Protokoll der Sitzung vom 23.02.2000

Der Minister ist eingetroffen. Ich erteile ihm das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor ein oder zwei Wochen bin ich noch davon ausgegangen, Ihnen den vorliegenden Bericht mit einem eher trockenen Charakter zum Thema „Evaluation von Vorhaben gegen Jugendkriminalität und Rechtsextremismus" vorstellen zu können. Die aktuellen Ereignisse der letzten Tage brin gen einige Würze in das politische Geschehen. Ich werde nur kurz auf den Bereich von Effizienz, Kontrolle und Evaluation eingehen.

Die polizeiliche Kriminalstatistik wurde am letzten Donnerstag vom Innenminister vorgestellt. Vermutlich haben Sie wie ich in den Medien gelesen. dass die Ju gendkriminalität laut polizeilicher Kriminalstatistik weiter zugenommen habe. 36 % der in der polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Tatverdächtigen sind Kinder, Jugendliche und Heranwachsende. 1998 waren es noch 34 %. Eine Tageszeitung titelte dementsprechend am Freitag auf der Brandenburgseite mit folgender Schlagzeile: „Drastischer Anstieg der Jugendkriminalität".

Das trifft mich in meiner Rolle als Jugendminister ganz Angesichts der öffentlichen Resonanz komme ich nicht umhin, besonders und ich habe deshalb diese Ergebnisse sehr genau

ausgewertet. Das erste überraschende Ergebnis will ich Ihnen kurz darstellen.

Wir haben also einen Anstieg der Jugendkriminalität von 34,6 auf 36 %. Man muss aber die absoluten Zahlen der ermittelten tatverdächtigen Kinder, Jugendlichen und Heranwachsenden des Jahres 1999 mit denen des Jahres zuvor vergleichen: Kinder unter 14 Jahren 7 346 im Jahre 1998, 7 115 im Jahre 1999. das heißt minus 231 Tatverdächtige und damit ein Rückgang der absoluten Zahl in dieser Altersgruppe um 3,1 %. Jugendliche von 14 bis unter 18 Jahre 17 126 im Jahre 1998, 16 577 im Jahre 1999, das heißt minus 549 Tatverdächtige und ein Rückgang um 3,7 %. Die dritte Altersgruppe, Heranwachsende im Alter von 18 bis unter 21 Jahre, 12 973 im Jahre 1998, 12 216 im vergangenen Jahr, das heißt auch in diesem Bereich ein Minus von 757 Tatverdächtigen und ein Rück gang von 5,8 % in dieser Altersgruppe.

Zusammengefasst bedeutet das also für Kinder, Jugendliche und Heranwachsende, also für alle ermittelten Tatverdächtigen unter 21 Jahren. dass die Zahl von 37 445 im Jahr 1998 auf 35 908 im Jahr 1999 sank. Es wurden im vergangenen Jahr also 1 537 Tatverdächtige unter 21 Jahren weniger ermittelt als 1998. Die absolute Zahl der ermittelten Tatverdächti gen unter 21 Jahren in der polizeilichen Kriminalstatistik ist damit im Vergleich zum Vorjahr um 4,1 % gesunken.

Wie also kommt es zu der Verzerrung in der Wahrnehmung? Es handelt sich um einen statistischen Effekt. Da die in der polizeilichen Kriminalstatistik erfasste Gesamtzahl aller Tatverdächtigen um 9,5 % stärker gesunken ist als die Zahl der tatverdächti gen Kinder, Jugendlichen und Heranwachsenden, ergibt sich rechnerisch der prozentuale Anstieg des Anteils der Kinder und Jugendlichen auf diese in Rede stehenden 36 %.

Es ist mir wie Ihnen völlig klar: Wir haben nach wie vor ein massives Problem mit der Jugendkriminalität. Besonders schlimm ist es, wenn wir das Thema der Gewaltkriminalität betrachten. Aber gerade der Umgan g mit dem vermeintlichen dramatischen Anstieg der Jugendkriminalität zeigt, wie schnell wir inzwischen bereit sind, eine ganze Generation in einen Generalverdacht zu nehmen. Davor möchte ich dringend warnen und bitte Sie alle, nicht zuletzt auch die Medienvertreter und die ältere Generation, dass wir Kinder und Jugendliche nicht zu Monsterkids stilisieren. Ich denke, das wäre in jeder Hinsicht kontraproduktiv.

Die im Bereich der Jugendkriminalität in den vergangenen Jahren erreichten Verbesserungen können nicht so einfach vom Tisch gewischt werden, und wir haben in diesem Bereich etwas erreicht, was sich vorweisen lässt.

In den vergangenen Tagen hat es einige Aufregung um die inhaltlichen Schwerpunkte des Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit gegeben. Die Frage, ob das Bündnis nun allgemein auf Extremismus ausgerichtet werden soll oder ob angesichts der Situation im Land auf eine solche Verwässerung verzichtet werden sollte, ist, denke ich, nicht abschließend erklärt.

(Zuruf des Abgeordneten Prof. Dr. Schumann [PDS])

Aber niemand von uns stellt die Existenz des Aktionsbündnisses infrage. Deshalb bitte ich auch alle Mitglieder dieses Bündnisses, jetzt nicht in einer Verwunderung oder in einer ersten Enttäuschung auszutreten, sondern die weitere Entwicklung, die gemeinsam von diesem Bündnis her gestaltet und die in dieser Mitgliederversammlung entschieden wird, abzuwarten.

(Beifall der Abgeordneten Frau Blechinger [CDU])

Das Aktionsbündnis wird dieselben inhaltlichen Schwerpunkte haben, die es auch bisher hatte. Das hat mein Kollege Herr Schönbohm in seiner Antwort auf die Anfrage des Abgeordneten Schumann auch in der Verabredung. die wir beide schon gemeinsam getroffen haben, so deutlich gemacht.

Und das will ich auch ganz klar sagen: Wir haben in den letzten Monaten mehr und mehr den Eindruck gewonnen, dass der mit dem Handlun gskonzept „Tolerantes Brandenburg" eingeschla

gene Weg richtig ist. Erste Verbesserungen sind schon zu verzeichnen. Gleichwohl haben wir für einen langen Zeitraum noch eine Menge Arbeit und Engagement in der gesamten Breite bitter nötig.

Welche Signale einer positiven Entwicklun g_ gibt es und kann man schon jetzt sehen?

Bei der Entwicklung der Maßnahmen im Rahmen des Handlungskonzepts ist in den letzten Jahren Erstaunliches geschehen. Das, was Sie im Zwischenbericht aus dem Sommer 1999 lesen können, hat sich auch in den vergangenen Monaten weiterentwickelt. Das Mobile Beratungsteam hat seine Arbeit ausgebaut und eine Vielzahl wichtiger Initiativen ergriffen und begleitet. Das Beratungssystem Schule steht jetzt flächendeckend zur Verfügung und entwickelt sich zu einem zentralen Instrument im Umgang von Schule mit dem Problemfeld.

Die in der letzten Woche vom Institut für angewandte Familienund Gesundheitsforschung an der Universität Potsdam vorgestellten ersten Ergebnisse der Studie „Jugend in Brandenburg" 1999 macht auch an einigen Stellen Mut.

Herr Minister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?

Gerne.

Meine Frage kommt etwas spät, ich bin aber nicht daran schuld.

Aus Ihren Ausführungen vorhin entnehme ich, dass Minister Schönbohm und Sie eine abgestimmte fertige Antwort auf meine Dringliche Anfrage haben. Würden Sie mir bitte erklären. warum darum gebeten wurde, diese Antwort morgen früh und nicht heute zu geben?

Das kann ich Ihnen gerne sagen: weil Herr Schönbohm und ich

uns in dieser Frage abstimmen wollten, weil wir beide bisher Mitglieder in diesem Aktionsbündnis gewesen sind und jetzt auch in Abstimmung mit dem Aktionsbündnis dieses Bündnis als Mitglieder verlassen werden und weil wir deshalb eine gemeinsam abgestimmte Antwort geben wollen. Die Abstimmung zu dieser Frage hat bis heute Mittag gedauert. Insofern wird Ihnen, weil wir jetzt keine weitere Fragestunde haben, obwohl ich Ihre Frage gern beantworte, diese Antwort morgen gegeben werden.

Vielen Dank.

Deshalb kenne ich den Text, den Herr Schönbohm heute Mittag mit mir abgestimmt hat, so gut, dass ich schon sagen kann, dass wir in dieser Frage zum jetzigen Zeitpunkt glücklicherweise keinen Dissens mehr haben.

Die Studie von Herrn Sturzbecher macht unmissverständlich deutlich, dass das Niveau von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in unserem Land nach wie vor unerträglich hoch liegt und wir deshalb gemeinsam in den nächsten Jahren dafür Sorge tragen müssen. dass dieser eingeschlagene Weg fortgesetzt wird.

Ich möchte kurz auf die Themen Effizienzkontrolle und Evaluation eingehen. Das war der Auftrag des Landtages, insbesondere in Vorbereitung auf diese Diskussion. Ich meine, dass sowohl das Gutachten der Gesellschaft für praxisorientierte Kriminalitätsforschung als auch das Gutachten von Richard Stöss wichtige Anregungen gibt, die wir in der Kürze der Zeit hier nicht in der notwendigen Vertiefung diskutieren können.

Im vorliegenden Bericht der Landesregierung sind diese beiden Gutachten knapp zusammengefasst. Die Gutachten geben, denke ich, ein realistisches Bild der Möglichkeiten von Effizienzkontrolle und Evaluation, insbesondere dann. wenn Sie den notwendigen Aufwand einer Effizienzkontrolle dem zu erwartenden Nutzen gegenüberstellen. Wichtig sind die Hinweise, die in beiden Gutachten zu sinnvollen Möglichkeiten der Evaluation formuliert werden. Es geht nicht nur um einfache Kosten-Nutzen-Berechnungen, sondern es geht um die prozessbegleitende, qualitative Weiterentwicklung von Maßnahmen der Kriminalitätsprävention und des Handlungskonzeptes „Tolerantes Brandenburg".

In diesem Sinne prüft die Landesregierung, wie durch stärkere Hinzuziehung externen Sachverstandes die Weiterentwicklung des Handlungskonzeptes verbessert werden kann.

Ich schlage vor, dass mein Haus die beiden Gutachten interessierten Ausschüssen des Landtages zur Verfügung stellt. Es wäre wünschenswert, wenn ein gemeinsamer Termin gefunden werden würde, an dem die Vertreter der Ausschüsse mit den Gutachtern über die Ergebnisse und die weiteren Notwendigkeiten intensiv diskutieren können.

Ich freue mich auf diese Diskussion und denke, dass wir für die

weitere Arbeit des Aktionsbündnisses einiges lernen können. - Vielen Dank.

(Beifall bei SPD und CDU)

Ich danke auch. - Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, begrüße ich herzlich Senioren aus Döbbrick. Döbbrick liegt im südöstlichen Teil von Brandenburg. Herzlich willkommen!

(Allgemeiner Beifall)

Das Wort geht an den Abgeordneten Schulze. Er spricht für die SPD-Fraktion.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Besucher! Wir behandeln heute den Bericht der Landesregierung zur Bekämpfung von Jugendkriminalität und Rechtsextremismus. Es bleibt an dieser Stelle schlicht und einfach festzustellen: Es handelt sich in dem Bericht um Maßnahmen, die die Landesregierun g und die Landesbehörden in unserem Auftrag ergriffen haben, um sich mit dieser von einigen als Phänomen, von anderen als Problem betrachteten Sachlage auseinander zu setzen. Ich denke, es ist kein Phänomen, sondern wir haben ein Problem. Auch wenn Herr Minister Reiche anhand von umfassenden Zahlen dargelegt hat, dass es vielleicht einen gewissen Rückgang gibt, sehen ich persönlich und auch die SPD-Fraktion keine Trendwende. Es gibt keinen Grund, in dieser Frage nicht kritisch hinzuschauen. Es gibt keinen Grund zur Entwarnung. Ein Blick in die polizeiliche Kriminalstatistik - sie wurde vor einer Woche veröffentlicht - kann darin nur bestärken.

Als Vorsitzender der Parlamentarischen Kontrollkommission, die sich als Geheimgremium mit vielen Fragen rund um den Rechtsextremismus befasst, kann ich nur sagen: Wir müssen in dieser Frage sehr wachsam sein, damit uns dieses Problem nicht übermannt.

Ich möchte in Erinnerung rufen, dass diese Initiative auf die SPD-Fraktion zurückgeht, die das im Dezember 1998 angestoßen und sich vorher in Arbeitsgruppen sehr lange damit befasst hat. Diese Initiative geht auf die alte Initiative „Innerer Frieden und Innere Sicherheit" des ersten Landtages zurück.

Ich will damit zum Ausdruck bringen, dass wir uns mit diesem Problem seit Jahren beschäftigen und es uns nicht gleichgültig lässt, sondern uns sehr bedrückt. In dieser Frage ist es leider zu einer schweren Rufschädigung des Landes Brandenburg gekommen. Wenn man woandershin geht, dann ist die Frage der Jugendkriminalität und des Rechtsextremismus etwas, was uns immer vorgehalten wird.

Es ist gut, dass wir in dieser Frage nicht nachlassen, dass wir diese Frage durch Diskussionen immer wieder neu beleben. Wir sind bei diesem Thema gut beraten, keine kleinkarierten parteipolitischen Hickhack-Strategien zu fahren, sondern uns darüber im Klaren zu sein, dass sich alle demokratischen Parteien in diesem Landtag zu dieser Frage verantwortlich erklären müssen. Es ist eine Aufgabe, die nicht nur die Parteien

und Politiker. sondern auch die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes berühren muss. Dafür müssen wir noch mehr tun, um mehr Präsenz in dieser Frage zu erreichen und um bei den Bürgerinnen und Bürgern. bei den Familien und bei den Vereinen noch mehr Unterstützung zu bekommen.

Dieser Bericht ist ein Bericht über die Maßnahmen und keine Beschreibung der sehr komplexen und schwierigen Ursachen, die dieses Problem hat. Das muss ich mit aller Deutlichkeit sagen, weil kritisch angemahnt worden ist, dass man sich nicht mit den Ursachen beschäftigt. Das hatten wir nicht verlangt und gefordert. Das kann ein solcher Bericht nicht leisten.

Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht versäumen, darauf hinzuweisen, dass es auch eine Aufgabe für die Familien, für Freunde, für Bekannte, für Nachbarn ist, diejenigen, die davon betroffen sind, nicht allein zu lassen, sondern sie zu unterstützen. Es ist äußerst kompliziert, Jugendliche. die in ein solch schwieriges Fahrwasser geraten sind. herauszubekommen.

Im Übrigen betrifft es nicht gesellschaftliche Randgruppen. Wenn man genau hinschaut und die entsprechenden Täter oder Jugendlichen kennt, weiß man, dass es insbesondere Jugendliche aus unbescholtenen Familien sind, und man fragt sich, wie das passieren konnte.

Insofern sind die Familien und die Freunde gefordert, sich darum zu kümmern und die Familien zu unterstützen. Das möchte ich mit aller Deutlichkeit betonen.

Für diejenigen Damen und Herren, vor allen Din gen bei den Besucherinnen und Besuchern, die den Bericht nicht kennen, möchte ich zum Ausdruck bringen, dass in ihm eine un glaubliche Vielfalt von Maßnahmen genannt wird, über Maßnahmen der Justiz, durch Schnellverfahren der Täter habhaft zu werden - es wird oft gesagt, dass die Strafe auf dem Fuße folgen muss über Maßnahmen der Polizei, aber auch über Maßnahmen im öffentlichen Leben.

Leider - das ist mehrfach angesprochen worden - hat es in den letzten Tagen sehr unangenehme Auffälligkeiten rund um das Aktionsbündnis gegeben. die ich aufs Schärfste kritisieren möchte. Das kann so nicht hingenommen werden. Das darf nicht noch einmal passieren. Unverständlich ist die geringe gesellschaftspolitische Präsenz im Vergleich zu anderen Themen, wie zum Beispiel zur Abwasserproblematik.