Protokoll der Sitzung vom 25.01.2006

Für die Landesregierung spricht jetzt Ministerin Ziegler.

Herr Präsident! Sehr verehrte Abgeordnete! Es ist äußerst wichtig, dass wir uns in einer Aktuellen Stunde mit diesem Thema, über das bundesweit diskutiert wird, beschäftigen. Die Fälle von Kindesmissbrauch, Kindesmisshandlung und andere schreckliche Fälle, die nicht nur unseren Verstand beschäftigt, sondern uns auch zu Herzen gegangen sind, nötigen uns geradezu dazu, darüber auch über Fraktions- und Parteigrenzen hinweg zu diskutieren. Aus diesem Grunde bin ich der CDUFraktion sehr dankbar dafür, dass sie dieses Thema für die heutige Aktuelle Stunde gewählt hat.

Ich stimme der Vertreterin der CDU-Fraktion ausdrücklich zu, wenn sie sagt, dass viele Familien in unserem Lande Hilfe und Unterstützung brauchen und dass das Land handeln muss, indem es konkrete Hilfen auf den Weg bringt, die bei den Familien ankommen.

Natürlich darf das verfassungsrechtlich garantierte Elternrecht nicht unterminiert oder ausgehebelt werden. Darüber sind wir uns einig. Wir sind uns aber auch darüber einig, dass dort, wo die Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Pflichten versagen, das Kinderrecht Vorrang haben muss.

(Beifall der Abgeordneten Hartfelder [CDU])

Das Grundgesetz gibt dazu alle Möglichkeiten.

In den Ländern sollte - über die bestehenden Gesetze hinaus darüber nachgedacht werden, was im Rahmen der eigenen Verantwortung notwendig und möglich ist. Ich denke zum Beispiel an den öffentlichen Gesundheitsdienst. Es ist zu prüfen, wie man mit eigenen Maßnahmen allen Kindern ein gesundes Aufwachsen ermöglichen kann.

Das Thema berührt uns im doppelten Sinne. Es gibt auf Bundes- und Länderebene stringente Gesetze zum Kinderschutz

sowie zu den Modalitäten von Früherkennung und Pflichtuntersuchungen. Es gibt auch ein gut ausgebautes und funktionierendes Frühwarnsystem über den ÖGD, die Jugendämter, die Kirchen, die sozialen Einrichtungen und Organisationen. Probleme und Missstände können dort zwar frühzeitig erkannt und behandelt werden, allerdings können nicht alle Menschen erreicht und nicht alles kann erkannt werden. Darum wiederhole ich: Die Kultur des Hinschauens muss greifen. Ich werde am Ende dazu noch etwas Konkretes sagen.

Wir wissen, dass viel zu viel übersehen wird. Die verwahrlosten Kinder werden aus den verschiedensten Gründen nicht wahrgenommen. An dieser Stelle muss den Menschen der Rücken gestärkt werden. Sie müssen ermuntert werden, sich zu melden. Auffälligkeiten zu erkennen und Hilfe zu suchen hat nichts mit Denunziantentum zu tun. Lieber einmal etwas falsch gedeutet - das sich im Nachhinein als haltlos erweist -, als einmal zu wenig hingeschaut.

(Beifall bei SPD, CDU und Linkspartei.PDS)

Hinschauen und sich interessieren, vielleicht auch Hilfe anbieten, ist nötig, weil unsere Hilfesysteme an ihre Grenzen stoßen und die Problemfamilien häufig nicht erreicht werden. Wir wissen, dass manche Familien die angebotenen Hilfen ganz bewusst ablehnen. In diesen Fällen ist es für uns fast unmöglich, an sie heranzukommen. Deshalb fordern wir, die Augen offen zu halten, damit Vernachlässigungen, Misshandlungen und Missbrauch frühzeitiger erkannt werden. Das gilt für Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen und Lehrer, Ärzte, Nachbarn, für uns alle.

Ich plädiere nachdrücklich dafür, umgehend zu prüfen, ob die Früherkennungsuntersuchungen nach dem SGB V ein ausreichendes und geeignetes Instrument sind, um Vernachlässigungen und Misshandlungen rechtzeitig zu erkennen bzw. auszuschließen. Das wird noch zu diskutieren sein. Ich will dem morgen zu behandelnden Antrag von SPD und CDU nicht vorgreifen, aber so viel schon sagen: Prävention und Früherkennung dürfen sich nicht auf die kinderärztlichen Pflichtuntersuchungen im zweiten, vierten und sechsten Lebensjahr beschränken. Prävention muss bereits mit der Schwangerschaft, spätestens jedoch mit der Geburt des Kindes beginnen.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Experten weisen immer wieder darauf hin, dass Beziehungsstörungen zwischen Mutter und Kind bereits in diesem Lebensabschnitt erkennbar sind. Ein problematisches MutterKind-Verhältnis in der Schwangerschaft ist eine wesentliche Ursache für spätere Vernachlässigung.

Wir brauchen dringend ein durchorganisiertes und vor Ort wirkendes Leistungsspektrum, das werdenden Müttern und jungen Familien - von der Schwangerschaft über die Entbindung bis wenigstens in das dritte Lebensjahr der Kinder - gesundheitliche Hilfen und präventive Leistungen anbietet. Gegenwärtig entwickelt das Klinikum Niederlausitz das lokale Netzwerk „Gesunde Kinder“. Ich verspreche mir von einer solchen Rundumbetreuung, dass darin in enger Kooperation aller verantwortlichen Einrichtungen und Gremien alle lokalen Kapazitäten für die Entwicklung gesunder Kinder genutzt werden.

Es geht uns vor allem darum, kindliche Entwicklungsauffällig

keiten und Verhaltensstörungen früher zu erkennen. Zu Recht weist unser Bündnis „Gesund aufwachsen in Brandenburg“ darauf hin, dass diese in der Regel viel zu spät erkannt werden. Oft erreichen die betroffenen Kinder das Versorgungssystem erst nach ihrem vierten Geburtstag und damit zwei Jahre zu spät. In den Einschulungsuntersuchungen zeigen sich dann die Folgen: mehr Sprachstörungen, mehr Verhaltungsstörungen. Das muss ein Ende haben. Deshalb wurden etliche Empfehlungen des Bündnisses ins familienpolitische Programm aufgenommen, wie etwa der Einsatz von Familienhebammen, die Sicherung einer fachgerechten pädiatrischen Versorgung in allen Regionen und die Förderung der elterlichen Mitarbeit in gesundheitsbezogenen Kita-Projekten.

Durch eine konzentrierte Bündelung solcher sinnvollen Maßnahmen werden Familien besser erreicht und können wirksamer unterstützt werden. Eltern, die sich diesen Maßnahmen entziehen, sind vermutlich nur durch eine verpflichtende Teilnahme an bestimmten Vorsorgeuntersuchungen für Kinder zu erreichen. Diese Möglichkeit müssen wir unter Abwägung und Würdigung aller rechtlichen Umstände prüfen. Diesbezüglich möchte ich ein herzliches Dankeschön an das Justizministerium richten, mit dem wir in dieser Sache sehr eng zusammenarbeiten und von dem wir Hilfestellungen erhalten.

Für den Kinderschutz muss noch eine Menge getan werden. Ich möchte die Kreistagsabgeordneten aktuell darauf hinweisen, dass sie mitwirken können, denn Familien und Kinder leben ja vor Ort. Wir wollen hier bessere Rahmenbedingungen schaffen.

Wir folgten dem Landtagsauftrag vom September letzten Jahres, strenger darauf hinzuwirken, dass die Maßnahmen des ÖGD, die Reihenuntersuchungen in den Landkreisen stärker wahrgenommen werden, und haben Ende des Jahres eine Weisung an die Landkreise und kreisfreien Städte herausgegeben. Als ich dann die Stellungnahme des Landkreistages dazu las, bin ich bald vom Stuhl gefallen. Ich will Ihnen die vom Landkreistag angemerkten kritischen Punkte nicht vorenthalten.

Am 1. Februar tagt der Arbeitskreis des Landkreistages zu diesem Thema. Ich bitte Sie herzlich, in den Kreistagen auf einen Sinneswandel hinzuwirken.

Es wird kritisiert, dass die Festsetzung des Anteils der zu untersuchenden Kinder auf mindestens 80 % - die wir gefordert haben - auf keiner stichhaltigen und fachlichen Grundlage basiere und demnach willkürlich erscheine; damit werde ein neuer Standard geschaffen. - Wir vertreten diesbezüglich eine völlig andere Auffassung. Das wird noch weiter zu untersuchen sein.

Wir haben festgestellt, dass im Landesdurchschnitt weniger als 40 % der Kinder erreicht werden; wir haben darüber schon diskutiert. Dort, wo die Landkreise ihre Pflichten wahrnehmen, wird ein Wert zwischen 83 und 89 % erzielt; das wird nicht großartig steigerungsfähig sein. Das ist eine gesunde, normale Grundlage, um ableiten zu können, was für eine kommunale Gesundheitsplanung notwendig ist. Aus epidemiologischer Sicht müssen etwa 80 % einer Population erreicht werden, um repräsentative und valide Planungen machen zu können. Aus fachlicher Sicht ist die Tatsache, dass jährlich etwa die Hälfte der Kita-Kinder nicht oder nicht regelmäßig von den Gesundheitsämtern untersucht wird, ein Zeichen dafür, dass die Früherkennung von Entwicklungsstörungen und Frühförderbedar

fen unbefriedigend organisiert ist und sofort intensiviert werden könnte, ohne dass bestehende Regelungen geändert werden müssten. Deshalb sind der Landtagsbeschluss und auch unsere Weisung richtig.

(Beifall bei SPD und der Linkspartei.PDS)

Die vom Landkreistag geübte Kritik, dass die Hauskinder hier nicht erreicht würden, ist zutreffend. Wir arbeiten aber daran das wird einen höheren Aufwand bedeuten -, auch Hauskinder zu Reihenuntersuchungen zu führen.

Bezüglich des Vorwurfs des Landkreistags, eventuelle Feststellungen aus den Reihenuntersuchungen würden nicht zwingend zu einer Einleitung therapeutischer oder pädagogischer Maßnahmen führen, sodass der Gesundheitszustand der Kinder dadurch nicht verbessert würde, frage ich mich, ob er über seine Stellungnahme wirklich nachgedacht hat; das ist unglaublich. Wir wissen, dass diese These völlig unsinnig ist, denn gerade durch die Früherkennung von Entwicklungsauffälligkeiten und Risikofaktoren werden kostenintensive medizinische Behandlungen in späteren Lebensabschnitten doch häufiger vermieden.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Ich möchte Ihnen also mit auf den Weg geben, sich vor Ort um einen Sinneswandel zu bemühen.

Weiter heißt es in der Stellungnahme, der Erlass berücksichtige nicht das geschlossene Angebot von Untersuchungen außerhalb des ÖGD. - Es wird als geschlossen betrachtet, aber wir wissen, dass in der Lebensphase vom dritten bis zum 13. Lebensjahr nur zwei Früherkennungsuntersuchungen - im vierten und im sechsten Lebensjahr - vorgesehen sind.

Die Teilnahme an den kassenfinanzierten Früherkennungsuntersuchungen ist unbefriedigend und insbesondere bei den sozial schwachen Familien unzureichend. Die Vorsorgeuntersuchungen der gesetzlichen Krankenversicherung gilt vor allem dem frühzeitigen Erkennen von körperlichen Erkrankungen, schließt jedoch keine Entwicklungauffälligkeiten, Entwicklungsstörungen und drohenden Behinderungen ein. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass außerhalb des ÖGD kein kontinuierliches Angebot an Vorsorgeuntersuchungen für Kinder vorgehalten wird. Darüber hinaus wird die problematische Personalsituation im öffentlichen Gesundheitsdienst angeführt. - Aber das kann ja nun wirklich kein Argument sein.

Es muss auf allen Ebenen im Land deutlich gemacht werden, dass es hierbei nicht darum geht, in letzter Instanz zu begründen, warum man die Maßnahmen nicht durchführen kann, sondern hier stehen das Kindeswohl und der Kinderschutz im Vordergrund. Wir alle müssen einen Betrag leisten und für Verbesserungen in diesem Bereich Sorge tragen. Vom Landkreistag hätte ich mir in dieser Sache Anregungen gewünscht und keine derartig ablehnende Haltung. Ich bitte Sie, meinen Appell mit in die Kreistage zu nehmen und heftig darüber zu diskutieren. - Danke.

(Beifall bei SPD, CDU und der Linkspartei.PDS)

Vielen Dank, Frau Ministerin Ziegler. - Bevor Herr Lunacek

für die CDU-Fraktion noch einmal das Wort erhält, begrüße ich Schüler der Jahrgangsstufen 11 bis 13 der Bettina-von-ArnimGesamtschule in Lehnin sowie Mitglieder der SPD-Ortsgruppe aus Wusterwitz. Herzlich willkommen!

(Allgemeiner Beifall)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den letzten Monaten und Jahren mussten wir immer wieder von schlimmen Fällen lesen, in denen Kinder vernachlässigt oder gar misshandelt wurden. Ich erinnere an den kleinen Pascal aus Strausberg, an Dennis aus Cottbus, Jessica aus Hamburg oder die beiden kleinen Kinder aus Blankenfelde. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich lese solche Beiträge in der Regel nicht zu Ende, weil es wehtut, von den Details des Martyriums dieser kleinen Kinder zu erfahren.

Für unsere Gesellschaft ist das Auftreten solcher Fälle unerträglich und unwürdig. Deshalb sind wir uns in der Union einig, dass wir zum Handeln verpflichtet sind.

(Beifall bei der CDU)

Nicht nur das subjektive Empfinden beim Lesen solcher Beiträge lässt es vermuten, sondern auch statistische Erhebungen sagen aus, dass die Gewalt gegen Kinder in den letzten Jahren spürbar gewachsen ist - laut Bundeskriminalamt um 50 % innerhalb der letzten neun Jahre.

Was hat sich an den Rahmenbedingungen vonseiten der Gesellschaft und des Staates, die es gestatten, besser auf die Kinder zu achten, in den letzten Jahren verändert? Es hat sich nichts verändert. Deshalb ist es Zeit zu handeln, sicherzustellen, dass Kinder auf ihrem Entwicklungsweg regelmäßig in Augenschein genommen werden, um Fehlentwicklungen zu erkennen und den Familien gegebenenfalls zu helfen. Zur Diskussion steht, an welcher Stelle dabei angesetzt werden soll.

Die CDU-Fraktion ist der Auffassung, dass die Früherkennungsuntersuchungen - U 1 bis U 9 sowie J 1 im Jugendalter pflichtig werden sollten. Damit wäre eine regelmäßige Kontrolle durch einen Arzt sichergestellt. Er kann erkennen, ob Fehlentwicklungen vorliegen, ob Hinweise und Hilfen gegeben werden müssen oder das Jugendamt eingeschaltet werden muss. Sollten Eltern solche Kontrolltermine nicht wahrnehmen, wäre dies Veranlassung für das Jugendamt, in den betreffenden Familien genauer hinzusehen.

Ich bin erfreut, dass wir morgen gemeinsam einen solchen Antrag auf den Weg bringen werden. Leider geht es darin jedoch nur um die Prüfung einer solchen Maßnahme.

Ihren Ausführungen, Frau Ministerin Ziegler, ist zu entnehmen, dass Sie dies grundsätzlich befürworten. Im Saarland und in Berlin wird ebenfalls in diese Richtung gedacht. Der Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hält dies ebenfalls für einen sinnvollen Weg. Ich hoffe, wir kommen gemeinsam zu dem genannten Ziel.

Frau Ministerin Ziegler, prüfen Sie bitte rasch und konsequent. Das Justizministerium befürwortet eine solche Maßnahme und sie ist nach Auffassung von Juristen mit dem Grundgesetz ver

einbar. Lassen Sie uns gemeinsam Nägel mit Köpfen machen und die Sache auf den Weg bringen!

(Beifall bei der CDU)

Nun noch einige Worte zur aktuellen Kita-Debatte. Ich begrüße die Ausführungen des Ministerpräsidenten, dass Brandenburg eines der besten Kita-Angebote deutschlandweit besitzt. Wir sollten uns daher nicht verstecken, sondern dies deutlich nach außen tragen; denn es ist eine von uns vollbrachte Leistung. Jeder Berufstätige kann sein Kind vom ersten Lebensjahr an im Kindergarten bzw. in der Krippe unterbringen. Bei der Diskussion um eine Ausweitung des Anspruchs geht es um diejenigen, die aufgrund von Arbeitslosigkeit zu Hause sind oder aus eigenem Entschluss keiner Berufstätigkeit nachgehen.

Die CDU-Fraktion führt zurzeit eine Debatte über die Ausweitung des Anspruchs auf einen Kindergartenplatz. Das Führen der entsprechenden Grundsatzdebatte durch eine Partei geschieht völlig zu Recht. Die CDU-Fraktion steht zu den Anfang des Jahrzehnts gemeinsam getroffenen Entscheidungen. Nun steht jedoch zur Diskussion, ob eine Ausweitung des Anspruchs sinnvoll wäre. Noch wichtiger ist nach meiner Auffassung, die Qualität der Kita-Betreuung zu verbessern.

Allerdings warne ich vor Schnellschüssen. Dies wäre nicht verantwortungsbewusst. Es muss ausführlich darüber diskutiert werden, ob eine Ausweitung finanzierbar ist. Ich halte wenig davon, Kindern und Familien mit neuen Schulden vorgeblich zu helfen; denn diese Schulden hätten sie abzutragen, was ihre Zukunft erschweren oder gar zerstören würde. Damit wäre kein Erfolg zu erzielen.