Protokoll der Sitzung vom 14.12.2005

Diese kleine Anekdote hat zwei Facetten. Es handelt sich um einen fast 100 Jahre alten Familienbetrieb, in dem es zu DDRZeiten 15 Mitarbeiter gab. Der Bäckermeister schilderte, die Menschen hätten damals freitagnachmittags bis Betriebsende angestanden, um in seiner Bäckerei Brot und Brötchen zu kaufen. Dieser Betrieb hat sich inzwischen zu einem mittelständischen Unternehmen mit 650 Mitarbeitern entwickelt. Das ist eine Erfolgsgeschichte, wie es viele gibt. Darauf können wir Brandenburger stolz sein.

Die zweite Facette: Im Land zeichnet sich ein Fachkräftemangel ab; der Bäckermeister bekommt ihn deutlich zu spüren. Die Experten sagen für ganz Deutschland, insbesondere jedoch für Ostdeutschland und damit auch für Brandenburg voraus, dass in den nächsten fünf Jahren 100 000 und in den darauf folgenden fünf Jahren noch einmal 100 000 Fachkräfte gebraucht werden. Diese Entwicklung hat eine Ursache in der sich wandelnden Bevölkerungsstruktur. Seit der Wende beobachten wir - gerade im Osten Deutschlands - niedrige Geburtenraten und sehr starke Wanderungsbewegungen in die Zentren, vor allem jedoch nach Westdeutschland.

Gleichzeitig werden die Menschen immer älter. Einerseits freuen wir uns darüber, andererseits stellt es die Gesellschaft jedoch vor eine große Herausforderung. Dieser demografische Wandel prägt die Gesellschaft bereits heute in vielen Bereichen. Vor allem die Bereiche Wachstum, Wirtschaft und Arbeitsmarkt haben viel mit der sich wandelnden Bevölkerungsstruktur zu tun. Das zeigt auch das Beispiel von Bäckermeister Dreißig in der Lausitz. Bis heute ist den Menschen dieser Prozess nicht bewusst. In der Politik galt die Bevölkerungsentwicklung lange Zeit als Tabuthema, mit dem man keine Wahlen gewinnen und keine Lorbeeren ernten konnte, mit dem man eher Frustration ausgelöst hat. Darum wurde es jahrzehntelang ignoriert; das ist besonders für den Rentenbereich dramatisch.

Zweifelsohne ist es ein Verdienst von Matthias Platzeck und der Brandenburger SPD, eine ehrliche Demografiedebatte angestoßen zu haben. Wir haben dieses Thema nach ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt, denn wir sind überzeugt: Nur wenn wir die Menschen mitnehmen und ihnen zeigen, in welchen Problemregionen sie arbeiten, leben und klarkommen müssen, werden sie bereit sein, notwendige Veränderungen

mitzutragen. Wir wollen Brandenburg gemeinsam mit den Menschen gestalten und erneuern.

(Beifall bei der SPD)

Seitdem in Brandenburg über die Herausforderungen der Zukunft offen gesprochen wird, entwickelt sich eine Haltung des Zupackens. Das ist sehr viel mehr wert als so manches Förderprogramm. Die Deutschen klagen zu viel. Wir klagen über die Globalisierung, den Niedergang der Industrien und das Bildungssystem, ohne den Versuch zu unternehmen, aus dem, was wir haben, das Beste zu machen. Als Beispiel führe ich die EUDienstleistungsrichtlinie an. Ich hatte vor kurzem Gelegenheit, mit Menschen aus Norwegen und Finnland - beides Hochlohnländer - zu reden. Sie akzeptieren die EU-Dienstleistungsrichtlinie in der Urfassung und sagen: Wir wollen, dass unsere Leute eine Chance haben, im Ausland zu arbeiten, und zwar unter den Bedingungen, die im eigenen Land gelten. - Wir jammern, und dort geht man in die Offensive. Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass man im Einzelfall klagt und jammert, aber wer immer nur jammert, lähmt sich und wirkt ängstlich. Angst ist aber ein schlechter Ratgeber.

Die Demografiedebatte und der damit verbundene Lernprozess haben ein gutes Stück dazu beigetragen, dass wir Brandenburgerinnen und Brandenburger weniger jammern. Wir handeln und nehmen unsere Zukunft in die Hand. Die Neuausrichtung der Förderpolitik, die Matthias Platzeck heute dargelegt hat, geht direkt auf diesen Lernprozess zurück.

Bislang hatten wir eine Wirtschaftspolitik nach dem Prinzip der Gießkanne. Es gab nur wenige Schwerpunkte und Akzente.

(Vietze [Die Linkspartei.PDS]: Wer hat dieses Prinzip be- schlossen? Welche Regierung war das?)

- Herr Vietze, wo sind Sie denn zur Schule gegangen? Haben Sie nie gelernt, dass man zuhört und sich dann gegebenenfalls im Anschluss äußert?

(Vietze [Die Linkspartei.PDS]: Herr Baaske, Sie spre- chen vom Prinzip der Gießkanne! Ich frage Sie: Wer hat dieses Prinzip in diesem Landtag beschlossen?)

Herr Vietze, Ihrer Fraktion stehen noch neun Minuten und sechs Sekunden Redezeit zu. Jetzt spricht Herr Baaske.

Überall im Land gab es damals einen riesengroßen Nachholbedarf. Darum war das Gießkannenprinzip seinerzeit nicht falsch, Herr Vietze. Wer hätte denn damals sagen wollen, wo sich welche Branche entwickelt und wo sich Schwerpunkte herausbilden? Es wäre doch klugscheißerisch gewesen, mit Vorahnungen daherzukommen und heute zu sagen: Wir haben alles vorausgesehen.

(Beifall bei der SPD)

Heute herrschen andere Rahmenbedingungen als damals. In Brandenburg haben sich mittlerweile Regionen und Branchen mit besonders großen Potenzialen herausgebildet. Außerdem

muss Brandenburg in Zukunft mit immer weniger Haushaltsmitteln auskommen. Die EU-Fördermittel, die GA-Förderung und auch die Solidarpaktmittel werden zurückgehen und wir werden insgesamt weniger Haushaltsmittel zur Verfügung haben.

Noch etwas gibt Anlass für die Neuausrichtung: Es ist bei uns nicht nur eine Abwanderung der Bevölkerung in andere Bundesländer zu verzeichnen, sondern auch eine Binnenwanderung. Es ist eine Abwanderung in die Zentren - nicht nur in den Speckgürtel um Berlin - zu beobachten.

Mit dem neuen Leitbild unserer Förderpolitik reagieren wir auf diese Herausforderungen. Es geht darum, die vorhandenen Mittel optimal zu verwenden und dort Impulse zu setzen, wo mittelfristig Arbeitsplätze und Wachstum entstehen können. Wir stärken unsere Stärken und zugleich wollen wir das gesamte System vereinfachen.

Herr Vietze, Frau Kaiser, Frau Hesselbarth, offenbar hat die Opposition nicht verstanden, was wir vorhaben. Darum will ich es kurz erläutern.

(Vietze [Die Linkspartei.PDS]: Einige Mitglieder der Ko- alitionsfraktion haben es auch nicht verstanden!)

- Doch, ich denke schon. - Das Kabinett hat im Rahmen der neuen Förderstrategie 15 regionale Wachstumskerne ausgewählt. Das sind einzelne Städte und Städteverbünde. Künftig werden alle Ressorts der Landesregierung diese Wachstumskerne dabei unterstützen, ihre wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Potenziale zu entfalten. Die wirtschaftspolitischen Förderprogramme der Landesregierung konzentrieren sich dann ganz besonders auf diese Wachstumskerne. Die Mittel werden also räumlich gebündelt.

Daneben wird die Investitionsförderung in Zukunft auf bestimmte Branchen fokussiert. Wir haben 16 Schwerpunktbranchen mit sehr hohen Entwicklungspotenzialen identifiziert. Investitionen von Unternehmen in diesen Branchen wollen wir intensiv fördern, insbesondere dann, wenn sie an ausgewählten Schwerpunktorten erfolgen. So sollen regionale Unternehmensnetzwerke entstehen. Diese werden zum einen Synergieeffekte erzeugen und zum anderen dafür sorgen - der Ministerpräsident hat das vorhin schon angesprochen -, dass die Unternehmen das Land nicht ohne weiteres verlassen können, weil sie fest in Strukturen eingebunden sind, die sie andernorts so nicht vorfinden werden.

Neben der Neuausrichtung der Förderstrategie verbessert das Land Brandenburg die wirtschaftliche Entwicklung mit drei weiteren Maßnahmen; nur diese drei will ich hier nennen. Erstens: ein Wachstumsprogramm für den Brandenburger Mittelstand. Dieser ist zweifelsohne das Rückgrat der Wirtschaft. Das Programm fördert kleinere und mittlere Unternehmen unabhängig von Ort und Branche, und zwar wesentlich unbürokratischer, als es bisher der Fall ist.

Zweitens: Berlin und Brandenburg werden das System der Landesplanung überarbeiten und - wie ich hoffe - erheblich vereinfachen. Berücksichtigt werden sollen insbesondere die Bevölkerungsentwicklung, aber auch die wirtschaftlichen und finanziellen Rahmenbedingungen. So wollen wir die europäische Metropolenregion Berlin-Brandenburg entwickeln.

Drittens: Wir werden Bürokratie abbauen, wie Kollege Lunacek bereits erläutert hat. In der Tat hat sich in den letzten 15 Jahren einiges angesammelt, was überprüft und gegebenenfalls über den Haufen geworfen werden muss. Herr Lunacek hat sich vorhin bei den Ministern bedankt. Das möchte ich an dieser Stelle nicht tun, denn es ist ja ihre Aufgabe, einen Beitrag zum Bürokratieabbau zu leisten. Ich möchte mich bei dem Ausschuss um Tina Fischer bedanken. Sie investieren viel Kraft in diese Arbeit und ich weiß, dass das nicht immer einfach ist.

(Beifall bei SPD und CDU)

Die neu ausgerichtete Wirtschaftsförderung ist eine notwendige und ehrliche Politik. Es ist aber auch - das haben wir bei Diskussionen im Land erfahren - eine mutige Politik. Sie berücksichtigt Entwicklungen der Zukunft, setzt Prioritäten und verfolgt eine nachvollziehbare Logik. Sie gibt damit den wirtschaftlichen Akteuren im Land eine klare Orientierung.

Unser Strategiewechsel verdeutlicht, wie sehr Brandenburg in Bewegung ist. Hier entwickeln sich neue Chancen und Freiräume für wirtschaftliche Aktivität, Kreativität und Innovation. Nur durch diese Bewegung werden wir auch den eingangs beschriebenen Fachkräftemangel in den Griff bekommen. Die Schülerinnen und Schüler, aber auch die ausgebildeten jungen Fachkräfte müssen spüren, dass und wo sie in diesem Land Chancen haben. Ich spreche oft mit Schülern der 9. oder 10. Klasse und erlebe, dass sie resigniert haben. Sie wissen überhaupt nicht, dass wir im technischen Bereich dringend Fachkräfte suchen. Oftmals erlebe ich, dass sie gar keine Vorstellung von dem haben, was die brandenburgische Wirtschaft mit ihnen anfangen könnte - wenn sie denn da wären.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)

Ich erwarte, dass die Neuausrichtung der Wirtschaftsförderung auch ein sich selbst verstärkender Prozess wird und dass dieser auch gute Menschen anlockt, dass gute Menschen dann ins Land kommen und wiederum die Wirtschaft stärken und zu mehr Wachstum beitragen.

Diese Ausrichtung der Förderpolitik wurde vorhin durch die Fraktion der Linkspartei.PDS noch einmal massiv kritisiert. Sie glaubt, dass strukturschwache Regionen abgehängt und durch die neue Strategie ins Abseits gedrängt werden. Ich möchte dazu einmal Frau Enkelmann zitieren, die auf der Homepage der PDS Potsdam prophezeit:

„Viele Regionen werden noch schneller abgehängt, als dies jetzt schon der Fall ist.“

Diesen Satz sollte man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: „Viele Regionen werden noch schneller abgehängt, als dies jetzt schon der Fall ist.“ Das heißt also, das von Ihnen befürwortete Gießkannenprinzip, das wir ja jetzt haben, sorgt dafür, dass es diesen Niedergang gibt, und man könne ihn wohl nicht aufhalten. Das unterstellen Sie.

(Frau Kaiser [Die Linkspartei.PDS]: Das stimmt doch gar nicht!)

Ich sage: Genau das ist eben nicht der Fall. Erstens gibt es keinen Niedergang - das werde ich noch einmal darlegen - und zweitens wollen wir aus den Erfahrungen der letzten 15 Jahre,

in denen wir nach dem alten Prinzip verfahren sind, logische Schlussfolgerungen ziehen und die vorhandenen Strukturen entsprechend ändern.

(Zuruf der Abgeordneten Kaiser [Die Linkspartei.PDS] - Frau Kaiser, jetzt fangen Sie an dazwischenzurufen. Vorhin, als Sie geredet haben, habe ich kein Wort gesagt, sondern auf die Uhr geschaut und mich gefragt: Wann kommt Frau Kaiser denn endlich einmal mit ihrem Konzept? (Beifall bei der SPD)

Ich habe gesehen, dass Herr Christoffers nach vorn gekommen ist. Vielleicht hat er gefragt, wie viel Redezeit ihre Fraktion noch hat. Sie haben noch neun Minuten. Wenn Sie jetzt in neun Minuten ein Konzept wie Kai aus der Kiste zaubern, kann es aber auch nicht weit damit her sein.

(Lachen und Zurufe bei der Linkspartei.PDS)

Im Übrigen sind Sie bei der Kritik, die Sie vorgebracht haben, sehr widersprüchlich. Zum einen sagen Sie, die Entscheidung komme viel zu spät, andere Länder seien schon viel weiter. Danach kommen Sie daher und sagen: Ja, aber wollten wir nicht noch eine Weile diskutieren? - Sie haben dem Ministerpräsidenten am 17. November geschrieben, haben angeblich keine Antwort bekommen. Also wissen Sie: Zum einen haben Sie die Antwort noch im November vom CdS bekommen, und zwar schriftlich; lesen müssen Sie sie aber schon.

(Zuruf von der Linkspartei.PDS: Da steht doch nichts drin!)

Aber den Brief haben Sie doch bekommen. - Zum anderen steht in diesem Brief sehr klar, dass wir eben jetzt entscheiden müssen, und zwar unter anderem wegen der neuen EU-Förderperiode.

(Unruhe bei der Linkspartei.PDS)

Wir können leider nicht immer warten, bis die Fraktion der Linkspartei.PDS so weit ist - mit Verlaub! Meine Fraktionskollegen und ich diskutieren diesen Prozess seit Februar überall im Lande. Wenn Sie es nicht tun, bitte schön; dann liegt es aber nicht an uns.

(Starker Widerspruch bei der Linkspartei.PDS)

Es stimmt schlicht und ergreifend nicht, wenn Sie sagen, dass in diesem Land nichts passiert ist.

(Frau Kaiser [Die Linkspartei.PDS]: Das haben wir gar nicht gesagt!)

Es stimmt doch einfach nicht, dass wir hier einen puren Niedergang oder Ähnliches erleben.

(Frau Kaiser [Die Linkspartei.PDS]: Das habe ich nicht gesagt!)

- Natürlich haben Sie das gesagt. Sie haben doch alles schlechtgeredet, was in den letzten Jahren hier passiert ist.