Protokoll der Sitzung vom 29.05.2002

Meine Damen und Herren! Die Fraktion der Deutschen Volksunion möchte auf noch einen Aspekt aufmerksam machen, dem man nicht genug Beachtung schenken kann, nämlich die Vorbildwirkung der Erwachsenen. Insbesondere meine ich hier die

Politiker. Wie will man Kindern und Jugendlichen beibringen, dass man Konflikte gewaltfrei lösen kann, wenn sogar unsere Bundesregierung kriegerische Auseinandersetzungen unterstützt, wenn ehemalige Pazifisten Kriegseinsätze befürworten?

Was sagen wir unseren Kindern, wenn sie fragen, warum es Kriege gibt, warum erwachsene Menschen Gewalt, Kriege als ein Mittel der Politik ansehen? Solange Politiker Gewalt zur Lösung von Konflikten einsetzen, solange Kriege gegen andere Völker geführt werden, werden auch unsere Kinder Gewalt als etwas völlig Legitimes ansehen.

Die Fraktion der Deutschen Volksunion hingegen setzt sich jederzeit für Gewaltfreiheit ein und handelt auch entsprechend. Daher fordern wir Sie alle auf: Lassen Sie Ihren schönen Worten über Gewaltfreiheit Taten folgen und setzen Sie sich nicht nur für eine Erziehung zu Gewaltlosigkeit ein, sondern auch für eine gewaltfreie Außenpolitik! - Ich danke.

(Beifall bei der DVU)

Ich danke Ihnen, Frau Abgeordnete Fechner. - Das Wort geht jetzt an die Landesregierung. Herr Minister Reiche, bitte schön.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Die Schüsse von Robert Steinhäuser in Erfurt haben 17 Menschen getötet, aber getroffen haben sie uns alle in Deutschland, Väter und Mütter, Söhne und Töchter und natürlich vor allem unsere Lehrerinnen und Lehrer.

Wir alle sind ganz verschieden von PISA und Erfurt betroffen, denn beides hätten wir nicht für möglich gehalten. Dass so etwas in Deutschland passiert und dass es so um Deutschland steht, hat uns überrascht. Wir wurden enttäuscht, weil wir uns selber getäuscht haben.

Bohrende Fragen nach den Ursachen eines solchen Verbrechens sind gestellt worden. Erste Antworten sind gegeben worden. Mir ist vor allem wichtig, dass wir uns, bevor wir neue Forderungen aufmachen, als Parlament, aber auch jeder für sich im Wahlkreis als Vater oder als Mutter, als Großvater oder als Großmutter an die Seite unserer Lehrerinnen und Lehrer stellen. Denn nach Erfurt müssen sie wissen, dass sie in ihrem Dienst unsere ungeteilte Wertschätzung haben.

(Beifall bei der SPD)

Sie müssen wissen, dass wir an ihrer Seite stehen, wenn sie sich um Bildung und Erziehung der Heranwachsenden bemühen. Denn warum konnte ein Lehrer mit dem Satz: Schau mir in die Augen, wenn du schießt!, den Amoklauf stoppen? Weil es genau darum geht, dass Vater und Mutter, Lehrer und Erzieher Jugendlichen in die Augen schauen - denn Grenzen werden gesetzt, wenn sich Kinder und Jugendliche angenommen fühlen. Also nicht über die Aufwachsenden hinwegschauen, sondern mit beiden Augen auf die Kinder schauen und dadurch auch Grenzen setzen.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)

Hillary Clinton hat das afrikanische Sprichwort “Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf” weltberühmt gemacht. Aber das ist auch verführerisch, denn es ist bestenfalls ein Teil, und zwar der kleinere Teil der Wahrheit. Der andere, größere Teil heißt: Um ein Kind zu erziehen, braucht es zuallererst einen Menschen, auf den sich ein Kind ganz und gar zu jeder Zeit verlassen kann.

(Beifall bei SPD und CDU)

Ich bin der erste Mann, der heute hierzu redet. Das ist nicht zufällig, sondern Ausdruck des Problems. Viele Jungen wachsen bei ihren geschiedenen Müttern auf, gehen in Kitas und Grundschulen, wo oft der Hausmeister der einzige Mann ist. Aber auch Jungen brauchen Leitbilder. Wenn sie keine Väter, keine Vorbilder haben, suchen sie sich welche. Und die Gefahr, dass sie dabei gewalttätig werden, ist groß. Männer wenden sich oft den härteren Themen zu und übersehen dabei, dass Erziehung das härteste und schwierigste Thema überhaupt ist.

(Beifall der Abgeordneten Frau Blechinger [CDU])

Ich bin neulich von einem Jungen in einer Grundschule in Brandenburg gefragt worden, warum es so wenig Lehrer in der Grundschule gebe. Ich habe ihm gesagt, dass den meisten Männern diese Aufgabe leider zu schwer ist.

Eltern müssen erziehen statt sich entziehen. Lehrer müssen aufrichten und unterrichten. Jugendliche, die gewalttätig werden, müssen festgehalten werden, nicht zuerst in einem Gefängnis, sondern zuallererst von einem Menschen. Deshalb ist es gut, liebe Frau Blechinger, dass wir heute darüber reden, wie wir die Erziehungskraft in der Familie und in der Gesellschaft stärken. Denn Erziehung braucht wirklich Kraft.

(Beifall bei SPD und CDU)

Weil Erziehung die wichtigste Aufgabe überhaupt ist, ist sie auch jedem von uns - uns allen, jedem an seiner Stelle - aufgetragen. Mir ist es deshalb wichtig, dass wir, ehe wir mit dem Finger auf Schlechtes zeigen, immer wieder auch auf die vielen guten Dinge zeigen, bei denen Erziehung gelingt.

Über Erfurt wird zu Recht viel geredet, auch darüber, dass Politik dort versagt hat. Denn es ist doch absurd, dass jemand, der in der 11. oder 12. Klasse ist, gar keinen Abschluss, kein Zertifikat hat. Das ist zu Recht in allen anderen Ländern anders.

Aber wir sind auch gefordert, wenn wir wissen und uns sagen lassen müssen, dass unsere Kinder am Ende der 10-jährigen Schulzeit rund 15 000 Stunden Unterricht gehabt, aber rund 18 000 Stunden ferngesehen haben. Warum ist das so? Weil sich Eltern in dieser Zeit nicht an die Seite ihrer Kinder gestellt haben, nicht mit ihnen gespielt, mit ihnen etwas unternommen haben.

(Frau Kaiser-Nicht [PDS]: Weil die Horte zu sind!)

- Für eine sich ratlos gebende Fraktion haben Sie erstaunlich viel Rat gegeben.

(Beifall bei SPD und CDU)

In ostdeutschen Kinderzimmern stehen - auch das braucht Antwort und nach Möglichkeit muss dies auch bald abgestellt werden - doppelt so viele Fernseh- und Videogeräte wie in westdeutschen. Wir müssen auch darauf eine Antwort finden, warum gerade in sozial benachteiligten Familien den Kindern besonders viele neue, elektronische Medien zur Verfügung stehen. Scheinbar traut man sich dort die schwierigere, wichtigere Aufgabe nicht mehr zu, offenbar sollen Verluste kompensiert werden.

(Beifall bei der CDU)

Und der Hort, liebe Zwischenruferin: Der eine oder andere wird sich an Frankfurt erinnern können und an den damaligen Zwischenruf einer Mutter, warum der Staat ihr Kind nun nicht mehr erziehen werde. Dieser Zwischenruf hat mich betroffen gemacht. Unendlich betroffener gemacht hat mich, dass an dieser Stelle 300 bis 400 Eltern und Erzieher gemeinsam geklatscht haben. Denn zuallererst ist es doch Aufgabe der Eltern - das kann selbst ein so gutes Kita- und Hortangebot wie das in Brandenburg niemals ersetzen -, ihre Kinder auf dem Weg ins Leben zu begleiten.

(Beifall bei SPD und CDU)

Da hilft es uns nicht, dass die Kollegen von der PDS, wenn etwas Unvorhersehbares passiert, die Schubfächer aufmachen und die alten Antworten geben. Sie sind ja teilweise berechtigt, aber auf dieses spezielle Problem geben sie nur begrenzt Antwort. Liebe Kollegen von der PDS, wir sind auch dank Ihrer tätigen Mithilfe in diesem Parlament weiter als die Kollegen in Mecklenburg-Vorpommern oder in Berlin. Dies gilt für die Kitas, auch für die Schulsozialarbeit, den Sport und für den Jugendbereich. Wir müssen uns nur die Zahlen vor Augen führen: 40 Schulpsychologen...

(Prof. Dr. Bisky [PDS]: Hochmut kommt vor dem Fall!)

- Nein, Herr Bisky, das ist nicht Hochmut. Vielmehr noch muss auch das Gute genannt werden, damit wir an dem Guten so weiter arbeiten können, dass es mehr wird. Dies immer in Abrede zu stellen nutzt niemandem.

(Beifall bei SPD und CDU)

Bei den Schulträgern sind, obwohl wir als Land dafür nicht zuständig sind, mit Landesunterstützung ca. 250 Schulsozialarbeiter angestellt, 167 davon in Festanstellung. 14 627 Lehrkräfte, das heißt weit mehr als die Hälfte, sind zwischen 1999 und 2001 beim PLIB zum Thema der Gewaltprävention fortgebildet worden. Jede Schule muss jeden einzelnen Schüler fordern und fördern. Das Schulsystem muss deshalb wie ein Trampolin funktionieren. Jedem Schüler müssen nach jedem Misserfolg neue Chancen geboten werden. Niemand darf dafür sorgt unser Bildungssystem - ohne Abschluss bleiben. Das sollte auch für die Zukunft unser Ziel sein.

Ganz wesentlich ist die Verbesserung der Gesprächskultur an den Schulen. Vieles ist mit einem Ganztagsangebot in mittlerweile 86 Schulen auf den Weg gebracht. Wir werden dies in den nächsten Wochen und Monaten kontinuierlich ausbauen können. Wenn wir die Unterstützung des Bundes durch das 1Milliarde-DM-Programm bekämen, bedeutete das, dass allein

Brandenburg 30 Millionen Euro im Jahr zur Verfügung hätte, um Schulen so zu gestalten, dass sie das soziale Zusammenleben besser organisieren können und eben nicht nur - wie die Pädagogik der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte - als Belehrungsanstalt funktionieren und aufgebaut sind.

Eltern müssen bei ihrer schwierigen Aufgabe gestärkt werden. Ich bin dankbar und froh, dass es zum Beispiel in Brandenburg in der Kindertagesstätte Kiwi erste gute Ansätze gibt, so gute Ansätze, dass ich die Elternfortbildung, die dort betrieben wird, gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen ausbauen möchte, und zwar in Kooperation mit den Volkshochschulen, die durch ihren Landesvorsitzenden bereits zugesagt haben, in den nächsten Jahren gemeinsam mit dem Land einen Elternführerschein anzubieten. Auto fahren darf nur, wer einen Führerschein hat. Aber unsere Kinder, das Wichtigste und Beste, das wir haben, zu erziehen, ist jedem anvertraut. Wir werden diesen “Führerschein” nicht verpflichtend einführen können; daran hindert uns die verfassungsrechtliche Ordnung. Aber wir werden künftig mehr Angebote machen als heute, damit Eltern bei dieser schwierigsten Aufgabe, die es gibt, unterstützt werden, auf die sich eben niemand vorbereiten, für die sich eben niemand qualifizieren kann.

(von Arnim [CDU]: Großeltern!)

- Großeltern können sich natürlich, weil sie sozusagen einen lebenslangen Lehrgang mitgemacht haben, einbringen. Jeder ist gefragt. Deswegen, Herr von Arnim, habe ich vorhin die Großeltern ganz bewusst mit genannt.

Es geht darum, dass wir in Zukunft beides stärken: den Bildungs- mit dem Erziehungsauftrag in Kindertagesstätten und den Erziehungs- mit dem Bildungsauftrag in den Schulen. Denn Demokratie braucht Erziehung. Wir haben das im Jahre 1992 viel zu wenig ernst genommen. Denn dort sind der Bildungsauftrag von Kindertagesstätten und der Erziehungsauftrag von Schule auf Wunsch und Drängen der Eltern und der Gesellschaft reduziert bzw. abgeschafft worden. Lehrerinnen und Lehrer haben diesen Erziehungsauftrag dankenswerterweise all die Jahre mit wahrgenommen. Aber wir sind in der Verantwortung, sie in Zukunft stärker als bisher zu stärken und sie hierbei zu unterstützen.

Nachdenken müssen wir vor allem über eine Jungenpädagogik. Ich habe vorhin die Gründe genannt. Denn seit PISA wissen wir, wie sehr Jungen gegenüber Mädchen bei der Lesekompetenz abfallen, in welchem Umfang heute Mädchen eher auf die weiterführenden Schulen des Landes kommen bzw. zu welch größerem Anteil sie die allgemeine Hochschulreife erwerben. Außerdem ist Gewaltbereitschaft vor allem ein Problem der männlichen Heranwachsenden.

Deshalb habe ich an die Eltern in Brandenburg einen offenen Brief gerichtet, in dem ich zu verantwortungsvollem Umgang mit den Medien auffordere. Computerspiele, Videos und Fernsehen sind nicht an sich das Problem, sondern wie viel gespielt und konsumiert wird, ob Gewalt verherrlichende Filme und Spiele dabei sind, ob die Kinder und Jugendlichen bei ihrem Medienkonsum von den Eltern begleitet werden, ob mit ihnen darüber gesprochen wird. Mit der Novelle des Jugendschutzgesetzes werden Altersbegrenzungen für Computerspiele festgeschrieben, das Indizierungsverfahren verbessert, die Regelungen

für Rundfunk und Internet vereinheitlicht und die Selbstkontrolle durch staatliche Zertifizierung wirksamer gestaltet.

Frau Fechner, es gibt - auch wenn Sie das immer wieder sagen, bleibt es falsch - weniger einen Werteverfall denn eine Werteveränderung, weil wir eben schnellere Generationswechsel haben als früher.

Ich halte es schon für frivol, dass Sie, wenn die Bundesregierung und andere ein Volk von vier Millionen Afghanen durch Krieg befreien müssen, das in einen Zusammenhang mit dem rücken, was in Erfurt passiert ist.

Erziehung ist grundlegend für Bildung, denn nur sie hilft, sich in der Informations- und Wissensgesellschaft zu behaupten. Deshalb strebe ich in den nächsten Wochen ein Erziehungsbündnis mit dem Landesrat der Eltern an. Der gemeinsame Wille, für die Kinder und Jugendlichen in enger Partnerschaft tätig zu sein, wird dieses Bündnis tragen. Ein gegenseitiges Vorleben ist dabei besser als das Appellieren an die jeweils andere Seite. Doch das eigene Verhalten zu verbessern ist unsere tägliche Aufgabe. Damit bleiben wir Vorbilder und Leitbilder für die Heranwachsenden in unserem Land. - Vielen Dank.

(Beifall bei SPD und CDU)

Ich danke Herrn Minister Reiche und gebe das Wort noch einmal an die Fraktion der PDS. Frau Abgeordnete Kaiser-Nicht, bitte.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU-Fraktion beantragt hier eine Aktuelle Stunde zum Thema “Gegen Gewalt - Stärkung der Erziehungskraft in Familie und Gesellschaft”, jedoch über die Folgen der eigenen überholten konservativen Familienpolitik

(Widerspruch bei der CDU)

oder gar selbstkritische Schlussfolgerungen haben wir hier nichts gehört.