Protokoll der Sitzung vom 07.03.2007

(Beifall bei der DVU)

Es handelt sich um Eltern, die im Leben gescheitert sind und ihre Kinder gleich mitnehmen in Armut und Verwahrlosung; denn Arbeitsplätze gibt es für diese Menschen hier in Brandenburg - außer vielleicht 1-Euro-Jobs - nicht, weitere soziale Hilfen, beispielsweise über Landesprogramme, auch nicht, und Bildungschancen für arme Kinder angesichts des geradezu miserablen allgemeinen Bildungsniveaus in Brandenburg insgesamt schon dreimal nicht.

Doch die Landesregierung sieht dies natürlich völlig anders. Sie ist allen Ernstes der Meinung:

„Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II helfen, den Lebensunterhalt der von Arbeitslosigkeit Betroffenen und ihrer Familienangehörigen zu sichern, und mildern die finanziellen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit.“

Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, das glauben Sie doch wohl selbst nicht!

Von den im Juni 2006 - nach Ihren Aussagen - 51 991 Bedarfsgemeinschaften von Alleinerziehenden mit Kindern bzw. Ehepaaren und Lebensgemeinschaften mit Kindern konnte - dies wage ich zu behaupten - keine einzige - jawohl, keine einzige! Ihren Lebensunterhalt wirklich sichern und die finanziellen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit mildern. Rechnet man pro Bedarfsgemeinschaft nur zwei Kinder - das dürfte eher untertrieben sein -, so leben hier in Brandenburg knapp 120 000 Kinder unter dem Existenzminimum, und dies bei einer Bevölkerung von rund 2,5 Millionen. Das sind gut 20 % aller Brandenburger Kinder.

Was tut diese Landesregierung dagegen? Statt angesichts dieser erschreckenden Tatsachen schnellstmöglich alle verfügbaren Mittel einzusetzen, um diese katastrophale Kinderarmut zu beheben, beauftragt sie erst einmal fünf externe Institute - mit welchen Kosten? -, um einen Sozialbericht des Landes zu erstellen, der nach ihren Aussagen Ende 2007 veröffentlicht wird, nach dem Motto: Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründe ich einen Arbeitskreis. - Ich bedanke mich vorerst.

(Beifall bei der DVU)

Für die Koalitionsfraktionen spricht die Abgeordnete Hartfelder.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich nutze die Beantwortung der Großen Anfrage, um einige grundsätzliche Anmerkungen zu machen. Das Thema „Armut“, speziell „Kinderarmut“, beschäftigt uns hier im Plenum nicht zum ersten Mal. Die DVU-Fraktion legt ihrer Fragestellung vor allem Ausführungen des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zugrunde. Die Größenordnung der Zahlen, die für den Umfang der Kinderarmut herangezogen werden, schwanken allerdings erheblich.

Für das Jahr 2005 ging man in einer UNICEF-Vergleichsstudie von 1,5 Millionen armen Kindern und Jugendlichen aus. Der Paritätische Wohlfahrtsverband nannte für dasselbe Jahr die Zahl von 1,7 Millionen Kindern. Der Kinderschutzbund geht für 2006 von 2,5 Millionen Kindern aus und beruft sich dabei auf Angaben der Bundesagentur für Arbeit. Die Zahlen zur Armut von Kindern differieren also immerhin um fast eine Million.

Wenn wir über Armut reden, ist auch die Definition nicht unwichtig. Die WHO definiert Armut wie folgt: Arm ist derjenige, der monatlich weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens seines Landes zur Verfügung hat. - In den Mitgliedsländern der Europäischen Union geht man sogar noch weiter; denn hier ist derjenige arm, der weniger als 60 % des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Damit lag beispielsweise 2003 die Armutsgrenze in Deutschland bei einem Familieneinkommen von 938 Euro, in Österreich im gleichen Zeitraum bei 785 Euro.

Wir müssen uns aber auch fragen, welche Armut wir meinen. Armut kann absolut oder relativ sein. Es gibt verdeckte und freiwillig gewählte Armut. Wirklich arme Menschen fühlen sich oft überhaupt nicht arm, weil für sie andere Werte zählen, als das Geld. Hingegen fühlen sich manche Menschen arm, weil sie sich mit Nachbarn vergleichen, die wohlhabender sind als sie.

Oft betrachten wir Armut nur unter finanziellem Gesichtspunkt; es geht aber auch um die soziale Armut und die geistige Armut, die wiederum oft sozial bedingt sind. Soziale und geistige Armut wiegen schwerer und sind gesellschaftlich problematischer als finanzielle Armut; denn wenn es auch nicht angenehm ist, jeden Cent zweimal umdrehen zu müssen, ist eine intakte Familie viel mehr wert als jede Million Euro. Eine nicht intakte Familie kann sehr viel mehr Schaden anrichten

als der Umstand, dass man einen Cent zweimal umdrehen muss.

(Beifall bei der CDU)

Es stimmt - das ist fast so etwas wie ein Hoffnungsschimmer -, dass aus materieller Armut nicht zwangsläufig soziale Armut erwächst. In einer UNICEF-Studie heißt es: Kinderarmut lässt sich nicht nur am Einkommen festmachen. Kinder aus armen Familien sind in vielerlei Hinsicht benachteiligt und ausgegrenzt. Aber neben dem Mangel an materiellen Dingen fehlt es oft an Zuwendung, Erziehung und Bildung. - Meine Damen und Herren von der DVU, wir haben uns in der Tat schon sehr oft im Plenum damit auseinandergesetzt, wie wir Zuwendung, Erziehung, Bildung und Hilfen für Familien verbessern können.

In einer Pressemitteilung des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln vom September 2006 heißt es: Deutschland ist nach Frankreich der zweitgrößte Sozialstaat der Welt. Die Nettosozialleistungsquote betrug im Jahre 2001 30,8 %, 8,3 Prozentpunkte mehr als im Schnitt der 23 untersuchten OECD-Länder. Selbst die sogenannten klassischen Wohlfahrtsstaaten Schweden und Dänemark liegen hinter der Bundesrepublik Deutschland.

UNICEF kommt allerdings auch zu dem Ergebnis, dass die Höhe der Sozialausgaben allein nicht über das Ausmaß von Kinderarmut entscheidet. Wir Deutschen setzen das Geld wenig effektiv ein, weil die Bedürfnisse der Kinder den Bedürfnissen der Eltern nachstehen. Es ist schwierig, das zu ändern. Die Verteilungsdebatten führen wir schon sehr lange.

Ich will ein Beispiel nennen: Wenn alkoholabhängige Eltern das Kindergeld für Schnaps und Bier ausgeben, muss jedem klar sein, dass dieses Geld dann den Kindern in dieser Familie fehlt. Doch wie will man das anders regeln?

Natürlich haben Kinder, wenn Eltern sich ihrer Verantwortung nicht bewusst sind, einen schweren Start ins Leben. Doch man kann, auch wenn man es wollte, nicht alle so gefährdeten Kinder von Staats wegen aus dem Hause wegholen und vom Staat erziehen lassen.

Viele Kinder, die auf der Strecke bleiben, kommen leider aus zerrütteten Familien, deren Einkommen aber nicht unbedingt niedriger ist als die sogenannte Armutsgrenze von 938 Euro.

Eine Stigmatisierung, wie Herr Nonninger sie suggeriert hat, dass Hartz-IV-Empfänger oder Arbeitslose es von vornherein schwerer hätten, ihre Kinder zu erziehen, halte ich für falsch. Ich glaube, dass Arbeitslose - auch Langzeitarbeitslose - sehr wohl ihre Kinder erziehen können. In allen sozialen Schichten gibt es familiäre Probleme, auch in Familien, in denen sich die Eltern in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen befinden, sogar in Akademikerfamilien. Gerade dort mangelt es oft an Zeit für die Zuwendung zu den Kindern, oder die Prioritäten sind nicht zugunsten der Kinder gesetzt.

Ich glaube auch, dass die Familieneinkommen von Hartz-IVEmpfängern gerade in Brandenburg häufig höher sind als die genannten 938 Euro. Das gilt insbesondere im Vergleich mit Familien, in denen beide Eltern berufstätig sind; denn sie müssen einen erheblichen Teil ihres Einkommens für den Beruf

ausgeben, zum Beispiel für die Fahrt zur Arbeit. Deshalb bitte ich darum, dass solche Stigmatisierungen nicht vorgenommen werden.

Abschließend sage ich: Wir wollen möglichst kein Kind zurücklassen. Kein Kind soll arm sein. Wie dies zu schaffen ist, wird unterschiedlich gesehen und erfordert eine globale, umfassende Betrachtungsweise. - Vielen Dank.

(Beifall bei CDU und SPD)

Für die Linkspartei.PDS-Fraktion erhält der Abgeordnete Krause das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kinderarmut ist ein wichtiges Thema. Leider ist sie - schlicht und schlecht - Grundlage für diese Debatte. Fragen, die die DVU-Fraktion gestellt hat, und leider auch die Qualität der Antworten des Ministeriums geben keine gute Basis für diese Diskussion ab.

Auch die Intention der DVU-Fraktion ist in der Debatte gerade noch einmal deutlich geworden. Sie würden gern die deutschen Kinder von den Spielkonsolen abholen und zum Kuscheln nehmen; andere Kinder sind Ihnen egal. Gerade deshalb ist die Debatte heute hier nicht zielführend. - Vielen Dank.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Da die Landesregierung auf ihren Redebeitrag verzichtet, erhält nun noch einmal der Abgeordnete Nonninger für die DVUFraktion das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Hartfelder, 90 % aller Kinder mit Förderbedarf stammen - laut Prof. Dr. Wocken von der Universität Hamburg - aus der sozialen Unterschicht. So viel dazu.

Zu Ihnen, Herr Krause: Wir sprachen hier von Brandenburger Kindern und unter Brandenburger Kindern sind auch Kinder mit Immigrationshintergrund.

(Zuruf von der Linkspartei.PDS)

- Es geht darum, was ich hier sage.

Die Landesregierung hat sich vorgenommen, Brandenburg zu einer besonders kinder- und familienfreundlichen Region in Europa zu machen. Diesen Satz haben im September 2005 Herr Ministerpräsident Platzeck, der heute nicht anwesend ist, Sie, Frau Ministerin Ziegler - sie ist auch nicht anwesend -, und Sie, Herr Minister Rupprecht - zumindest er ist von der Landesregierung anwesend -, aus Anlass der Konferenz „Familien- und kinderfreundliches Brandenburg“ unterschrieben. Welch ein Hohn!

Nach Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes gelten in Brandenburg 20,3 % der Kinder als arm. Dies ent

spricht im Übrigen nahezu exakt der im ersten Teil meiner Rede erwähnten Berechnung.

Kinder in Arbeitslosengeld-II-Familien steht ein Sozialgeld in Höhe von monatlich 207 Euro zu. Damit - so der Chef des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Ulrich Schneider - sei kein Musikunterricht, kein Sportverein, kein Zoobesuch, kein Computerkurs oder Nachhilfeunterricht möglich. Das besagt, dass diese Kinder nicht nur materiell, sondern auch sozial arm sind. Dadurch sinken die Bildungschancen.

(Beifall bei der DVU)

Mit der Kinderarmut entsteht ein gewaltiges Zukunftsproblem, warnte die Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes Gabriele Wichert. Notwendig sei, dass Kinder - ebenso wie vor der Hartz-IV-Zeit - für Schulbedarf, Wintermäntel oder für den Schulausflug Sonderzuschüsse erhalten könnten. Da die Niveaus von Sozialhilfe, Arbeitslosengeld II und Sozialgeld zu knapp und realitätsfern berechnet seien, müssten diese generell - so der Verband weiter - für alle Bezieher um 19 % steigen. Doch Sie, meine Damen und Herren Sozialdemokraten, die Sie ebenso wenig sozial sind wie Ihre Kollegen von der CDUFraktion christlich, haben im Bundesrat den unsozialen HartzIV-Gesetzen bekanntlich zugestimmt.

(Beifall bei der DVU)

Die Folgen für die Kinder listen Sie dankenswerterweise in Ihren Antworten zu Frage A.VII.1 aufgrund der Schuleingangsund Kinderreihenuntersuchung der Gesundheitsämter in genauen Zahlen auf. 20,3 % der eingeschulten Kinder leiden an Sprachstörungen; davon 9,8 % in schwerer Form. 12 % leiden an Wahrnehmungs-, psychomotorischen und Teilleistungsstörungen, 8,8 % an intellektueller Entwicklungsverzögerung, 4,8 % an emotionalen und sozialen Störungen sowie 4,3 % an Adipositas.

Ein Großteil der sozial schlecht gestellten Familien nimmt darüber hinaus die Früherkennungsuntersuchungen für Kinder nicht oder nur zu einem sehr geringen Teil in Anspruch. Diese Kinder und ihre Eltern sind schlicht und ergreifend zu arm, um sich ausreichend und gesund zu ernähren, sich zu kleiden, am kulturellen oder gesellschaftlichen Leben teilzunehmen oder besonders bei lang andauernder Arbeitslosigkeit - vernünftig miteinander umzugehen. Die Theater- oder Musikschulförderung, die sogenannten Workshops des Potsdamer Filmmuseums und selbst der neue Brandenburger Familienpass gehen an dieser Bevölkerungsgruppe spurlos vorbei. Und auf dem flachen Land? - In den berlinfernen Regionen gibt es - anders als in Ihrer Darstellung - schon längst kein kulturelles Leben mehr, sondern nur noch Verödung und Langeweile.

(Zuruf von der Linkspartei.PDS: So ein Blödsinn!)

Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Landesregierung, darauf hinweisen, dass sich die Mittel für die Kindertagesbetreuung von 2006 zu 2007 um gut 14 Millionen Euro erhöht haben, ist das zwar schön und gut, führt aber noch lange nicht zu einem Kita-Platz für alle Kinder - wenigstens bis zum vollendeten 10. oder 12. Lebensjahr - zumindest für die Eltern, die es wünschen.

Die für kompensatorische Sprachförderung im Jahr vor der

Einschulung zur Verfügung gestellten 422 000 Euro sind darüber hinaus ebenso ein Tropfen auf den heißen Stein wie die 10 000 Euro für das sogenannte „Netzwerk Gesunde Kita“ und die 40 000 Euro für die Konsultations-Kindertagesstätten Gesundheit. Bei einer Aufteilung von 50 000 Euro auf gut 120 000 von Armut und Not betroffene Kinder im Land Brandenburg ergibt das 41 Cent pro Kind. Eine tolle Relation.

Auf unsere Frage, welche Maßnahmen die Landesregierung auf Bundes- und EU-Ebene ergreifen will, um die Kinderarmut in Brandenburg zu verringern, antworteten Sie lapidar - dies muss ich noch einmal zitieren:

„Bei Bundesratsinitiativen oder in Gesprächen mit der Bundesregierung ist das Thema Armut meist nicht explizit ausgewiesen.“