Protokoll der Sitzung vom 09.07.2008

Während Sie Ihre Plätze einnehmen, begrüße ich Schülerinnen und Schüler der 9. Klasse des Marie-Curie-Gymnasiums aus Dallgow-Döberitz als unsere Gäste. Herzlich willkommen im Landtag und einen spannenden Vormittag für euch!

(Beifall)

Meine Damen und Herren, der Landeswahlleiter hat uns darüber informiert, dass Herr Dr. Andreas Trunschke mit Wirkung vom 30. Mai 2008 Mitglied des Landtages Brandenburg geworden ist. Er gehört, wie Sie ahnen, der Fraktion DIE LINKE an. Wieder herzlich willkommen im Landtag Brandenburg!

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE und des Abgeordne- ten Schulze [DVU])

Ich habe Sie ferner darüber zu informieren, dass der Antrag „Gymnasien in Wittstock und Treuenbrietzen sichern“ vom Antragsteller zurückgezogen worden ist, weil sich das Thema inzwischen erledigt hat.

Zur Tagesordnung gibt es Folgendes zu bemerken: Wir führen einen zusätzlichen Punkt 6 ein: 2. Lesung des Gesetzes zu dem Staatsvertrag vom 06.03.2008 über die Flutung der Havelpolder und die Einrichtung einer gemeinsamen Schiedsstelle. Dieser Tagesordnungspunkt soll ohne Debatte verhandelt werden. Der frühere Tagesordnungspunkt 6 wird damit zu Tagesordnungspunkt 7 und soll nunmehr mit Redezeitvariante 1 beraten werden.

Weitere Änderungswünsche zum Entwurf der Tagesordnung liegen mir nicht vor. Gibt es von Ihrer Seite noch Bemerkungen zur Tagesordnung? - Herr Görke, hat sich das erledigt, oder wollen Sie einen Antrag stellen?

Herr Präsident, wir haben uns gestern in der Runde der Parlamentarischen Geschäftsführer auf dem kurzen Dienstweg auf die Vorziehung von Tagesordnungspunkt 12 verständigt, da zu dem Punkt „Drittes Gesetz zur Änderung des Brandenburgischen Meldegesetzes“ eine Redezeit vereinbart worden ist. Einen entsprechenden Antrag an Sie habe ich formuliert. Ich bitte darum, dass wir diesem Antrag hier folgen.

Dann werde ich dem Hohen Haus noch einmal mitteilen, was Sie denn beantragt haben: Die Tagesordnungspunkte 7, Fünftes Gesetz zur Änderung des Kindertagesstättengesetzes, und 12, Drittes Gesetz zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes für das Land Brandenburg, sollen in der Reihenfolge getauscht werden. Wenn es Einverständnis mit diesem Antrag gibt, bitte ich um Ihr Handzeichen. - Das ist eindeutig die Mehrheit.

Wer der so geänderten Tagesordnung in Gänze zustimmen möchte, den bitte ich wiederum um das Handzeichen. - Gibt es

Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Beides ist nicht der Fall. Damit ist die Tagesordnung beschlossen.

Wir steigen in die Tagesordnung ein, und ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:

Aktuelle Stunde

Thema: „Bildung in Deutschland 2008“ Der zweite nationale Bildungsbericht und seine Konsequenzen für Brandenburg

Antrag der Fraktion DIE LINKE

Wir beginnen mit dem Redebeitrag der Fraktion DIE LINKE. Es spricht die Abgeordnete Große.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Kurz vor dem Ende des Schuljahres ist ein guter Zeitpunkt, in diesem Hause über Bildung zu debattieren. Eingestimmt wurden wir durch eine künstlerische Installation der Potsdamer Studenten aus dem Kunstbereich, die auf ein Problem aufmerksam gemacht haben, um das es - unter anderem - im Bildungsbericht geht.

Meine Damen und Herren Abgeordneten, Sie alle werden heute noch ein Geschenk von den Potsdamer Studenten erhalten. Gehen Sie also heute nicht weg, ohne in Ihre Fächer geschaut zu haben! Damit meine ich insbesondere diejenigen, die das Geschenk noch nicht bekommen haben.

Sie, meine Damen und Herren der Koalition, haben in den letzten Tagen durch hyperaktives Aufzucken das Bildungsthema besetzen wollen. Da verkaufte der Kollege Senftleben ein 7-Punkte-Programm, das dann plötzlich ein gemeinsamer Antrag der Koalition werden sollte - wie peinlich für die SPD.

Dann gab es einen kleinen Bildungsgipfel, auf dem wiederum auch ein Papier verabschiedet wurde.

Kurze Zeit darauf war die Einigkeit schon wieder dahin. Kollege Baaske forderte ein Umdenken in Sachen Zugangsbeschränkungen für Gymnasien - zu Recht, wie wir meinen.

Sie geben in dieser Koalition derzeit ein recht diffuses bildungspolitisches Bild ab. Das muss ich schon sagen.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Zeitweise entsteht der Eindruck, die SPD lasse sich von der CDU treiben. Diese wiederum agiert vor allem ob ihrer desolaten politischen Situation mit Blick auf Wählerstimmen. Die vom Minister versprochene Ruhe, die er einziehen lassen wollte, will sich einfach nicht einstellen.

Ein riesiges Personalkarussell dreht sich derzeit wieder an den Schulen und führt zu erheblichem Frust bei Schülern, Eltern und Lehrkräften.

(Zuruf des Abgeordneten Lunacek [CDU])

- Lassen Sie uns mit der heutigen Aktuellen Stunde die Füße fest auf den Boden stellen, Herr Lunacek! Lassen Sie uns die Situation analysieren, die uns mit dem Bericht als Spiegel vorgehalten wurde, und daraus ableiten, welche Schritte wirklich nötig sind!

(Zuruf des Abgeordneten Klein [SPD])

- Genau, Herr Kollege Klein. Daran haben Sie offensichtlich gute Erinnerungen.

(Klein [SPD]: Nein, gute nicht, schlechte! Aber Erinne- rungen!)

- Ach so? - Lassen Sie uns das alles tun, ohne vordergründig an die Wählergunst, wohl aber an eine gute Bildung aller unserer Landeskinder zu denken. Vermutlich werden uns 7-PunkteProgramme und Sozialpäckchen insoweit nicht wirklich weiterhelfen. Es bedarf neuer strategischer Überlegungen, denn die Befunde sind auch für das Land Brandenburg nicht gut. Die Zeit drängt. Wir dürfen uns keine verlorene Generation leisten.

Der zweite nationale Bildungsbericht zeigt in trauriger Kontinuität zu PISA, TIMMS und dem OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick“: Die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss ist erschreckend hoch. Schüler mit Hauptschulabschluss haben keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Das gegliederte System erweist sich als Rutschbahn der sozialen Auslese. Die Anzahl der Studienanfänger und Absolventen ist unzureichend. Das Bildungssystem verstärkt die Kopplung von sozialer Herkunft und Bildungsbeteiligung. Das System ist unterfinanziert. Die Ausgaben sind seit 1995 von 6,9 % des Bruttoinlandsproduktes auf 6,2 % des Bruttoinlandsproduktes gesunken.

Es gibt also stabile Problemlagen. Das steht in einem KMKGeheimprotokoll, das DIE LINKE auch einmal hat sehen können. Ich weiß nicht, wie oft in Deutschland nun noch festgestellt werden muss, dass dies so ist, ohne dass sich Entscheidendes ändert. Irgendwie hat das schon etwas von Masochismus.

Immerhin wird die Bundeskanzlerin das Thema jetzt zur Chefsache machen, nachdem sie im Rahmen der Föderalismusreform gerade alle Kompetenzen des Bundes aus der Hand gegeben hat. Mit Chefsachen haben wir in diesem Land keine so guten Erfahrungen gemacht. Ich hoffe, ehrlich gesagt, auch nicht so sehr auf den Bildungsgipfel am 22. Oktober in Dresden. Wir sehen ja am Beispiel des Meseberger Gipfels zur Kinderarmut, wie folgenlos solche Gipfel sind.

Nun zum Bericht, der sich diesmal insbesondere mit den Übergängen beschäftigt, die ein guter Indikator für die Effektivität des Systems sind. Ich kann hier nur schlaglichtartig einige Bereiche streifen, in denen es aus unserer Sicht akuten Handlungsbedarf gibt.

Der gute Versorgungsgrad mit Plätzen im Bereich der frühkindlichen Bildung wird von der Landesregierung immer schulterklopfend hervorgehoben. Wir klopfen da auch auf die Schultern. Für die Null- bis Dreijährigen kann man das gelten lassen. Bei den Drei- bis Sechsjährigen haben uns inzwischen selbst das Saarland, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz überholt. Hier liegt unsere Versorgungsquote nur noch bei

91,6 %. Dass wir den sonst guten Versorgungsgrad mit dem schlechten Personalschlüssel bezahlen, haben wir im letzten Landtag debattiert und werden es auch heute wieder anhand unseres Gesetzentwurfs tun.

Fazit: Hier müssen Stärken wirklich gestärkt werden, um die eigentlich guten Voraussetzungen durch eine bessere Personalausstattung und durch frühere Sprachförderung zu sichern. Auch da sind wir übrigens nicht mehr so gut: Es gibt Bundesländer mit längeren Förderzeiträumen. Die kompensatorische Funktion der Kita auch zur Resilienz bei krisenhaften Lebenslagen von Kindern muss gestärkt werden. Im letzten Jahr vor der Schule sollten alle Kinder erreicht werden, ohne dass dies eine Vorschule wird. Hier mein Appell an die Kollegen von der SPD: Mein Kreistag mit einer SPD-Mehrheit will jetzt eine Vorschule haben. Reden Sie einmal mit Ihren Kolleginnen und Kollegen. Kita-Erzieherinnen müssen genauso wie Lehrerinnen Stunden für die Kooperation mit der Schule zur Verfügung gestellt werden.

Zum Übergang Kita - Schule: Mädchen werden häufiger eher eingeschult, Jungen häufiger zurückgestellt. Dies gilt auch für Brandenburg. Das „Jungenproblem“ beginnt schon sehr früh, ist aber wohl eher die fehlende Fähigkeit des Systems, mit Jungen umzugehen.

Die Zahl der Rückstellungen ist auch in Brandenburg unbefriedigend hoch. Ich erinnere daran, dass man in Finnland die Philosophie hat, Kinder mit Defiziten früher einzuschulen, um ihnen Zeit zu geben. Besorgniserregend ist aus unserer Sicht, dass sich die Landesregierung offensichtlich verweigert, die soziale Dimension der Rückstellungen überhaupt zu betrachten. Angeblich liegen dazu keine Daten vor. Wir wissen aber, dass die Einschulungsuntersuchungen zum Beispiel in MOL bewiesen haben, dass 20 % der Kinder mit niedrigem sozialen Status zurückgestellt wurden, aber nur 5 % der Kinder mit höherem sozialen Status.

Fazit: Rückstellungen möglichst verhindern, um die Lebenszeit von Kindern nicht schon beim Start ineffizient zu nutzen, wie in Berlin Wiederholungen im Grundschulbereich per Gesetz versagen, FLEX gut ausstatten und zügig flächendeckend einführen, vor allem wegen der anderen Förderphilosophie. Das ist angesagt. Hier sehe ich bei der Koalition und der Landesregierung bisher wenig Bewegung. Die ersten FLEX-Schulen melden sich schon ab, weil die personelle Ausstattung nicht ausreicht.

Ich komme jetzt zu dem Verfahren, das landespolitisch am meisten widerspiegelt, welches wohl auch den meisten Änderungen unterlag - dem Ü7-Verfahren. Hier bescheinigen wir von der Fraktion DIE LINKE Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition und der Regierung, völliges Versagen. Das können Sie auch dem Bildungsbericht entnehmen. Sie haben hier ganz klar Weichen falsch gestellt. Statt den Zugang zu den Gymnasien so zu gestalten, dass die Schüler auch dort gefördert werden können, haben Sie den Zugang erschwert. Zentrale Vergleichsarbeiten und Probeunterricht sind völlig falsche Mittel, bedienen ein zutiefst konservatives Menschenbild, das in dem Begriff der Leistungsgerechtigkeit - CDU - gipfelt und das leider gegen jede Beschlusslage in der SPD auch dieser Bildungsminister verinnerlicht hat.

Dazu verleugnen Sie auch hier, dass das Aufnahmeverfahren natürlich Kinder aus risikobehafteten Problemlagen benachtei

ligt. Sie geben vor, hier keine Datenlage zu haben, wissen aber, dass Schüler mit Lernmittelbefreiung zu 30 % an Förderschulen und zu 2,5 % an Gymnasien sitzen. Welcher Zusammenhang besteht da wohl?

Dazu haben Sie die Leistungs- und Begabungsklassen eingeführt, die natürlich die sechsjährige Grundschule aufweichen werden. Das Szenario ist gerade wieder von Herrn Senftleben eröffnet worden. Es führt dazu, dass bei vielen nun abgelehnten Kindern erste Einschnitte in Bildungsbiografien und Enttäuschungen entstehen, die nicht motivierend sind. Sie haben die Oberschule eben nicht durchlässig gestaltet. Das wird auch nicht dadurch wahr, dass Sie es immer wieder behaupten.

Sie treiben die bildungsinteressierten Eltern aufgrund der Mangelausstattung mit Lehrkräften den Privatschulen zu. Auch da liegen wir inzwischen über der Zahl in einigen alten Bundesländern. Fazit kurz und schmerzlos: Kehrtwende, weg mit den Leistungs- und Begabtenklassen, den zentralen Vergleichsarbeiten, dem teuren Probeunterricht hin zu individueller Förderung begabter Schüler - einzeln und in heterogenen Gruppen, am besten länger gemeinsam -, gezielte Lehrkräfteförderung und Lehrkräftefortbildung, mehr Schüler zu hoher Bildung befähigen und dazu die Rahmenbedingungen schaffen! Kein „Teile und herrsche!“, sondern gute Bildung für alle. Für alle meint alle!

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Brandenburg nimmt einen traurigen Spitzenplatz ein: 10,7 % aller 15- bis 17-Jährigen haben keinen Schulabschluss. Das wird nur noch in Mecklenburg-Vorpommern und SachsenAnhalt überboten. Herr Ministerpräsident, Sie strapazieren häufig die schöne finnische Losung „Keinen zurücklassen!“ in Ihren Reden und Punktepapieren. Vielleicht glauben Sie sogar, dass Ihre Regierung das umsetzt. Die Ergebnisse gerade bei den Abschlüssen sprechen aber eine andere Sprache.

Die Landesregierung weiß auch hier wieder nichts über die soziale Herkunft dieser Schüler, geht aber davon aus - so ist es in der Antwort auf unsere Große Anfrage zur Kinderarmut dargelegt worden -, dass ein großer Anteil dieser Schüler aus Familien kommt, die von Transferleistungen leben. So ist auch in Brandenburg Bildungsarmut an soziale Armut gebunden, und beides wird im System nicht kompensiert, sondern verstärkt.

Wenn nur 4,6 % der Schüler an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen - wir haben bundesweit prozentual die meisten Schüler an diesen Förderschulen - den Hauptschulabschluss erreichen, dann stellt sich wirklich ernsthaft die Frage: Was läuft hier falsch? Zumindest aber steht die Antwort auf die Frage aus, weshalb der Abschluss an der Förderschule in unserem Land so gestrickt ist, dass ihn nur so wenige schaffen.

Fazit: Das System der allgemeinen Förderschule ist zu überprüfen, vor allem aber sind die Bedingungen zur Integration von Kindern mit dem Förderbedarf Lernen grundlegend zu verbessern. Das geht mit der Ausbildung von Sonderpädagogen und dem Ausbau des Netzes der Schulpsychologen los und endet mit der personellen Ausstattung der Schulen.