Protokoll der Sitzung vom 10.04.2008

Meine Damen und Herren! Ich begrüße Sie herzlich zur heutigen 66. Plenarsitzung des Landtages Brandenburg.

Als Gäste begrüße ich zu Beginn dieser Sitzung die Kameradinnen und Kameraden der Alters- und Ehrenabteilung der Feuerwehr aus dem Amt Temnitz. - Herzlich willkommen im Landtag Brandenburg! Ich wünsche Ihnen einen interessanten Vormittag.

(Allgemeiner Beifall)

Zur vorliegenden Tagesordnung gibt es folgende Informationen: Zum Tagesordnungspunkt 5, Landtagsneubau, ist nunmehr die Redezeitvariante 2 verabredet worden.

Der ursprüngliche Tagesordnungspunkt 12, „Kriminalität kontinuierlich bekämpfen - Personalabbau in der Polizei stoppen“ soll als neuer Tagesordnungspunkt 6 behandelt werden.

Gibt es Bemerkungen zu dieser so geänderten Tagesordnung? Wenn das nicht der Fall ist, lasse ich über die Tagesordnung abstimmen. Wer nach dieser Tagesordnung verfahren möchte, den bitte ich um sein Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? - Beides ist nicht der Fall.

Wir haben heute auf einige Mitglieder der Landesregierung zumindest zeitweise zu verzichten. Herr Minister Speer wird bis 13 Uhr von Frau Ministerin Ziegler vertreten, Herr Minister Woidke ganztägig von Herrn Minister Dellmann und Herr Minister Schönbohm ab 17 Uhr von Frau Ministerin Wanka. Herr Minister Junghanns wird bis 13 Uhr ebenfalls von Frau Ministerin Wanka vertreten. Einige Abgeordnete leiden auch unter diversen Erkrankungen und fehlen heute.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:

Aktuelle Stunde

Thema: Vorgaben und Chancen der Pflegereform im Sinne der Betroffenen nutzen

Antrag der Fraktion der SPD

Wir eröffnen die Debatte mit dem Redebeitrag der SPD-Fraktion. Es spricht die Abgeordnete Lehmann.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Gäste! Wir werden immer älter und bleiben auch im Alter gesund und aktiv. Das jedenfalls ist eine gute Nachricht. Jedoch ist es nicht jedem Menschen vergönnt, gesund alt zu werden bzw. im Alter alles wie gewohnt erledigen zu können. Hilfe, Betreuung, Pflege werden erforderlich.

Die Einführung der Pflegeversicherung 1995 war ein großer Schritt in der sozialpolitischen Entwicklung unseres Landes. Sie genießt bei Versicherten wie Pflegebedürftigen ein hohes

Maß an Akzeptanz. Über 2 Millionen Pflegebedürftige erhalten jeden Monat verlässlich ihre Leistungen.

Nach nunmehr 13 Jahren wurde eine Weiterentwicklung der Pflegeversicherung erforderlich, um für die künftigen Entwicklungen gewappnet zu sein. Denn der Anteil der älteren und hochbetagten Menschen an der Gesamtbevölkerung wächst stetig. Es wird davon ausgegangen, dass 2030 etwa 3 Millionen Menschen pflegebedürftig sein werden. Außerdem wird der Hilfebedarf der Pflegebedürftigen immer komplexer. Neben körperlichen Einschränkungen treten immer mehr geistige und psychische Defekte - bis hin zu schweren Demenzerkrankungen - auf. Dazu kommen entscheidende Veränderungen in der Sozialstruktur wie eine wachsende Anzahl von Singlehaushalten.

Das Pflegeweiterentwicklungsgesetz tritt zum 1. Juli dieses Jahres in Kraft. Mit der Anhebung des Beitragssatzes um 0,25 Prozentpunkte sind die Leistungen der Pflegeversicherung bis 2015 finanzierbar. Wir haben damit eine solide finanzielle Basis.

Kritiker werfen uns an dieser Stelle Halbherzigkeit vor. Die Sicherstellung der Pflegereform bis 2015 sei ein viel zu kurzer Sprung, eben kein großer Wurf.

Bezüglich der Finanzierung der Pflegeversicherung unterscheiden sich CDU und SPD fundamental. Die CDU möchte den allmählichen Umstieg in die private Finanzierung des Pflegerisikos, und wir möchten einen gerechten Ausgleich des Pflegerisikos zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung.

In dieser Frage konnten wir uns nicht einigen. Ich sage aber auch: Gott sei Dank! Denn es wäre eh nur ein fauler Kompromiss geworden.

Mit uns Sozialdemokraten ist nur eine solidarische Finanzierung machbar. Nur so kann der Risikoausgleich gerecht auf alle Schultern verteilt werden.

(Vereinzelt Beifall bei der SPD)

Die jetzige Finanzierung ist ehrlich. Trotz Beitragserhöhung werden Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanziell nicht zusätzlich belastet, da mit einhergehender Reduzierung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung die Lohnnebenkosten konstant bleiben bzw. sogar geringfügig gesenkt wurden.

Nur am Rande angemerkt: Das ist auch ein wichtiger wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Aspekt, so gesehen, neben der soliden Finanzierung eben auch ein guter und kluger Wurf.

Zwar werden die Rentner durch die Beitragserhöhung zur Kasse gebeten, jedoch mit der Rentenerhöhung wieder entlastet.

Aber viel wichtiger ist doch: Welche Leistungen und Maßnahmen wird die Pflegereform künftig möglich machen?

Das nunmehr vorliegende Reformgesetz enthält ein rundes Maßnahmenpaket zugunsten der pflegebedürftigen Menschen, ihrer Angehörigen und der Pflegerinnen und Pfleger.

Die Pflegereform erweitert den Pflegebegriff um Beratung, Betreuung und Assistenz in Gänze und wird somit die Versorgung erheblich verbessern.

Der Rechtsanspruch auf Pflegeberatung ab 2009 macht den Begriff der Weiterentwicklung in der Pflege besonders deutlich und ist eine logische Konsequenz aus der bisherigen Entwicklung bei der Pflegebedürftigkeit der Menschen.

Neben der stationären Pflege - der klassischen Form - und der ambulanten Pflege schafft es neue Rahmenbedingungen für alternative Wohnformen und stärkt somit die wohnortnahen Strukturen. Dabei steht die Sicherung der häuslichen Pflege und Betreuung im Zentrum der Regelungen.

Die Anhebung der Leistungsbeträge in den drei Pflegestufen der ambulanten Pflege, der neue Leistungsanspruch für Menschen mit eingeschränkter Altersdemenz von bis zu 2 400 Euro jährlich, die Möglichkeit des Pools von Pflegeleistungen in Wohngemeinschaften oder Nachbarschaften, die Einführung der sechsmonatigen Pflegezeit und natürlich die Einrichtung von Pflegestützpunkten mit einem umfassenden unabhängigen Beratungsangebot unter einem Dach - all diese Maßnahmen werden die Pflege zu Hause erleichtern; denn die meisten Menschen wünschen sich, so lange wie möglich in ihrem vertrauten Wohnumfeld gepflegt und betreut zu werden.

Die Implementierung der Pflegestützpunkte war eine schwierige Geburt. Unser Koalitionspartner ist davon nicht so recht überzeugt. Die Pflicht der Pflege- und Krankenkassen zur Errichtung von Pflegestützpunkten wird an die Voraussetzung geknüpft, dass das jeweilige Bundesland dies auch will. Ich sage deutlich: Wir in Brandenburg möchten Pflegestützpunkte. Wir brauchen Pflegestützpunkte. - Ich gehe davon aus, dass die Landesregierung diese Stützpunkte für Brandenburg in enger Abstimmung mit allen Beteiligten in entsprechender Weise bestimmen wird.

Viele pflegende Angehörige beklagen weniger die eigentliche pflegerische Aufgabe, sondern vor allem die Vorbereitung und Organisation rund um die Pflege. Allzu oft hört man noch folgende Aussage: Man muss von Pontius zu Pilatus laufen. - Hilfe aus einer Hand ist erforderlich. In Pflegestützpunkten sollen Mitarbeiter unterschiedlicher Kostenträger ihre Dienstleistung unter einem Dach anbieten. Die Pflegestützpunkte sind also keine eigenen Behörden, sondern die räumliche Bereitstellung verschiedener Trägerleistungen. Ich kann es noch deutlicher sagen: Pflegestützpunkte sind keine verfassungsrechtlich unzulässigen Mischverwaltungen. - Das nur für die Oberbedenkenträger.

Ich wünsche mir sehr, dass sich in Brandenburg diese Angebotsform entwickelt. Es ist nichts Neues, sondern die Bündelung vorhandener Strukturen. Es mag für Pflegekassen, Wohlfahrtsverbände und Kommunen ungewohnt sein, in getrennter Verantwortung als gemeinsames Angebot zu fungieren. Hier sind Kreativität, gesunder Menschenverstand und der ernsthafte Wille gefragt.

Mit der Anschubfinanzierung des Bundes können in Brandenburg etwa 40 Pflegestützpunkte eingerichtet werden. Die Pflegereform ermöglicht zudem die Finanzierung von zusätzlichem, sozialversicherungspflichtig beschäftigtem Personal für die soziale Betreuung von Demenzerkrankten, psychisch Kranken und behinderten Menschen, die in Pflegeheimen leben. Das ist neu und wird für viele Einrichtungen eine echte Entlastung bringen.

Zudem begrüßen wir, dass die Pflegereform die Verbesserung der Pflegequalität und die Erhöhung der Transparenz im Pfle

gebereich aufgreift und entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen vorgibt. Hier ist unter anderem die Entwicklung von Qualitätsstandards für die stationäre und ambulante Pflege vorgesehen. Ab dem Jahr 2011 werden durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen - überwiegend ohne Ankündigung jährlich Qualitätsprüfungen durchgeführt werden. Die Berichte sind in verständlicher und leicht zugänglicher Form zu veröffentlichen.

Nach der Reform ist vor der Reform. So ist es auch in diesem Fall. Immerhin hat das Bundesministerium für Gesundheit einen Beirat eingerichtet, der ein Gutachten für die Weiterentwicklung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs erarbeitet. Das halten wir für wichtig; denn die Pflegeversicherung erfasst nicht alle Bedarfe der hilfebedürftigen Menschen. Es geht vor allem um das Zusammenspiel von Pflegeversicherung und regionaler Alten- und Pflegepolitik. Es geht um die Koproduktion von Pflegeversicherung und Kommune. Das Leben im Alter ist mehr als Pflege, und Pflege ist mehr als Pflegeversicherung. Ende dieses Jahres soll das Gutachten vorliegen. Klar ist, dass ein veränderter Begriff von Pflegebedürftigkeit auch zu Veränderungen bei den Pflegeversicherungsleistungen führen wird. Dies wird uns jedoch erst in der nächsten Wahlperiode beschäftigen.

Tatsache ist: Zu diesem Thema bleiben wir - in Brandenburg in ganz besonderer Weise - im Gespräch, unter anderem durch die Umsetzung der Pflegereform, durch die Pflegeinitiative „Später beginnt jetzt“ und durch das Heimgesetz, das wir in dieser Legislaturperiode noch zu behandeln haben.

In Brandenburg erhielten im Jahr 2005 74 600 Personen Leistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz. Das entspricht 2,9 % der Gesamtbevölkerung. 20 200 Personen arbeiten im Pflegebereich, wovon etwa 90 % Frauen sind. Der 1. Juli ist für sie ein guter Tag; denn die Pflegereform bringt ihnen viel Gutes. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei SPD und CDU)

Für die Fraktion DIE LINKE erhält die Abgeordnete WolffMolorciuc das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Gäste! Am 1. April 1995 ist die Pflegeversicherung als jüngster Zweig der sozialen Sicherungssysteme in Kraft getreten. Sie war von Beginn an ein Teilkaskomodell mit den Bestandteilen Grundpflege - dazu gehören Körperpflege, An- und Auskleiden, Ernährung sowie Mobilität - und hauswirtschaftliche Versorgung. Zur Spezifik der sozialen Pflegeversicherung gehörte weiterhin die Deckelung der Beträge. Diese Deckelung hat dazu geführt, dass natürlich auch nicht mehr ausgegeben werden kann. Anders ausgedrückt: Es gibt einen Realwertverlust der Leistungen. Ein Pflegebedürftiger bekommt heute - im Vergleich zu 1995 - 15 % weniger an Leistungen. Wenn man sich dann die Anhebung der Leistungen in einigen Bereichen der Pflegeversicherung ansieht, die nun beschlossen wurden, dann wird damit nicht einmal dieser reale Wertverlust ausgeglichen. Stationär betreute Pflegebedürftige in den Pflegestufen I und II erhalten im Übrigen keine Erhöhung.

Die Bundesregierung ist mit dem Pflegeweiterentwicklungsgesetz weit hinter den eigenen Ansprüchen der Koalitionsvereinbarung zurückgeblieben. An dieser Stelle, Kollegin Lehmann, würde ich mich der Einschätzung der Halbherzigkeit anschließen. Besonders bedauerlich ist, dass der dringend notwendige Finanzausgleich zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung nicht angefasst worden ist. Damit hat eine Situation Bestand, in der die Rücklagen der sozialen Pflegeversicherung es sind noch etwa 0,35 Milliarden Euro vorhanden - so gut wie aufgebraucht sind, während die Rücklage der privaten Pflegeversicherung 14 Milliarden Euro beträgt.

Ausgangspunkt für eine Pflegereform muss eine Neudefinition des Pflegebegriffs - diesbezüglich gebe ich Ihnen, Frau Lehmann, Recht - sein: nicht nur Hilfe bei Verrichtungen der Grundpflege, sondern Betreuung, Anleitung, Beaufsichtigung und Kommunikation müssen unter diesen Pflegebegriff fallen. Dies betrifft vor allem Demenz- und psychisch Kranke sowie geistig Behinderte. Die Bundesregierung hat diese Aufgabe erst einmal vertagt.

Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz sollen durch das Pflegeweiterentwicklungsgesetz stärker berücksichtigt werden. Gemessen am Betreuungsaufwand und an der großen Zahl Betroffener können die geplanten Leistungsverbesserungen aber nur ein erster Schritt sein. Demenziell Erkrankte werden 1 200 bzw. 2 400 Euro pro Jahr erhalten. Das wären pro Tag maximal 6,57 Euro, um zusätzliche Betreuungsleistungen einzukaufen. Würde man alle demenziell Erkrankten einbeziehen, ergäbe sich aus dem Gesamtvolumen eine Leistung von 1,00 bis 1,50 Euro pro Tag. Die Verbesserungen gehen in die richtige Richtung; keine Frage. Jedoch muss die finanzielle Ausstattung künftig aufgestockt werden.

(Beifall der Abgeordneten Lehmann [SPD])

- Frau Lehmann, Sie hätten ruhig lauter applaudieren können, eventuell hätten sich weitere Abgeordnete Ihrem Beifall angeschlossen.

(Zuruf der Abgeordneten Lehmann [SPD])

- Ich meinte Ihren zaghaften Beifall. Sie wollten applaudieren, und ich wollte Sie mit meinem Hinweis nur animieren, dies unbedingt zu tun.

(Görke [DIE LINKE]: Genau!)