, wollten Sie Mitverantwortung für die Gestaltung der Zukunft übernehmen und traten in die Politik ein. Sie gehörten der Verfassungskommission des „Runden Tisches“ an und wurden von der SPD-Fraktion in der frei gewählten Volkskammer zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Nach dem Ausscheiden aus der Politik übernahmen Sie einen Lehrstuhl für Philosophie und Systematische Theologie an der Berliner Humboldt-Universität, den Sie bis heute innehaben. Als nachdenklicher Beobachter und als Kommentator haben Sie immer wieder Ihre Stimme erhoben und um gegenseitiges Verständnis beim Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands geworben. Ich möchte Sie zum Abschluss zitieren:

Ein Herz und eine Seele müssen wir gar nicht werden. Wenn sich Ostdeutsche und Westdeutsche so gut – und so schlecht – verstehen wie Ostfriesen und Bayern, ist die Einigung gelungen. Probleme werden wir dann trotzdem noch reichlich haben.

Herr Prof. Schröder, nachdem ich Sie soeben zitiert habe, haben Sie nun selbst das Wort.

(Allgemeiner Beifall)

Prof. Dr. Richard Schröder: Herr Landtagspräsident, Herr Ministerpräsident, meine Damen und Herren Abgeordnete, liebe Gäste! Am 17. Juni 1953 kam es in 700 Orten der DDR zu Streiks und Demonstrationen. Ausgelöst waren sie durch eine zehnprozentige Normerhöhung, die die SED-Regierung Ende Mai verfügt hatte. Sie sollte möglichst freiwillig von den Betrieben und Arbeitern zu Ehren von Ulbrichts 60. Geburtstag erbracht werden. Bei den Lohnzahlungen am 13. Juni wurden sie für viele erstmals wirksam. Das war ein

Sonnabend. Am Montag, dem 15. Juni, verfassten die Bauarbeiter des Krankenhauses Berlin-Friedrichshain eine Resolution an den Ministerpräsidenten Grotewohl und forderten, „dass von dieser Normerhöhung auf unserer Baustelle Abstand genommen wird.“ Wir „erwarten Ihre Stellungnahme bis spätestens morgen Mittag“.

Der BGL-Vorsitzende, Betriebsgewerkschaftsleitung, und drei Arbeiter brachten die Resolution in das Haus der Ministerien, und die Arbeiter warteten. Als am 16. Juni keine Antwort vorlag, zogen etwa 10000 Demonstranten zum Haus der Ministerien, dem heutigen Finanzministerium. Inzwischen hatte das Politbüro die Normerhöhung zurückgenommen. Als aber Minister Selbmann dies den Demonstranten mitteilte, wurde er niedergeschrieen. Er stand auf einem Tisch. Er war, unter uns gesagt, der einzige von der Führungsriege, der bereit war, sich den demonstrierenden Arbeitern zu zeigen. Er wurde vom Tisch gezogen. Ein Arbeiter sprang auf den Tisch und rief: „Was du uns da erklärt hast, interessiert uns überhaupt nicht. Wir wollen frei sein. Wir fordern freie und geheime Wahlen.“ Ein anderer rief: “Für morgen rufen wir den Generalstreik aus!“ Eine Abordnung der Demonstranten suchte den RIAS in Westberlin auf, der fast in der ganzen DDR gehört werden konnte. Der RIAS informierte auch über die Ereignisse des 16. Juni in Berlin und verbreitete vier Forderungen der Demonstranten: Rücknahme der Normerhöhung, Senkung der Lebenshaltungskosten, freie und geheime Wahlen, keine Maßregelungen der Streikenden. Den Aufruf zum Generalstreik hat der RIAS dagegen nicht verbreitet, sondern er hat sehr wohl korrekt gemeldet, dass die SED-Führung am Mittag des 16. Juni die Normerhöhung zurückgenommen hat. Kurz darauf verbot ein amerikanischer Offizier dem RIAS die Verbreitung jener Forderungen, weil er fürchtete, es könne zu einem Aufstand kommen, in den Westberlin einbezogen würde, und dies könne einen Krieg zwischen den Großmächten auslösen.

In der Nacht zum 17. Juni, 23.00 Uhr, wandte sich der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, über den RIAS an die Ostberliner und Ostdeutschen mit der Bitte, „sich weder durch Not noch durch Provokationen zu unbedachten Handlungen hinreißen zu lassen. Niemand soll sich selbst und seine Umgebung in Gefahr bringen.“ Früh um 5.00 Uhr am 17. Juni meldete sich noch einmal über RIAS der Westberliner DGB-Vorsitzende Scharnowski zu Wort. Er forderte: „Tretet der Bewegung der Ostberliner Bauarbeiter, BVGler und Eisenbahner bei.“ Gemeint war die Demonstration, die vom Straußberger Platz am nächsten Tag beginnen sollte. „ Je größer die Beteiligung ist, desto machtvoller und disziplinierter wird die Bewegung für euch mit gutem Erfolg verlaufen.“

Am 17. Juni früh begannen landesweit Demonstrationen. Allein in Berlin waren schließlich 150000, im ganzen Land wohl eine Million auf der Straße, zuallermeist friedlich, zumal auf dem Lande. Es kam aber auch zu Gewaltakten. Gebäude wurden gestürmt, Akten zum Fenster hinausgeworfen, Kioske in Brand gesteckt. In Berlin brannte das Kolumbushaus. Es gab auch Fälle von Lynchjustiz. Zwischen zehn und fünfzehn Personen sind durch die Aufständischen ums Leben gekommen.

Die Sicherheitskräfte der SED waren völlig machtlos. Nicht wenige Polizisten sind zu den Demonstranten übergegangen.

Um 10.00 Uhr ließ der sowjetische Botschafter Semjonow die handlungsunfähige und völlig konsternierte SED-Führung in geschlossener Wagenkolonne nach Karlshorst in Sicherheit bringen. Um 13.00 Uhr verhängte die Besatzungsmacht den Ausnahmezustand über alle großen Städte und über 167 der 217 Landkreise. Ich betone das deshalb, weil immer wieder behauptet worden ist, es seien nur geringe Teile der DDR von diesem Aufstand betroffen gewesen. Das ist nicht der Fall.

Allein in Ostberlin fuhren 600 sowjetische Panzer auf. Es wurde geschossen. Erst über die Köpfe hinweg, und wo das nicht wirkte, gezielt auf Personen. Aus Moskau kam die Anordnung, 18 standrechtliche Erschießungen vorzunehmen und zur Abschreckung mit Plakaten zu dokumentieren. Die Zahl der Toten an diesen Tagen wird auf etwa 60 bis 150 geschätzt, die Zahl der Verwundeten ist unbekannt. Es wurden – das wissen wir genau – 13000 verhaftet, 2000 zu harten Zuchthausstrafen und Gefängnisstrafen verurteilt, zwei zum Tode. Besonders hart wurden die Organisatoren des Streiks bestraft, obwohl die DDR-Verfassung das Streikrecht garantierte.

Was als Streik der Arbeiter gegen Lohnkürzungen begonnen hatte, wurde in wenigen Stunden zu einem landesweiten Aufstand mit politischen Forderungen: freie Wahlen, Freilassung der politischen Gefangenen, Rücktritt der Regierung, Pressefreiheit und Wiedervereinigung. Wie wir nunmehr aus den DDR-Akten wissen, haben sich schließlich alle Schichten der Bevölkerung am 17. Juni an den Demonstrationen beteiligt, darunter auch nicht wenige Mitglieder der SED und der Gewerkschaften. Es gab auf dem Land Bauerndemonstrationen. Viele Demonstrationen haben vor die Gefängnisse geführt. Wir wissen das genau: Vor 22 Gefängnissen ist demonstriert worden, mit der Forderung nach Freilassung politischer Häftlinge, gar nicht so selten übrigens mit Erfolg. Nach 36 Stunden endete das alles in einer blutigen Tragödie.

Wie kam es zu diesem Aufstand? – Normerhöhungen waren bloß der Anlass. Die Ursachen lagen tiefer, und sie lagen ein Jahr zurück. Auf der Zweiten Parteikonferenz der SED von 2. bis 12. Juli 1952 wurde der Aufbau des Sozialismus in der DDR oklamiert, und das hieß: Die DDR sollte nach dem Muster der Sowjetunion umgestaltet werden. Bis dahin war wenigstens pro forma auch in Gestalt der Ersten Verfassung der DDR sozusagen die verfassungsmäßige Kompatibilität der DDR-Verhältnisse mit den westlichen noch, wenn auch nur scheinbar, aufrechterhalten worden. Nun lautete das Signal: Sowjetisierung. Es folgte das schlimmste Jahr der DDR-Geschichte, das auch in der DDR weitestgehend verdrängt und vergessen worden ist, weil davon nicht gesprochen werden durfte.

Es waren 1947 auch in der sowjetischen Besatzungszone Länderverfassungen in Kraft gesetzt worden, die weitgehend der Deutschen Verfassungstradition ver

pflichtet waren mit Gewaltenteilung und einer unabhängigen Justiz. Auch Verwaltungsgerichte waren vorgesehen. Mit Gesetz vom 23. Juli 1952 war schon im Geist des Aufbaus des Sozialismus verfügt worden, dass die Länder abgeschafft und in 14 Bezirke aufgeteilt werden. Damit verschwanden auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Finanzgerichtsbarkeit. Etwa 200 Richter wurden in jener Zeit entlassen, nicht weil sie Nazis waren, denn die hatte die sowjetische Besatzungsmacht längst vorher entlassen, sondern weil ihre Unparteilichkeit störte. Sie wurden durch unausgebildete sogenannte Neurichter ersetzt, die sich besonders gut darauf verstanden, kurzen Prozess zu machen.

Die Erklärung der Zweiten Parteikonferenz beginnt mit einem Aufruf zum „nationalen Befreiungskampf gegen die amerikanischen, englischen und französischen Okkupanten in Westdeutschland“ und zum „Sturz ihrer Vasallenregierung in Bonn“. – Ich kann ihnen nicht ersparen, sich dieses Deutsch von damals einmal anzutun. Die „Festigung und Verteidigung der Grenze“ und die „Organisierung bewaffneter Streitkräfte, die mit der neusten Technik ausgerüstet sind“, werden verfügt.

Am 26. Mai 1952 war die Westgrenze, die so genannte Grüne Grenze, abgeriegelt worden. Die Aufrüstung der DDR begann. Der Ausbau der Schwerindustrie wurde auf Kosten der Konsumgüterindustrie forciert. Milliardeninvestitionen wurden für Schiffsbau und Flugzeugbau vorgesehen, weil sich die DDR mit den diesbezüglichen Rüstungsgütern selbst versorgen sollte, wohingegen das Heer von der Sowjetunion ausgerüstet werden sollte. Das alles brachte die Wirtschaft der DDR in eine schwere Krise. Die neue Losung „Aufbau des Sozialismus“ hieß zugleich „Verschärfung des Klassenkampfes“, den feindlichen Widerstand brechen. Im Klartext: Die Staatsmacht wurde zur Waffe der Partei gegen die Bürger. Das war mit Klassenkampf gemeint. Seitdem kann ich das Wort nicht mehr hören.

Der Klassenkampf richtete sich gegen wirtschaftlich Selbstständige. Wer Angestellte hatte, war jetzt Kapitalist. Mein Vater war Apotheker und hatte Angestellte. Also hörten wir in der Schule nur: Dein Vater ist Kapitalist. Der Klassenkampf richtete sich also vor allem gegen Bauern und Bürgertum. Diesem Personenkreis, etwa zwei Millionen Menschen, wurden die Lebensmittelkarten entzogen, so dass sie nur zu überhöhten Preisen das Lebensnotwendige in den HO-Läden erwerben konnten. Die Justiz wurde regelrecht als Terrorinstrument eingesetzt, getreu nach Lenin: „Das Gericht soll den Terror nicht beseitigen..., sondern ihn prinzipiell, klar, ohne Falsch und ohne Schminke begründen und gesetzlich verankern.“ Das kann man im 33. Band seiner Werke auf Seite 344 nachlesen.

Von August 1952 bis Januar 1953 kam es zu 1250 politisch motivierten Prozessen gegen Bauern, die das erhöhte Ablieferungssoll nicht erreicht hatten oder daraus resultierende Steuerschulden nicht begleichen konnten. Ich nenne ein Beispiel: In Prenzlau wurde ein Bauer zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt und zugleich enteignet, weil er aus Krankheitsgründen das Soll nicht erfüllt hatte. Mehr als 15000 Bauern sind in diesem Jahr nach Westen geflohen, so dass im Mai 1953500000 ha