Protokoll der Sitzung vom 09.11.2005

Frau Ministerin, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, sagen zu können: Brandenburg hat ein familienund kinderpolitisches Programm. Am 18. Oktober beschloss das Kabinett die „Brandenburger Entscheidung: Familien und Kinder haben Vorrang!“, ein Programm für Familien- und Kinderfreundlichkeit. Damit haben wir jetzt die Leitlinie und kennen die Richtung, in die wir gehen werden. Es ist klar, dass dies alles mit konkreten Maßnahmen untersetzt werden muss; dies zu tun haben wir uns bis zum Jahresende vorgenommen.

Die Landesregierung wurde beauftragt, dem Parlament bis zum Jahresende einen konkreten Maßnahmenkatalog vorzulegen. Wir arbeiten an solchen Maßnahmen, die bestehende optimieren und neue für ein kinder- und familienfreundliches Brandenburg sein werden. Darin fließen auch die Ideen und Anregungen aus der Familienkonferenz am 25. Oktober ein, an der viele von Ihnen teilgenommen haben.

Wir wollen, dass Brandenburg im 21. Jahrhundert für seine Einwohner und Einwohnerinnen ein besonders lebenswertes Land ist. Wer das will, der muss die Menschen dafür fit machen und vor allem die Familien stärken. Familien sind Leistungsträger der Gesellschaft - sie stabilisieren unser Gemeinwesen - und die Zukunft unseres Landes. Sozial funktionierende, wirtschaftlich starke Gemeinden und Städte kann es nur geben, wenn es uns gelingt, den Zusammenhalt in den Familien zu stärken und für mehr Generationengerechtigkeit zu sorgen. Kinderfreundlichkeit, aber auch die Sorge um die Älteren sowie eine stark ausgeprägte Erziehungsverantwortung der Eltern sind die Schlüssel, um diese Prozesse auch unter komplizierten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen lenken zu können.

Allein das, was uns in demografischer Hinsicht erwartet, wird uns in einer Weise herausfordern, die es in der Geschichte noch nie gab. Steigende Lebenserwartung - wir werden immer älter -, heftige Wanderungsbewegungen, niedrige Geburtenzahlen, knapper werdende öffentliche Mittel, in der Folge der Umbau der sozialen Sicherungssysteme, all das verlangt zwingend neues Überlegen für die Ausgestaltung familienfreundlicher Regionen. Mit den herkömmlichen politischen Routinen wird dies nicht mehr zu beherrschen sein.

Ich erinnere auch an die Präambel des Koalitionsvertrages, in der es unter anderem heißt:

„An den Zukunfts- und Bildungschancen unserer Kinder und Enkel entscheidet sich das Schicksal unseres Landes insgesamt.“

Diese simple Wahrheit muss in die Köpfe der Menschen, noch besser aber in ihre Herzen. Erst kürzlich haben wir auf dem Familienkongress gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten und mit sehr vielen Partnern aus dem Land darüber diskutiert. Es ist mir wichtig, dass wir uns der großen Chancen und des großen Glücks eines Lebens mit Kindern bewusst sind und uns dessen gesellschaftlich stärker bewusst werden. Das sage ich nicht nur als Familienministerin, sondern auch als Mutter zweier Kinder. Dabei plädiere ich seit langem und auch heute wieder für einen Wertewandel in der Gesellschaft. Kinder müssen als selbstverständlicher Teil unseres Lebens gesehen werden. Die Großfamilie am Strand darf nicht scheel angesehen, die Mutter mit drei oder vier Kindern beruflich nicht ausgegrenzt werden. Kinder gehören selbstverständlich zu uns und dürfen niemals als Belastung, als Mühsal, als berufliches Hemmnis empfunden werden.

Die gesellschaftliche Realität stimmt uns aber oftmals traurig. International sind wir eines der kinderärmsten Länder überhaupt und innerhalb Deutschlands zählt Brandenburg zu den kinderärmsten Bundesländern. Auch wenn wir die vielen individuellen und manchmal auch gesellschaftlich bedingten Gründe respektieren müssen, möchte man den jungen Menschen zurufen: Sorgt für mehr Kinder!

(Bochow [SPD]: Kein Problem!)

Natürlich ist diese Aufforderung nur die eine Seite der Medaille, liebe Abgeordnete. Umfragen zeigen, dass viel mehr Kinder gewünscht werden, Herr Bochow, als dann tatsächlich geboren werden. Das heißt, Kinderwünsche müssen auch erfüllbar werden. Kommen nämlich die richtigen Partner zusammen, werden Arbeit und Einkommen zu den wichtigsten Faktoren bei der Entscheidung für oder gegen ein Kind oder ein weiteres Kind.

Fakt ist: Obwohl sich die Einkommen von Familien in den letzten Jahren erhöht haben, verfügt jede neunte Familie mit Kindern in Deutschland über weniger als 900 Euro Haushaltseinkommen im Monat. Fast ein Viertel aller Familien hat weniger als 1 300 Euro zur Verfügung. Wächst die Zahl der Kinder, steigen die Aufwendungen deutlich. Je mehr Kinder also im Haushalt leben, desto schwieriger kann die finanzielle Lage einer Familie werden. Arbeitslosigkeit verschärft dies noch einmal zusätzlich; auch die gesellschaftliche Teilhabe solcher Familien wird geringer. Wie dies zu ändern ist, darüber wird in den gegenwärtigen Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene ebenfalls gerungen. Ich bin gespannt, was uns am Ende dieser Woche auf den Tisch flattern wird.

Sorgen muss uns auch die anhaltende Abwanderung junger Menschen, vor allen Dingen gut ausgebildeter junger Frauen machen. Unter den 28 600 jungen Leuten zwischen 18 und 25 Jahren, die von 1999 bis 2002 Brandenburg den Rücken kehrten, waren 17 700 Frauen. Das schwächt Brandenburg sowohl beschäftigungspolitisch als auch bevölkerungspolitisch enorm, denn wir verlieren nicht nur gut ausgebildete Nachwuchskräfte, sondern eben auch potenzielle Mütter. Neueste Prognosen besagen, dass bis 2020 in Brandenburg gegenüber heute 43 % weniger Frauen zwischen 20 und 30 Jahren leben werden. Das heißt, die nächste Elterngeneration wird damit noch kleiner.

Das alles sind keine Signale mehr; das sind überdeutliche Aufforderungen zum Handeln. Sicherer Arbeitsplatz, ausreichen

des Einkommen, gute Ausbildung und berufliche Perspektiven - solche Bedingungen entscheiden darüber, ob jemand im Land bleibt und hier eine Familie gründet oder aber geht.

(Unruhe - Glocke der Präsidentin)

- Es ist beruhigend, Frau Präsidentin, dass die Abgeordneten auch sterben werden, irgendwann; dann wird es still.

(Beifall des Abgeordneten von Arnim [CDU])

Es ist beruhigend, weil dann die Stille vorherrschen wird. Ich wünsche mir gerade für dieses Thema mehr Aufmerksamkeit, denn es geht uns alle und unsere Enkel und Urenkel an.

Dabei wollte ich Sie unterstützen, Frau Ministerin.

(Vereinzelt Beifall bei SPD, CDU und der Linkspar- tei.PDS)

Tatsache ist: Hierzulande wollen die meisten jungen Frauen und Männer arbeiten und eine Familie mit Kindern haben. Anders als vielleicht in den westlichen Bundesländern wollen die Frauen ganztags arbeiten.

Gestern hatten wir in unserem Haus eine Auswertung vom Familienatlas prognos. Wenn so etwas bei den Abgeordneten landet, lohnt sich eine Diskussion darüber, wer solche Atlanten und Diskussionsgrundlagen mit welchem gesellschaftlichen Hintergrund erstellt. Es war eine spannende Diskussion. Jedoch mussten wir am Ende feststellen, dass uns dieser Familienatlas keine Handlungsempfehlung gibt und uns in der Politik nicht hilft.

Die Familien wollen den Erfolg im Beruf und ein Leben mit Kindern vereinbaren, was ein schwieriger Balanceakt ist. Das wissen alle, die tätig sind. Deshalb ist die gesellschaftliche Unterstützung umso wichtiger.

Der Ministerpräsident sagte auf der Familienkonferenz:

„Wer will, dass die Menschen in unserem Land so leben können, wie sie selbst gern leben wollen, der muss die Voraussetzungen dafür schaffen und verbessern, dass in Brandenburg wieder mehr Familien gegründet werden und mehr Kinderwünsche in Erfüllung gehen.“

Genau das hat sich die Landesregierung auch vorgenommen. Wir spiegeln diese kinder- und familienpolitische Bedeutung in den verschiedensten Förderprogrammen wider. Ich denke an die Wohnungsbauförderung, die Förderung der Verkehrsinfrastruktur, die Sportförderung, die Förderung von kulturellen, musischen oder kulturpädagogischen Angeboten. Aber auch schon fast klassisch zu nennende Leistungen wie die Familienerholung, die Familienbildung oder die Förderung von Beratung und Hilfe in besonderen Lebenslagen gehören dazu.

Familien- und Kinderpolitik muss als Querschnittsaufgabe verstanden und realisiert werden. Das ist nicht nur per Beschluss der Landesregierung oder des Parlaments machbar. Die Akteu

re sind im Bund, in den Ländern und Kommunen und viele gesellschaftliche Kräfte wie die Wirtschaft, die Sozialpartner, die Freie Wohlfahrtspflege, die Kirchen und die Familien selbst. Wir alle sind betroffen.

Meine Damen und Herren, die Leitlinien bringen uns ein großes Stück weiter im Bemühen, Familienfreundlichkeit erlebbar und unser Land zukunftsfester zu machen. Das kann man im Programm konkret nachlesen. Kein Gesetz kann das allein regeln. Es muss in den Regionen umgesetzt und gelebt werden.

Eines der Ziele möchte ich herausgreifen: Freude mit Kindern und Familie - Familienpolitik aus einem Guss. Wir sind uns wohl einig darüber, dass eine Gesellschaft erst dann lebendig und zukunftsfähig ist, wenn Kinder ganz selbstverständlich dazu gehören. Einen solchen Mentalitätswandel müssen wir in Brandenburg bei den Menschen, in der Wirtschaft und auch in der Politik hinbekommen. Unternehmen und ihre Verbände müssen erkennen - sie erkennen es auch zunehmend -, dass Familienpolitik ein die Wirtschaft stabilisierender Faktor ist. Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit, von Privatem und Arbeit wird zunehmend zu einem wichtigen Wachstums- und Standortfaktor. Das Prädikat „familienfreundliches Unternehmen“ trägt sehr zum Image des Unternehmens bei.

Schließlich darf Familienpolitik nicht mehr ausschließlich als finanzielle Transferpolitik verstanden oder als spezifische Ressortpolitik angesehen werden. Unter anderem brauchen die zunehmende Verteilung der Zuständigkeiten auf Ebene des Bundes, des Landes und der Kreise und unsere prekäre Lage der öffentlichen Haushalte überall mehr Zusammenwirken und Vernetzung.

Wir haben in Finnland erlebt, wie solche Systeme wie Kitas, Schulen, Gesundheitsämter, Krankenkassen, Jugendämter, Schulämter sowie Hebammen und Kinderärzte zu einem produktiven Netz für Familien verbunden werden können, wenn man es nur will.

Gerade Eltern, die Hilfe am dringendsten benötigen, bleiben oft außen vor. Ich denke, dass regionale Netzwerke, die Familien unterstützen, dort eine gute Prävention sind.

Die kommunalen Zuständigkeiten sollen somit in gesundheitlicher, erzieherischer und sozialer Hinsicht gebündelt wahrgenommen werden. Dazu gehört die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und damit auch häufig gegen Kinder. Deshalb unterstütze ich als weiteres landespolitisches Ziel bedingungslos Maßnahmen für ein gesundes und gewaltfreies Lebensumfeld für die Familien.

Der Förderung der gesundheitlich-sozialen Entwicklung von Kindern in den ersten Lebensjahren widmet sich auch das geplante Projekt „Niederlausitzer Netzwerk - gesunde Kinder“, das beispielgebend wirken soll. In Trägerschaft des Klinikums Niederlausitz entsteht ein regionales Netzwerk, das gerade Familien in schlechteren sozialen Lagen erreichen und Gesundheitsrisiken der Kinder verhindern soll. Der Einsatz familienbegleitender Paten sowie spezielle Angebote für Familien mit besonderen Risiken ergänzen diese Netzwerksarbeit. Genau darum geht es bei uns und ich verspreche mir sehr viel davon.

Mit einem auf der Familienkonferenz geäußerten Gedanken möchte ich schließen. Familienpolitische Maßnahmen müssen nicht immer viel kosten. Das sagt uns auch das Projekt in

Lauchhammer. Wir haben herausgearbeitet, dass jeder im Rahmen seiner politischen Verantwortung, seines Wirkungskreises - ob im Land oder in der Kommune - noch einmal die Lupe auf die dort getroffenen Beschlüsse legt: Was sagt es uns unter dem Gesichtspunkt „Familienfreundlichkeit“?

Die Ziele sind formuliert, die Maßnahmen werden sie untersetzen. Jedoch wissen wir auch, dass das Ganze ein Prozess ist, der sich den jeweiligen Bedingungen der Gesellschaft anpassen muss. Das heißt, wir sprechen öfter darüber. Vielleicht hören Sie das nächste Mal auch besser zu. - Vielen Dank.

(Allgemeiner Beifall)

Recht herzlichen Dank, Frau Ministerin. - Für die Fraktion der Linkspartei.PDS hat die Abgeordnete Kaiser das Wort.

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin! Das Land soll besonders kinder- und familienfreundlich werden. Konsens ist: Wir sind es nicht. Ganz Deutschland ist es nicht. Der EKD-Ratsvorsitzende Bischof Huber erklärte erst letzten Sonntag: Die Lage der Familien in Deutschland ist dramatisch. Den Menschen müsse das Ja zur Familie durch die Politik erleichtert werden. Und: Einzelmaßnahmen wie bessere Betreuungsangebote reichten allein nicht aus.

Familien und Kinder sollen nun in Brandenburg Vorrang haben. Wer wollte sich einem solchen Anspruch verweigern? Niemand in diesem Parlament und niemand im Land, vermute ich. Die Linkspartei jedenfalls nicht.

Auf Seite 4 des vorliegenden Programms wird festgestellt: Die Landesregierung nimmt ihre Verantwortung wahr, indem sie bundespolitischen Einfluss geltend macht, auf Landesebene die Rahmenbedingungen für Kinder und Familien verbessert und die kommunale Familienpolitik gezielt unterstützt.

Meine Fraktion fragt sich nun heftig, ob mit der letztgenannten Unterstützung wohl die kommunalen Entlastungsgesetze mit Kürzungen bei Kita-Rechtsanspruch, Schülerbeförderung und Reihenuntersuchungen oder die Schließung von Schulstandorten über den Hebel Personalpolitik gemeint sind. Meinen Sie, die Kürzungen - früher im GFG, nun im FAG, das heißt also minus 50 Millionen Euro 2006 - wirken für die Kommunen unterstützend? Vielleicht die Absenkung des Landesjugendplans von 13 auf zehn Millionen Euro? Die Beschneidung des 610-Stellen-Programms um 100 Stellen?

Oder Stichwort „Streichung des § 16 a Gemeindefinanzierungsgesetz“. Man beschwor im vorliegenden Text einerseits die innerfamiliäre Solidarität bei der Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger als Idealbild. War es aber nicht die Mehrheit in diesem Parlament - gewollt von der Regierung -, die sich andererseits dagegen entschied, notwendige, unterstützende und ergänzende Angebote nicht mehr zu fördern?

Erinnern Sie sich noch, verehrte Kolleginnen und Kollegen, an die Abfuhr, welche die Familienverbände in der letzten Haushaltsdebatte erhielten, als sie so dringend darum baten, Möglichkeiten für niedrigschwellige Familienbildung zu verbessern?

Dennoch nehmen wir Sie, Frau Ministerin, und den Ministerpräsidenten beim Wort, der mit einer fulminanten Rede auf der Familienkonferenz in Potsdam dieses Programm der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Sie wissen, mit einem überzeugenden Programm hätten Sie uns an Ihrer Seite. Wir sehen die Worte. Wir sehen aber auch die Taten der letzten Jahre und Tage.

Die vorliegende Drucksache - also Ihre Worte - heißt zwar Programm, ist jedoch keines. Es ist auch kein Bericht, sondern höchstens die allgemeine Vorstellung davon, wie ein familienund kinderfreundliches Brandenburg aussehen könnte.

Unter II werfen Sie bekannte Fragen und Probleme auf und benennen ausgewählte Fakten. Aber was davon haben Sie in den letzen Jahren wirklich aufgegriffen? Was verändert? Was bewirkt?