Protokoll der Sitzung vom 15.12.2004

Frau Abgeordnete Lehmann, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Sehr geehrte Gäste! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie uns die Überschrift der internationalen OECD-Studie „Starting strong“ auf unsere heutige Landtagssitzung übertragen: starker Start! - Ein guter Grund für eine Aktuelle Stunde, wie ich meine.

Aber im Ernst: Wir Sozialdemokraten meinen, die Betreuung unserer Jüngsten im Lande ist immer ein gutes und ein richtiges Thema für eine Aktuelle Stunde. Durch die bereits genannte Studie wird dies in ganz besonderer Weise noch bestärkt. Erstmalig liegt mit dem OECD-Länderbericht für Deutschland eine internationale Beurteilung des Angebots an frühkindlicher Betreuung, Bildung und Erziehung vor. Die OECD-Studie zeigt uns präzise, wo unsere Stärken und Schwächen liegen.

Das Konzept von Betreuung, Bildung und Erziehung aus einer Hand in engem Kontakt mit den Eltern und der Gesellschaft und die hervorragende Versorgung mit Plätzen in den neuen Bundesländern wird von den Experten positiv vermerkt.

Allerdings weist die OECD-Studie auch deutlich auf die Mängel des deutschen Systems hin. Sie legt eine höhere Versorgungsquote für die Kleinsten in den alten Bundesländern, höhere Ausbildungsstandards für die Erzieherinnen und Erzieher in den Bundesländern sowie eine Ausweitung von Forschung und Datensammlung. nahe Alle Kinder in Deutschland müssen von Geburt an die gleichen Chancen haben, egal aus welchem Elternhaus sie kommen und in welchem Bundesland sie wohnen.

Wenn wir überall in unserem Land vergleichbare Lebensbedingungen haben wollen, müssen wir in der Fürsorge für Kinder und Jugendliche einheitliche Standards setzen und bewahren. Dies sieht auch die OECD so und mahnt in dieser Frage eine stärkere Rolle des Bundes an. Dies mag bitte auch die Föderalismuskommission in Berlin beachten.

Die Brandenburger SPD fordert dringend, dass das KJHG - das

Kinder- und Jugendhilfegesetz - in allen seinen Teilen in Bundesverantwortung bleibt.

(Beifall bei SPD und PDS)

Artikel 74 Abs. 1 Nr. 7 Grundgesetz - öffentliche Fürsorge - ist nun wirklich nicht für Machtpokerspiele geeignet.

Die internationale OECD-Studie bescheinigt uns in Brandenburg ein hervorragend ausgebautes Kinderbetreuungssystem. Fast 50 % der Kinder von 0 bis 3 Jahren haben einen Krippenplatz, nahezu alle Kinder von 3 bis 6 Jahren - genau 90 % - einen Kita-Platz und gut 46 % der über 6- bis 12-Jährigen einen Hortplatz. Damit haben wir in Brandenburg die beste Versorgungslage bei der Kinderbetreuung. Des Weiteren bescheinigt uns die Studie beispielgebende Maßnahmen im Bereich der Standard- und Qualitätsentwicklung.

(Beifall des Abgeordneten Schulze [SPD])

Die Rahmenbedingungen hierfür hat die Politik unter schwierigen Umständen geschaffen. Die SPD hat für die bestehende Struktur in der Kita-Betreuung bereits Anfang der 90er Jahre die Weichen gestellt. Dieses für uns Sozialdemokraten so wichtige Anliegen konnten wir auch in der Koalition mit der CDU in den weiteren Jahren verfolgen.

Die letzten 14 Jahre waren für alle Beteiligten eine verdammt große Herausforderung. Durch den Einbruch der Geburtenzahlen wurden ca. 10 000 Erzieherinnen und Erzieher freigesetzt, Einrichtungen mussten geschlossen werden.

In Brandenburg suchten wir fachlich und fachpolitisch einen dritten Weg zwischen Tradition Ost und West, zwischen Buntheit, Innovation, Beliebigkeit einerseits und Einheitlichkeit, stringenter Programmatik, Verbindlichkeit andererseits.

Die Grundsätze für die pädagogische Arbeit in den frühen 90er Jahren stellten allgemeine Rahmensetzungen dar und sind heute längst durch bundesweite Bildungspläne ersetzt.

Die Bedeutung der frühen Bildung haben wir in Brandenburg bereits 1997 mit dem Modellprojekt „Auf dem Weg zu einem Bildungsauftrag für Kitas“ thematisiert. Zu dieser Zeit war das Thema „Bildung in der Kindertagesbetreuung“ eher randständig. In der DDR war es durch die Konzentration auf eine Belehrungspädagogik fachlich in einer Sackgasse. Im Westen hatte man sich nach der Auseinandersetzung um kompensatorische Erziehung und das allgemeine Vorschuljahr aus dieser Diskussion völlig verabschiedet.

Aus den ehemals getrennten Einrichtungen Krippe, Kindergarten und Hort sind überwiegend gemischte Einrichtungen geworden. Fachlich konnten wir in Brandenburg auf ein hohes Ansehen der Fachkräfte sowie entsprechendes Selbstbewusstsein und Engagement der Erzieherinnen aufbauen. Diese guten Fundamente und die neu gewonnenen Freiheiten haben den Impuls dafür ausgelöst, dass sich in Brandenburg sehr gute und innovative Kita-Einrichtungen entwickelt haben. Einige von ihnen präsentieren ihre Ergebnisse inzwischen bundesweit und sind im Lande als Konsultationseinrichtungen wirksam.

Jedoch hat der Wegfall des alten Kontrollsystems und der verbindlichen Vorgaben zu Qualitätsproblemen in der Breite ge

führt. Was konnte die Politik hier bewirken? Die Qualität der Arbeit ist nur mittelbar zu steuern. Zudem fehlen verlässliche Kenntnisse über die Qualität. Die Instrumente der Kindergarten-Einschätzungsskala sind in Deutschland zwar sehr umstritten, aber es fehlen Alternativen dazu. Wir haben uns in Brandenburg entschlossen, diese Instrumente zu einer beständigen Qualitätsbeobachtung zu nutzen, zwar nicht flächendeckend, aber im Zusammenhang mit Modellprojekten und im Rahmen von landesweiten Qualitätswettbewerben. Sie sind darüber hinaus in vielen Einrichtungen Gegenstand kritischer und selbstkritischer Konzeptreflexion.

Unsere Praxisberater im Lande, 60 an der Zahl, die Integrationskindertagesstätten, die überregionalen pädagogischen Zentren, die Witaj-Projekte an unseren Kitas, das 10-StufenProjekt Bildung, der Ausbau der Tagespflege, einhergehend mit Qualifizierung und Qualitätsmessung, das Projekt KidSmart und auch das deutsch-polnische Hortprojekt in der Euro-Kita in Frankfurt (Oder) sind einzelne Bausteine und machen insgesamt die Kita-Betreuung in Brandenburg aus.

Eine bewegte Zeit liegt hinter uns. Selbstbewusst können wir sagen: Die Investition in diesen Bereich hat sich gelohnt. Mit der OECD-Studie „Frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung“ bestätigen nunmehr auch Experten, dass sich diese Investition nicht nur gelohnt hat, sondern dass sie auch richtig war. Andere werden nun aufgefordert, es den Brandenburgern gleichzutun.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)

Ministerpräsident Matthias Platzeck hatte Recht, als er schon sehr frühzeitig deutlich gemacht hat, dass es im Kita-Bereich keine weiteren Einschnitte geben darf.

(Beifall bei der SPD)

Die Politik kann wirklich nur die Weichen stellen. Gelebt wird das in der Fläche, gelebt wird das vor Ort.

Die Aktuelle Stunde wäre nicht redlich, würden wir uns nicht bei all jenen bedanken, die sich in den letzten 14 Jahren so aufopferungsvoll in die Betreuung unserer Kinder in Brandenburg eingebracht haben.

(Beifall des Abgeordneten Bischoff [SPD])

Als Erstes nenne ich unsere Erzieherinnen. Sie hatten wohl mit die größte Hürde zu nehmen. In der Studie wird dies sehr eingehend beschrieben. Wir sagen Danke und bitten weiterhin um ihr Mittun; denn der strukturelle Umbau geht weiter, wir stecken täglich mittendrin.

Bedanken möchten wir uns bei den Trägern der Einrichtungen, den kommunalen Trägern, den freien Trägern, und auch bei den Elterninitiativen.

In der Kinderbetreuung brauchen wir auch künftig Tagespflege für Kleinstkinder als Betreuungsform in dünn besiedelten Gebieten und für ungewöhnliche Betreuungszeiten. Tagespflege kann auch als ergänzende Einzelbetreuung an eine Kindertagesstätte gekoppelt sein. Hier benötigen wir noch Tagesmuttis, aber auch Tagesvatis. Bitte melden Sie sich in Ihren zuständigen Jugendämtern vor Ort!

Wichtige Partner für eine bedarfsgerechte Kinderbetreuung sind für uns natürlich die örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe, sprich: die Landkreise und kreisfreien Städte. Sie setzen den Rechtsanspruch durch und haben die direkte Steuerungsmöglichkeit vor Ort.

Kinder bis zum vollendeten 3. Lebensjahr haben einen Rechtsanspruch, wenn ihre familiäre Situation dies erforderlich macht. Hier muss künftig neben der Vereinbarkeit von Familie und Beruf das Wohl und die Entwicklung des Kindes verstärkt in Betracht gezogen werden. Nur so können wir mit der Kinderbetreuung auch einen Beitrag zur Chancengleichheit leisten. Nirgendwo sonst hängen die Lebenschancen und die Bildungsmöglichkeiten von Kindern so stark von der Herkunft ab wie bei uns in Deutschland.

Die Landkreise und kreisfreien Städte sind für uns aber auch wichtige Partner bei der Reihenuntersuchung und der Frühförderung der Kinder von 0 bis 6 Jahren. Reihenuntersuchung und Frühförderung sind wichtige Bestandteile und gehören zum Gesamtkomplex der Kinderbetreuung in Brandenburg.

Die Besetzung der Gesundheitsämter in einzelnen Landkreisen gibt Anlass zu der Sorge, dass wir die Reihenuntersuchung in den Kindertagesstätten nicht hundertprozentig erfüllen können. Damit wäre natürlich auch die Frühförderung infrage gestellt. Unsere Botschaft an die Landkreise und die kreisfreien Städte: Lassen Sie hier bitte keine Defizite zu! Es muss uns allen wichtig sein, drohende Behinderungen frühzeitig zu erkennen. Letztlich spart uns das später finanzielle Leistungen in den Bereichen Eingliederungshilfe und Jugendhilfe.

(Vereinzelt Beifall bei der PDS)

Ich mahne an dieser Stelle auch die Rahmenvereinbarung zwischen den Krankenkassen und der kommunalen Seite an. Diese Rahmenvereinbarung ist unendlich wichtig, damit vor Ort in interdisziplinären Frühförderstellen komplexe Leistungen der Frühförderung erbracht werden können und damit auch eine komplexe Finanzierung dieser Leistungen gewährleistet ist.

Mit der Aussage in der vorliegenden OECD-Studie sehen wir uns in der SPD in der bisherigen Politik bestätigt und in der zukünftigen Politik bestärkt. Künftig ist es wichtig, den Übergang von der Kindertagesstätte in die Grundschule noch besser zu gestalten. Hierbei benötigen Pädagogen und Erzieher ein gleiches Verständnis von und über Bildung. Beide Partner, Pädagogen und Erzieher, müssen sich hierbei auf gleicher Augenhöhe gegenüberstehen.

Der Schwerpunkt Bildung in den Kindertagesstätten darf nicht zulasten des sonderpädagogischen Ansatzes gehen - ein schwieriger, aber machbarer Spagat. Dafür wünsche ich uns allen für die nächsten Jahre dieser Wahlperiode viel Erfolg. Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der PDS)

Danke. - Die Debatte wird mit dem Beitrag der Abgeordneten Große von der PDS-Fraktion fortgesetzt.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Das tut doch einmal richtig gut: Nach „PISA I“ und möglicherweise auch „PISA II“ und allen möglichen Länderrankings endlich ein Erfolg „Made in Brandenburg“. Das wollen wir nicht kleinreden; schönreden aber sollten wir es auch nicht.

(Beifall bei der PDS)

Die OECD-Untersuchung über Kindergärten beklagt, dass in den deutschen Einrichtungen Erziehung und frühkindliche Bildung einen zu geringen Stellenwert haben und für die schlechten „PISA“-Ergebnisse mitverantwortlich sind. Sie sagt aber auch, dass sich die ostdeutschen Länder deutlich von den westlichen Bundesländern abheben. Auch die Ursachen dafür, die zum Beispiel in einem anders tradierten Verständnis von der Rolle der Frau, der Aufgabe der Familie und der Verantwortung des Staates liegen, werden in der Studie ansatzweise benannt.

Den neuen Bundesländern wird die beste Versorgungslage bei der Kindertagesbetreuung in Deutschland bescheinigt. Es tut zweifellos gut zu hören, dass es auch Bereiche gibt, in denen die ostdeutschen Bundesländer die Nase vorn haben. Darüber sollten wir uns freuen, aber nicht in Euphorie verfallen und uns keine heile Welt vorspiegeln, wie es die Koalition im Antrag zur Begründung dieser Aktuellen Stunde getan hat. Vielmehr sollten wir die Ergebnisse kritisch hinterfragen und gut überlegen, wie wir mit ihnen umgehen.

Unsere Spitzenposition resultiert nicht zuletzt aus der guten Ausgangslage, dem hohen Versorgungsgrad und den hohen Standards aus DDR-Zeiten, die zum Glück nach der Wende nicht - wie im Schulbereich - voreilig über Bord geworfen und an das Niveau der alten Bundesländer angepasst wurden. Sie resultiert auch aus der qualitativ hochwertigen Erzieherinnenausbildung in der DDR. Immerhin sind es noch ca. 70 % der Erzieherinnen, die in dieser Zeit ausgebildet wurden.

Die Ankündigungen der CDU, im Rahmen der Haushaltskonsolidierungen hier möglicherweise doch Kürzungen vorzunehmen, die von der SPD offensichtlich noch einmal aufgehalten werden konnten, sind Anlass zur Besorgnis. Wir meinen ohnehin, dass die positive Bilanz nicht übertrieben werden sollte, und möchten, dass wir uns über folgende Mängel nicht hinwegtäuschen:

Erstens: Der Versorgungsgrad weist - zumindest bei den Plätzen für Kinder unter 3 Jahren - in den ostdeutschen Ländern rückläufige Tendenzen auf. Von 1994 bis 2002 ging er von 41 % auf 36,9 % zurück. Gemessen an den 2,3 % von Baden-Württemberg ist das natürlich immer noch ein sehr hoher Standard. Dennoch: Auch die hervorragenden Zahlen für Brandenburg von 2002 mit damals noch 44 % entsprechen nicht mehr dem aktuellen Stand, da SPD und CDU in der vergangenen Legislaturperiode mit dem Entlastungsgesetz den Rechtsanspruch für Kinder von 2 bis 3 Jahren, deren Eltern erwerbslos sind, leider eingeschränkt haben. Damit werden gerade die Kinder ausgegrenzt, die nachweislich zur Risikogruppe der Kinder mit Entwicklungsdefiziten gehören und dringend einer qualifizierten Kindertagesbetreuung bedürften. Ich möchte die SPD an dieser Stelle noch einmal an ihre Aussagen im Rahmen des Wahlkampfes erinnern, hier möglicherweise nochmals Handlungsbedarf anzumahnen.

Zweitens: Es gibt hinsichtlich des Bildungs- und Erziehungsauftrages in den Kitas Grund zur Sorge. Zwar wurden für die Brandenburger Kitas Grundsätze elementarer Bildung erarbeitet, doch deren Durchsetzung konnte bisher lediglich mit den Kitas in freier Trägerschaft vereinbart werden. Die Träger der kommunalen Kitas - das sind immerhin noch zwischen 60 % und 70 % - sahen sich aufgrund unzureichender Finanzierung dazu bisher nicht in der Lage. Das heißt nicht, dass in diesen Kitas keine Bildungsarbeit geleistet wird. Verbindliche Vereinbarungen fehlen aber noch.

Drittens: Landesweit ist, wenn auch von Landkreis zu Landkreis und von Kommune zu Kommune unterschiedlich, eine Erhöhung der Elternbeiträge zu verzeichnen, sodass sich junge Familien immer häufiger aus finanziellen Gründen gegen die Betreuung ihres Kindes in einer Kita entscheiden oder den Betreuungsanspruch zurückschrauben müssen.

Viertens: In den letzten Jahren sind zahlreiche Kindertagesstätten geschlossen worden. Setzt sich diese Entwicklung fort, ist die noch vorhandene Infrastruktur - wohnortnahe Kindereinrichtungen - im Land Brandenburg gefährdet.