- Würden Sie mich bitte ausreden lassen? Ich habe Sie auch ausreden lassen. - Ich habe auch gesagt, dass es den Arbeitslosenhilfebeziehern in diesem Land längst nicht so gut ging, wie manche erwähnten. Mitunter haben Bezieher von Arbeitslosenhilfe schon unter dem Sozialhilfeniveau gelebt. Auch das gehört zur Wahrheit. Damit hat Hartz IV aufgeräumt. Ich will einmal deutlich sagen: Die Bezieher von Arbeitslosenhilfe sind deshalb nicht zum Sozialamt gegangen, weil sie vielleicht noch ein Auto hatten, weil sie Angehörige hatten, die für sie hätten bezahlen müssen, oder weil sie ein gewisses Vermögen hatten, das angegriffen worden wäre. Mit allen diesen Punkten hat Hartz IV aufgeräumt. Auch das muss man einmal sagen, wenn man die Sache ehrlich betrachtet.
Allerdings erleben wir - das ist vielleicht etwas neu, das eine war zehn Jahre alt, das andere ist etwa in den letzten fünf oder sechs Jahren so massiv aufgetreten -, dass sich die alten sozialen Probleme, wie wenig Geld zu haben, mit neuen Fehlentwicklungen ganz gefährlich mischen. Wir merken, dass es Situationen gibt, in denen massive Bildungs- und Ausbildungsdefizite auftreten. Wir merken, dass es in diesem Personenkreis Fehlernährung in Größenordnungen gibt. Wir merken, dass in unserer Gesellschaft der Aufstiegswillen rückläufig ist. Bei einigen Menschen mangelt es an Mut, die eigene Zukunft zu gestalten; die Hoffnung lässt nach. Auf solche Art und Weise entstehen Teufelskreise, weil der eigene soziale Status vererbt wird. Das haben wir in den alten Bundesländern mit der Sozialhilfe erlebt. Heute wird der Hartz-IV-Status vererbt. Die Erwerbschancen schwinden; man hat sich zum Teil auch damit abgefunden. Wir beobachten Mutlosigkeit und Motivationsverlust. Mit den schwindenden Chancen lässt das Vertrauen in die eigene Kraft nach. Man glaubt nicht mehr daran, jemals wieder auf eigenen Beinen stehen zu können.
Dabei ist es nicht das zeitweilige Fehlen von Geld, was so dramatisch ist. Wir alle haben schon irgendwann einmal erlebt, dass die Kasse knapp ist und man nicht klarkommt. In der Ausbildung und der Phase der Familiengründung war die Haushaltskasse klamm. Für die Förderung eines guten Charakters ist es auch nicht unbedingt schädlich, wenn man eine Zeit lang wenig Geld hat. Das ist nicht das Problem.
Wir müssen aber konstatieren, dass Menschen bis tief in unsere Gesellschaft hinein, auch Ingenieure und sonstige Fachkräfte, die Befürchtung haben, dass der Spruch „Einmal arm, immer arm“ gilt. Es gibt die Angst, aus der Armutssituation nicht mehr herauskommen. Der nachsorgende Sozialstaat trägt nicht dazu bei, den Menschen die Sicherheit zu geben, dass es danach wieder besser wird. Deshalb ist es wichtig, den vorsorgenden Sozialstaat anzugehen.
Sehr geehrte Frau Kaiser, ich bin gegen eine Reform der Reform, gerade was Hartz IV angeht, weil es vorher nicht besser war. Hartz IV war der richtige Weg, auf dem wir weitergehen sollten. Frau Kaiser, Sie wollen sicherlich nicht ernsthaft behaupten, die Betreuung von langzeitarbeitslosen Menschen in unserem Land sei vor drei Jahren eine bessere gewesen als heute. Sie ist zwar noch nicht so, wie wir sie haben wollen, aber
besser als früher. Auch die Tatsache, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs steigt, ist ein Kriterium, das deutlich für die Reform spricht. Wir müssen konstatieren, dass wir heute für Langzeitarbeitslose und ihre Familien mehr Geld als früher ausgeben. Das lässt sich nicht vom Tisch wischen. Ich wiederhole: Es läuft nicht alles optimal, aber allemal besser als vor drei Jahren. Ich behaupte auch: Die Armut ist nicht größer, aber viel sichtbarer geworden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Partei arbeitet an einem neuen Grundsatzprogramm. Wir wollen darüber nicht in irgendwelchen Hinterstuben und nicht nur innerhalb der Partei, sondern mit allen Interessierten im Land diskutieren. An entsprechenden Veranstaltungen gibt es großes Interesse. Diese Diskussion führen wir für das Land, nicht für diese Legislaturperiode. Wir wollen uns ein Grundsatzprogramm geben, das mittel- bis langfristige Perspektiven eröffnet.
Dabei wird die wichtige Frage zu beantworten sein, wie wir die wirtschaftlichen und die demografischen Rahmenbedingungen bewältigen und dennoch den Sozialstaat erneuern und erhalten können. Es geht auch darum, wie wir unter den von Jahr zu Jahr schwieriger werdenden Bedingungen allen Menschen Lebenschancen eröffnen können.
Der Sozialstaat soll die Menschen aktivieren. Er soll ihnen Mut machen, am Leben teilzuhaben und es in eigener Verantwortung zu gestalten. Der vorsorgende Sozialstaat schafft die Voraussetzungen dafür, dass die Menschen das wirklich können. Deshalb setzen wir auf eine hochwertige Bildungspolitik, aber auch - möglichst von Anfang an - auf eine hervorragende Gesundheitsprävention.
Der vorsorgende Sozialstaat wird die Beschäftigungsfähigkeit erhöhen, aber auch die Beschäftigung selbst fördern und auf diese Art und Weise Armut verhindern.
Frau Kaiser, ich gebe Ihnen Recht: In der Diskussion kommt mitunter die Tatsache zu kurz, dass einige Menschen kaum Möglichkeiten haben, zum Beispiel schwerkranke, chronisch kranke und behinderte Menschen. Diesen Menschen müssen wir auch mit einem nachsorgenden System helfen. Das ist sonnenklar. Niemand will in die Lage kommen, einem behinderten Menschen sagen zu müssen: Weil du behindert bist, hast du keine Chance und fällst hinten herunter. - Darum geht es nicht. Wir wollen Menschen, die Chancen ergreifen können, dazu ermuntern, sie auch zu nutzen. Das ist der Punkt.
Wer mit offenen Augen durch das Land geht, stellt fest, dass die Arbeitsmarktreformen ein wichtiger und richtiger Schritt in diese Richtung sind. Zum einen läuft die Vermittlung und Beratung wesentlich besser als früher. Zum anderen hat sich bei der Finanzierungsgrundlage etwas getan.
Frau Kaiser, ich bin zum Beispiel dagegen, Geld, das in der Arbeitslosenversicherung eingespart wird, in den allgemeinen Haushalt einzuspeisen. Das haben auch Sie gesagt. Sie fordern, das Geld auszugeben, um insbesondere dem Personenkreis der arbeitslosen Versicherten mehr Teilhabe an beschäftigungspolitischen Maßnahmen, zum Beispiel ABM-Jobs und Ähnliches, zu ermöglichen.
Dem entgegne ich: Das haben wir 16 Jahre lang getan. Wir müssen zugeben, dass es nicht allzu viel gebracht hat. Auch die aus großen Töpfen finanzierte Weiterbildung gehört nicht unbedingt zum Besten, was wir gemacht haben. Wir haben mitunter mit großen Schippen viel Luft über den Maschendrahtzaun geschippt. Auch das muss man deutlich sagen.
Wenn von einem Jahr auf das andere in der Arbeitslosenversicherung statt 54 Milliarden Euro nur noch 45 Milliarden Euro notwendig sind, sollten wir mit dem eingesparten Geld den Arbeitslosenversicherungsbeitrag senken. Zum einen bringt das Geld direkt in die Taschen der Betroffenen und kann für den Konsum verwendet werden. Zum anderen wird den Unternehmern geholfen, weil sie mit diesem Geld wieder investieren können. Das ist der richtige Weg. Es ist auch wesentlich gerechter, wenn wir bei den anderen Formen der sozialen Sicherung in Richtung auf mehr Steuerfinanzierung umsteuern. Wir sollten vom arbeitsplatzzentrierten Sozialstaat wegkommen und uns auf einen steuerfinanzierten Sozialstaat zubewegen. Auch das ist Bestandteil des Konzepts „vorsorgender Sozialstaat“.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon sehr bedauerlich und alarmierend zugleich, dass wir hier in diesem Hohen Hause in einem der reichsten Länder der Erde über wachsende Armut in der eigenen Bevölkerung debattieren müssen. Mit Verwunderung habe ich zur Kenntnis genommen, dass auch der Ministerpräsident Brandenburgs in einem Positionspapier von „besorgniserregender Armut“, speziell bei Jugendlichen und alleinerziehenden Elternteilen, spricht. Allein die Tatsache, dass die Regierungskoalition dieses Landes das Problem zur Kenntnis nimmt, zeigt uns, dass es groß genug ist, denn sonst hätte man es - wie viele kleine Probleme - einfach unter den Teppich gekehrt. Als auch unsere Fraktion vor gut einem Jahr auf dieses Thema hingewiesen hat, gab es das Problem der wachsenden Armut der Bevölkerung in Deutschland, speziell in den neuen Bundesländern, für Sie noch nicht. Nun hat es Sie, uns alle mit beeindruckender Geschwindigkeit und Auswirkung eingeholt. Ich frage mich an dieser Stelle besorgt, ob die wirklichen Probleme der Bevölkerung unseres Landes durch diese Regierung überhaupt noch wirklich wahrgenommen werden.
Wissen Sie, meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, überhaupt, welche Sorgen, welche Nöte und welche Ängste die Brandenburger Bürger wirklich bewegen? Kennen Sie die Schwierigkeiten, die eine Hartz-IV-Familie hat, um sich - im wahrsten Sinne des Wortes - von Monat zu Monat durch das Leben zu hangeln, ohne an den steigenden Ausgaben für Strom, Heizung, Wasser und den täglichen Bedarf zu verzwei
feln? Von einer Teilnahme am kulturellen Leben kann dabei von vornherein schon lange nicht mehr die Rede sein.
Die Folgen einer derartigen Verarmung bei Hartz IV - staatlich verordnet - liegen doch auf der Hand: Resignation vieler betroffener Menschen, mögliche Bildungsdefizite und geringere Bildungschancen derart betroffener Kinder sowie dauerhafter Abstieg in die unterste Schicht unserer Gesellschaft. Das ist leider kein Horrorszenario, sondern viel zu oft bittere Realität in unserem Land.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gab eine Zeit in der Bundesrepublik Deutschland, da hat man Aufschwung und Wachstum gespürt, nach dem Motto: „Wenn es der Firma gut geht, geht es auch der Belegschaft gut.“ Das Geld floss in den allgemeinen Kreislauf der Wirtschaft zurück. Ängste und Sorgen um den Arbeitsplatz gab es so gut wie nicht.
Ich benutze hier einmal eine Phrase, die sich in der damaligen Praxis jedoch bewährt hat und spürbar war: Leben und leben lassen. Und heute? - Noch im letzten Monat hat der Wirtschaftsminister hier von diesem Pult aus das Anziehen der Brandenburger Wirtschaft verkündet. Bereits sechs Monate zuvor haben der Bundeswirtschaftsminister und der Bundesarbeitsminister in höchsten Tönen vom Aufschwung in Deutschland gesprochen. Die vorgelegten Zahlen des Wirtschaftswachstums und die Jahresbilanzen der starken Wirtschaftsunternehmen waren überaus positiv; jedoch - das unterstreiche ich an dieser Stelle ganz dick - ohne erkennbare Stoppwirkung auf die weiterhin um sich greifende Armut in Deutschland. Auch die Arbeitslosenzahlen sind nur minimal - saisonbedingt - rückläufig.
Während sich deutsche Unternehmen in Millionen- und Milliardenprofiten sonnen, kommt dort, wo die Werte erarbeitet werden, immer weniger an. Dieser Prozess ist bereits heute so deutlich, dass selbst die so genannte gut situierte Mittelschicht befürchtet, bei weiterem Voranschreiten dieses Phänomens der Armut ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen zu werden.
Nun werden Sie, meine Damen und Herren von der Regierungsbank, sagen, das alles sei blanker Populismus und von der DVU-Fraktion frei erfunden. Nein, das ist es wahrlich nicht! Die Fakten sprechen eine eindeutige Sprache, und zwar so deutlich, dass der Ministerpräsident nicht umhin kommt, darauf zu reagieren. Ich sage Ihnen: Es wird höchste Zeit zu reagieren!
Nun können Sie wieder sagen und uns vorhalten: Meckern kann jeder, aber Lösungswege haben Sie auch nicht. - Das ist falsch, meine Damen und Herren. Wir haben Ihnen bereits viele Lösungswege hier in diesem Parlament angeboten. Ich erspare mir an dieser Stelle die Aufzählung der zahllosen Anträge. Sie wollten sie nicht annehmen, allenfalls so ein bisschen abschreiben, aber ganz heimlich.
- Herr Bischoff, springen Sie doch einfach einmal über ihren Schatten und nehmen Sie unsere Vorschläge
Sie müssen ja nicht sagen, dass der eine oder andere Vorschlag von der DVU-Fraktion unterbreitet wurde.
dann müssen Sie möglicherweise morgen mit den Damen und Herren von der Linkspartei.PDS-Fraktion teilen; denn sie wollen alles für alle.
Im Übrigen, Herr Bischoff, begrüßt es unsere Fraktion sehr, dass nach langem Suchen ein Investor für das Millionengrab Chip-Fabrik gefunden wurde und dass dadurch fast 1 000 Menschen wieder eine Lebensperspektive erhalten werden.