Protokoll der Sitzung vom 22.05.2006

Große Anfrage 21 der Fraktion der Linkspartei.PDS

Drucksache 4/2754

Antwort der Landesregierung

Drucksache 4/3208

Wir beginnen mit dem Beitrag der Fraktion der Linkspartei.PDS. Bitte, Herr Abgeordneter Görke.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor genau eineinhalb Jahren haben Sie, Frau Kollegin Dr. Esther Schröder, nach einer von uns beantragten Aktuellen Stunde zu Erfahrungen bei der Umsetzung von Hartz IV ganz tief in die Seemannskiste gegriffen und mit maritimem Wortschatz die damals schwer angelaufene Hartz-IV-Reform charakterisiert. Daraus möchte ich jetzt kurz zitieren:

„... auf dem Schiff Hartz IV herrscht reges Treiben. Seit Monaten werden Matrosen rekrutiert, Maate ausgebildet, Offiziere sind an Deck, die Bordkasse ist gefüllt, und der Kapitän verkündet: Der Kurs ist klar. Volle Kraft voraus!

Doch die Zimmerleute unter Deck arbeiten noch immer fieberhaft. Das Schiff ist nicht fertig, nicht seetüchtig und schon gar nicht in der Lage, auf hoher See Hilfebedürftige aufzunehmen.“

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Heute, 18 Monate später, stelle ich fest:

Der Kapitän hat das nicht seetüchtige Schiff längst verlassen. Die inzwischen neu zusammengewürfelte Mannschaft agiert hektisch und planlos. Der neue - weibliche - Kapitän hat es schwer, im Kreis der Offiziere den Kurs vorzugeben. Da sich die Maschine als Fehlkonstruktion erwiesen hat, wurde der Antrieb kurzerhand auf Manpower umgestellt, um die Hilfsbedürftigen als Ruderer zu rekrutieren.

(Zuruf von der Linkspartei.PDS: Als Rudersklaven!)

Da das Schiff unter diesen Bedingungen natürlich keine Fahrt aufnehmen kann, wird in der Offiziersmesse die Schuldfrage diskutiert. Man ist sich schnell einig: Schuld sind die Ruderer, denen es an Einsatzfreude und Anpassungsfähigkeit mangelt.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Damit sie besser diszipliniert werden können, werden ihre Schwimmwesten gegen Strickjacken ausgetauscht.

(Heiterkeit bei der Linkspartei.PDS)

Sie sind zudem billiger.

So weit die heutige Kurzanalyse in der bevorzugten Seemannssprache.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Kommen wir von der maritimen Prosa nun zurück an Land, und zwar ins Brandenburger Land, und schauen uns die Antworten der Landesregierung auf die Große Anfrage einmal genauer an.

Wer den Versuch unternimmt, die Antworten der Landesregierung zum Wirken der Arbeitsmarktreformen in Brandenburg zu bewerten, wird geradezu enttäuscht. So ließ die Landesregierung in vielen Fällen wissen: Der Landesregierung liegen keine konkreten Erkenntnisse vor zu Beschäftigungseffekten von Hartz I bis III, zur Wirksamkeit der Arbeitsmarktinstrumente

im Zusammenhang mit dem ersten Arbeitsmarkt, zu Auswirkungen des Sozialgeldbezuges auf Kinder und Jugendliche, zur gesundheitlichen Entwicklung von Beziehern des Sozialgeldes bzw. von ALG-II-Empfängern, zur Mehrbelastung der kommunalen Haushalte im SGB II. - Auf Letzteres werde ich noch speziell zu sprechen kommen.

Die Analyse der 61 Antworten bestätigt den Eindruck, das war keine Antwort der Landesregierung, sondern ein Versuch, eine Antwort zu umgehen.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Die Landesregierung zeigt sich über das Wirken der so genannten Hartz-Reformen in weiten Bereichen nicht oder nur unzureichend informiert, zum Beispiel über die Wirkungen der Reformen Hartz I, II und III mit den bekannten Maßnahmen der Schaffung der PSA, der Einführung der Mini- und Midijobs und der Ich-AGs sowie der Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit. Das gipfelt sogar darin, dass bestimmte Entwicklungen einfach schöngeredet werden. Dazu möchte ich von Seite 8 der Antwort der Landesregierung zitieren:

„Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass die aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im Rahmen der Umsetzung der Reformen Hartz I bis III den Brandenburger Arbeitsmarkt entlasten.“

Genau das Gegenteil wurde erreicht, nämlich eine deutliche Erhöhung der Zahl der geringfügig Beschäftigten bzw. der entsprechenden Beschäftigungen. Weiterhin sind starke Rückgänge bei der Förderung der beruflichen Weiterbildung und den Eingliederungszuschüssen ab dem Jahr 2003 zu verzeichnen. Wie diese Hartz-Folgen den Brandenburger Arbeitsmarkt entlastet haben sollen, möchte ich nachher gern noch von der Landesregierung erfahren.

Die Linkspartei stellt fest: Der massive Ausbau der Mini- und Midijobs auf rund 140 000 hat eindeutig negative Auswirkungen auf den Brandenburger Arbeitsmarkt gehabt. Er hat nachweislich zur Verdrängung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse vor allem im Dienstleistungs- und Einzelhandelsbereich geführt. Das belegen nicht nur die Zahlen des 10. Betriebspanels, sondern auch die Angaben der Bundesagentur eindeutig. Im Sommer des Jahres 2000 gab es in Brandenburg 810 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, während es im Sommer 2006 nur noch 704 300 waren. Wer es noch konkreter haben will: Nach Darstellungen von ver.di auf der Brandenburgkonferenz des DGB sind im Sterncenter Potsdam sozialversicherungspflichtige Voll- und Teilzeitjobs nur noch die Ausnahme.

Hartz I bis III ist gemessen an den vollmundigen Ankündigungen von Peter Hartz am Vorabend des Bundestagswahlkampfs im August 2002 ein Fehlschlag. Ich möchte diese Worte heute noch einmal zitieren:

„Heute ist ein schöner Tag für die Arbeitslosen in Deutschland. Wir haben in der Kommission einstimmig alle Eckpunkte beschlossen und kommen hiermit zu einem Konzept, wie wir in den nächsten drei Jahren die Arbeitslosigkeit um 2 Millionen reduzieren werden.“

Ich stelle fest: Auch in Brandenburg wurde dieses Hauptziel

der Reform, eine nachhaltige Verringerung der Arbeitslosigkeit, nicht erreicht.

Wie sieht es mit Hartz IV aus? Ein zentrales Element der Hartz-IV-Reform war das Gleichgewicht von Fördern und Fordern. Meine Kollegin Dr. Schröder sagte in ihrer damaligen Rede, aus der ich bereits zitiert habe:

„Der Gleichklang von Fördern und Fordern ist aber kein leeres Versprechen, sondern seit dem 01.01.2005 Rechtsanspruch.“

(Frau Dr. Schröder [SPD]: Richtig! Das ist immer noch so!)

In der Hartz-Wirklichkeit, liebe Kollegin - dass wissen auch Sie; das haben Sie auch erst gestern wieder im RBB gesagt -, sieht das ganz anders aus: Von Förderung haben viele Arbeitslose auch fast zwei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes immer noch nichts gemerkt. Während bei der Förderung zum Beispiel der beruflichen Weiterbildung zwei Drittel der Maßnahmen zurückgefahren wurden, nehmen zahlreiche Arbeitslose die entsprechenden Eingliederungsverträge zudem oftmals als Drangsalierung und als Einschüchterung wahr. Während den Langzeitarbeitslosen zahlreiche Verpflichtungen auferlegt werden, bleiben die Pflichten der Arbeitsgemeinschaften und der Optionskommunen oftmals unverbindlich und folgenlos. Ein Vertrag hat eigentlich für beide gleichberechtigte Partner bindende Wirkung. Aber bei Hartz IV gilt das offenbar nicht.

Die Landesregierung weist in der Antwort auf Frage 52 auf die zentrale Rolle des Fallmanagements bei der Integration der Langzeitarbeitslosen hin. Vor diesem Hintergrund ist es völlig unverständlich, dass zahlreiche Empfänger von Arbeitslosengeld II immer wieder beklagen, dass sie bei jedem Behördenbesuch mit einem anderen Fallmanager in Kontakt treten müssen. Damit ist die von der Landesregierung postulierte ganzheitliche Betrachtung erwerbsfähiger Hilfsbedürftiger, die letztlich auch zu einer neuen Qualität im Prozess der Arbeitsmarktintegration führen sollte, kaum möglich bzw. wird ausgehöhlt.

Nicht einmal die qualitativen Voraussetzungen, nämlich der angestrebte Betreuungsschlüssel von 1 : 75 bei den unter 25-Jährigen bzw. von 1 : 150 bei den übrigen Arbeitslosengeld-IIEmpfängern, können in den meisten ARGEn und Optionskommunen in Brandenburg gewährleistet werden.

(Schulze [SPD]: Gucken Sie einmal nach, wie er vorher war!)

Ich verweise auf die Antwort zur Frage 51. Der Betreuungsschlüssel bei den unter 25-jährigen ist in Cottbus 1 : 116, in Elbe-Elster 1 : 165, im Spree-Neiße-Kreis 1 : 172, in Brandenburg und in der Uckermark 1 : 207.

Besonders alarmierend ist, wie unterschiedlich die ARGEn und kommunalen Träger agieren, wenn es um die Übernahme der angemessenen Wohnkosten geht. Es ist nicht zu erklären, warum in einem Landkreis 531 Umzüge infolge nichtangemessener Wohnkosten und in einem vergleichbaren berlinnahen Landkreis nur 31 Umzüge nötig waren.

In der Antwort der Landesregierung auf die Frage 10 kam die

Regierung zu der Einschätzung, dass ein örtlicher Mietspiegel ein Maßstab sein kann, um angemessene Wohnkosten zu ermitteln. Das klingt auch für uns nachvollziehbar und plausibel. Wenn man jedoch bedenkt, dass es landesweit statt früher 40 nur noch 20 örtliche Mietspiegel gibt - Tendenz sinkend -, dann muss man zu dem Ergebnis kommen, dass dieses Instrument leider nur punktuell greift. Die meisten Kommunen können sich die Aufstellung eines Mietspiegels - die Kosten belaufen sich auf mehrere Zehntausend Euro - kaum leisten. Da es die Landesregierung abgelehnt hat, gesetzliche Vorgaben zu qualitativen Mindeststandards für Härtefallregelungen bei der Erstattung der Unterkunftskosten in Brandenburg zu schaffen, wird die Linkspartei.PDS noch in diesem Jahr einen Antrag in den Landtag einbringen.

Die Antwort der Landesregierung hat zentrale Punkte unserer Hartz-Kritik bestätigt. Erstens: Hartz I bis IV haben den Rückgang von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung beschleunigt und zu einer Verdrängung der existenzsichernden Arbeitsverhältnisse durch Minijobs geführt. Auch in Brandenburg gilt die repräsentative Feststellung des Bundesrechnungshofs:

„Bei fast einem Viertel der geprüften Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung wurde festgestellt, dass die Fördervoraussetzungen nicht vorgelegen haben, weil die zu erledigenden Tätigkeiten nicht im öffentlichen Interesse, nicht zusätzlich und nicht wettbewerbsneutral waren.“

Zweitens: Die Arbeitsmarktreform Hartz IV hat der Armut in Brandenburg ein junges Gesicht gegeben. Über 66 000 Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren - das sind 20 000 mehr als 2004 - sind mittlerweile Leidtragende von Hartz IV und Billiglöhnen, für die ihre Eltern arbeiten, wenn sie es denn können. Armut ist nicht erst seit der Unterschicht-Debatte tausendfache Realität in Brandenburg. Hartz IV hat Armut per Gesetz noch verstärkt. So lebt in Frankfurt (Oder) laut dem Armutsbericht vom Februar 2006 - Sie können es nachlesen - jedes dritte Kind von Sozialgeld. Auch in der zweitgrößten Stadt Brandenburgs, Herr zukünftiger Oberbürgermeister Szymanski, sieht das nicht anders aus.

Drittens: Die Hartz-Reformen sind ein reines Struktur- und Sparprojekt. Noch nie sind so wenig Mittel für die Betreuung von Arbeitslosen und ALG-II-Mittel für die Kommunen ausgegeben worden wie 2006.

(Frau Dr. Schröder [SPD]: Das ist falsch!)

4 Milliarden Euro weniger als noch im Vorjahr und 6,1 Milliarden Euro weniger als im Jahr 2004.

(Frau Dr. Schröder [SPD]: Die Zahlen sind falsch! - Schulze [SPD]: Das haben Sie sich ja schön zurechtge- zimmert!)

- Liebe Kollegin, die Ergebnisse der Studie können Sie nachlesen. - Gleichzeitig belaufen sich die Belastungen der Landkreise und kreisfreien Städte in Brandenburg für 2006 - ich bedanke mich für Ihre Frage, Frau Kollegin Schröder, denn auf unsere Frage hat man nicht so geantwortet - auf immerhin 341 Millionen Euro, obwohl Entlastungen zugesagt waren.