Protokoll der Sitzung vom 09.09.2010

(Beifall CDU)

Die Aussagen, die wir in letzter Zeit - und es sind ja nicht nur diese - von Ihnen gehört haben, Herr Ministerpräsident, rufen nur noch zum Kopfschütteln auf, aber eigentlich nicht zu einer Aktuellen Stunde. - Vielen Dank.

(Beifall CDU und GRÜNE/B90)

Frau Abgeordnete Kaiser spricht für die Linksfraktion.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Ludwig, nur damit es gesagt ist: Ich kenne niemanden hier im Haus, der die negativen Seiten der DDR-Geschichte beschönigt, relativiert oder verdrängt.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Wenn wir gemeinsam etwas zu tun haben, dann ist es doch, in diesem Land Verantwortung zu übernehmen, und zwar egal, in welcher parlamentarischen Rolle wir uns befinden. Das haben die PDS und die Linksfraktion als Opposition getan, und das tun wir jetzt in der Regierung. Ich hoffe, Sie übernehmen sich nicht, wenn Sie auch Verantwortung übernehmen für die letzten 20 Jahre, in denen die CDU auch in verschiedener Verantwortung war. Das zumindest ist meine Erwartung. Da ist es aufseiten der Opposition ein bisschen wenig, die Regierung nur zu kritisieren. Mein Verständnis ist ein anderes.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete, was ist denn Aufregendes passiert, dass die FDP als Thema der Aktuellen Stunde die Frage stellen musste: „20 Jahre deutsche Einheit - Anschluss oder Beitritt?“

(Frau Lehmann [SPD]: Ja!)

Der Ministerpräsident dieses Landes, der dieses Amt seit acht Jahren unangefochten bekleidet - auch von der CDU zweimal mitgewählt -, gab ein umfassendes Interview. Ich bleibe beim Text der Begründung der FDP zur Aktuellen Stunde, womit Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion - allein Sie selbst -, unterstellen, dass der Gebrauch des Wortes „An

schluss“ nur eine einzige historische Parallele, nur ein Verständnis zulässt. Diese, Ihre eigene Unterstellung, soll dann den Maßstab für die Bewertung der Frage, ob der Ministerpräsident die freiheitlich demokratische Grundordnung verstanden hat, liefern. Entschuldigen Sie bitte, aber diese Fragestellung ist zumindest inquisitorisch.

Von einem geordneten Beitritt war 1989 im Übrigen auch nicht die Rede. Das alles kann man nachlesen. Da gibt es schöne Fußnoten in der Geschichte. Die Situation war geprägt von Hektik. Die SPD war schon im Sommer 1990 aus der Regierung ausgetreten. Die FDP hatte Herrn de Maizière als Ministerpräsidenten die Gefolgschaft schon versagt. Finanzminister und Treuhandchef waren zurückgetreten. Die Volkskammer hat dann aus Versehen in der Hektik nur ihren eigenen Beitritt nach Artikel 23 beschlossen. Der Präsident der Volkskammer Höppner gab später in seiner Autobiografie zu, dass man das im Protokoll verändert hätte. Den Beitritt nämlich hatte nur die Volkskammer beschlossen, nicht die DDR, aber beschlossen hatte sie es nicht, sondern nur im Protokoll geändert.

Deswegen sage ich: Lassen Sie uns gemeinsam erinnern. Es gibt unterschiedliche Sichten und einen unterschiedlichen Fokus. Die sollen hier Platz haben in der ganzen Widersprüchlichkeit.

(Zuruf des Abgeordneten Senftleben [CDU])

Der Versuch, widersprüchliche Erfahrungen und komplexe Realitäten aus der politischen Diskussion zu verdrängen und uns hier eine ganz eigene Hochglanzversion von Geschichte anzubieten, wird scheitern. Wohin Populismus führt, Frau Dr. Ludwig, ja, das wissen wir hier, glaube ich, alle.

(Zuruf: Das haben wir gestern gehört!)

Ganz offensichtlich merken Sie nicht einmal, dass Sie mit dieser Variante von Hochglanzversion der Geschichte und der Unterstellung an die Adresse des Ministerpräsidenten genau den von ihm angemahnten Respekt vor vielschichtigen Erfahrungen und Lebensleistungen der Menschen hier im Land verweigern.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Sie reden eben nicht über das Leben der Brandenburgerinnen und Brandenburger. Sie reden nicht über deren Probleme und Erfahrungen, sondern Sie wollen eine bestimmte Lesart des Interviews des Ministerpräsidenten aufdrängen und die Widersprüchlichkeit des Alltags tabuisieren.

(Frau Lehmann [SPD]: Richtig!)

Damit geraten Sie für mich in die Rolle ideologischer Tugendrichter. Ich hätte das nicht erwartet.

(Beifall DIE LINKE und SPD - Zuruf des Abgeordneten Senftleben [CDU])

Angesichts dieser aktuellen Debatte, befürchte ich, werden wir noch ziemlich zu kämpfen haben, um die mit der Enquetekommission angestrebten Ziele wenigstens nicht ganz aus den Augen zu verlieren. Es mag in der Medienlandschaft ja noch gelingen, wissenschaftliche Differenziertheit und Komplexität aus den tagesaktuellen Debatten herauszudrängen. Aber sollte - was ich nicht will - das auch die Arbeit der Kommission bestimmen,

dann wären eine Menge Steuergelder und Zeit schlicht verplempert.

(Frau Lehmann [SPD]: Das ist wahr!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, was hat denn Matthias Platzeck nun unter anderem noch gesagt? Lesekompetenz war hier gestern auch Thema im Hause. Er sagte:

„Wir Ossis haben einen Transformationsprozess geschafft, den kein Westdeutscher durchmachen musste.“

Er hat nirgends die Aufbauleistungen infrage gestellt in diesem Interview, nirgends, Frau Dr. Ludwig. Er sagte:

„Die DDR ist seit Jahren tot. Ich kenne keinen ernstzunehmenden Menschen, der sie wiederhaben will. Brandenburg ist ein modernes Land.“

- Ja, und in diesem Land lebe ich gern, lebt meine Fraktion, meine Familie gern. Wir engagieren uns hier genau aus diesem Grund.

Der Ministerpräsident erlaubt sich kritische Anmerkungen dazu, wie die Treuhand gehandelt hat. Er spricht zur Deindustrialisierung, zur Arbeitslosigkeit, zu gesellschaftlichen Verwerfungen sowie zum Fehlen selbst kleinster symbolischer Gesten in Richtung Osten. Und mit dem grünen Pfeil ist das so eine Sache. Der wurde übernommen, aber in Hamburg, habe ich vorige Woche gesehen, steht da noch ein Erklärungsschild, was der grüne Pfeil bedeutet, nämlich: vor Abbiegen bei Rot Stopp an der Haltelinie.

Vielleicht sollten Sie vor Abbiegen vor der rot-roten Regierung doch noch einmal Stopp machen, nachdenken und überlegen, ob Sie auf dem richtigen Weg sind.

(Beifall DIE LINKE und SPD - Zuruf des Abgeordneten Senftleben [CDU])

Ich gebe zu, an einer Stelle des Interviews war ich auch überrascht, nämlich als ich mich dann so nebenbei in der Kategorie angeblicher Nostalgiker wiederzufinden glaubte, die versuchen, aus Frust politisches Kapital zu schlagen. Herr Ministerpräsident, aber ich weiß, wie ich das zu lesen habe. - Geschenkt.

(Zurufe von der CDU: Genau! Genau! Jawohl!)

Angesichts der heutigen Debatte, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU und der FDP, will ich Sie bloß einmal fragen: Wollen Sie wirklich, dass angesichts von Jubiläen rein gar nichts Kritisches mehr gesagt werden darf? Ich dachte, diese Zeiten hätten wir eigentlich überwunden.

(Senftleben [CDU]: Natürlich!)

Ich frage Sie sehr ernsthaft und doch freundlich: Ist nicht die Bundesrepublik Deutschland in den letzten 20 Jahren auch merklich anders geworden? Selbst wer 1989 noch reinen Herzens Helmut Kohl folgte, wollte sicherlich nicht unbedingt in das Land mit § 218 StGB, mit Hartz IV, mit der Ost-West-Rente bzw. Rente mit 67,

(Zurufe von der CDU: Genau!)

einem Zwei-Klassen-Gesundheitssystem, ungerecht verteilten Bildungschancen oder der Beteiligung deutscher Soldaten an Militäreinsätzen im Ausland.

(Zurufe von der CDU)

Im Übrigen, als es um die Entwürdigung bzw. die Nichtanerkennung von Lebensleistungen, von denen Frau Dr. Ludwig sprach, ging, möchte ich darauf hinweisen: Mein Kollege Dr. Woidke hat dazu alles ausgeführt. Es ging um die Nichtanerkennung von Bildungsabschlüssen oder zum Beispiel darum, dass die Lebensarbeitszeit von Leuten zumindest zur Hälfte in einem schwarzen Loch verschwand.

Wenn denn die FDP-Fraktion wollte, dass wir - ich zitiere Ihren Begründungstext -: „miteinander in der modernen, aufgeklärten und demokratischen Bundesrepublik ankommen“, dann bietet unsere Debatte hier heute nicht gerade das Bild, als hätten wir das schon einmal geschafft, jedenfalls was das Zuhören betrifft.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Wer hätte damals gedacht, dass Ossis und Wessis nach 20 Jahren immer noch qua Geburts- und Arbeitsort verschieden bezahlt werden? Ich sage Ihnen, diese Entwicklungen folgten alle keinem Naturgesetz, sondern sie wurden politisch entschieden. Daran, sehr geehrte Kollegen von CDU und FDP, sind auch Sie beteiligt.

Lassen Sie uns also weiter streiten und nicht, wie Sie gestern sagten, Herr Kollege Lipsdorf, den Ministerpräsidenten darum bitten, Stellung zu nehmen. Stellung genommen habe ich 20 Jahre nicht, und ich vermisse auch nicht, dass ich es nicht mehr tun muss.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Deshalb plädiere ich dafür. Ich bin bei politischen Debatten immer für weniger Aufregung und mehr für Anregung. Ich muss Ihnen leider auch sagen: Sie kultivieren hier seitens der Opposition seit Monaten die Aufregung, und Ihre Erregung bleibt leider manchmal folgenlos. Ich denke an die Haushaltsdebatte und das Nichtwissen, wie man etwas finanzieren soll. Sie haben mal eben eine globale Minderausgabe vorgeschlagen, aber keinen einzigen untersetzten Antrag zum Haushalt eingebracht, als wir über den Haushalt 2010 diskutiert haben. Das ist ein Fakt.

(Senftleben [CDU]: Lesen!)

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal unterstreichen: Die Fähigkeit zu lesen und Texte in ihrer Gesamtheit zu erfassen kommt Ihnen leider in letzter Zeit oft abhanden.