Ich möchte an dieser Stelle noch einmal unterstreichen: Die Fähigkeit zu lesen und Texte in ihrer Gesamtheit zu erfassen kommt Ihnen leider in letzter Zeit oft abhanden.
Deshalb sage ich noch einmal: An keiner Stelle seines Interviews - an keiner Stelle, meine Damen und Herren! - hatte Matthias Platzeck den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes mit dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland gleichgesetzt. An keiner Stelle! Dass Sie das faktisch unterstellen, ist eine unglaubliche Diffamierung,
die demokratischer Streitkultur unwürdig ist. Ich möchte an dieser Stelle nur noch bemerken: Er hat eine Anschlusshaltung kritisiert, und das haben mit ihm auch andere getan. Zum Begriff an dieser Stelle sage ich Ihnen noch: „Anschluss“ haben im englischsprachigen Raum sehr viele Wissenschaftler gesagt. Prof. Evans - er lehrt in Cambridge moderne Geschichte schrieb, die Vereinigung sei „less a true unification than an Anschluss“, und er benutzte sogar das deutsche Wort Anschluss wie auch viele andere. Im Übrigen benutzen auch viele - zum Glück - nach wie vor den Begriff „friedliche Revolution“, obwohl 1917 die Oktoberrevolution stattgefunden hat.
Lassen Sie uns einfach vernünftig und sachlich miteinander umgehen! Ich wünsche mir das für die Zukunft und habe die Hoffnung nicht aufgegeben.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einer Vorbemerkung beginnen: Wir alle tragen Verantwortung für dieses Land, und damit meine ich nicht nur das Land Brandenburg. Wir alle tragen Verantwortung dafür, dass dieses staatlich geeinte, aber im Empfinden zu vieler Menschen immer noch nicht vollständig vereinigte Deutschland weiter zusammenwächst.
Unser wesentliches Instrument als Politiker ist dafür das Wort, und mit diesen Worten gilt es sorgsam umzugehen. Dies gilt für den Ministerpräsidenten wie für uns. Zur Problematik der Verwendung des Begriffs „Anschlussmentalität“ hat der letzte und einzige frei gewählte Fraktionsvorsitzende der SPD in der letzten Volkskammer, Richard Schröder, so denke ich, alles gesagt, was zu sagen ist. Ich meine, wir sollten hier wirklich sprachliche Abrüstung betreiben. An die Adresse der FDP sage ich sehr deutlich: Es geht nicht, dass man das grundlegende Verständnis unseres Ministerpräsidenten für die freiheitlich demokratische Grundordnung in Zweifel zieht. Das ist unanständig, das geht nicht.
„Immer hat Geschichte zwei Komponenten: das, was geschehen ist, und den, der das Geschehene von seinem Orte in der Zeit sieht und zu verstehen sucht. Nicht nur korrigieren neue sachliche Erkenntnisse die alten; der Erkennende selber wandelt sich. Die Vergangenheit lebt; sie schwankt im Lichte neuer Erfahrungen und Fragestellungen.“
Heute ist der Zusammenbruch der SED-Diktatur und auch der anschließende deutsche Vereinigungsprozess Geschichte, und wer meint, die damaligen Ereignisse heute noch mit dem Wissen von damals und an den Maßstäben von vor 20 Jahren messen und beurteilen zu können, der ist aus der Zeit gefallen, der ist im wahrsten Sinne des Wortes anachronistisch.
Natürlich kann jemand auch heute noch sagen, dass der Beitritt nach Artikel 23 aus seiner damaligen Sicht nur die zweitbeste Lösung war. Doch mit einem nüchternen Blick nach 20 Jahren darf man sich schon einmal ehrlich machen und fragen, ob die Alternative - Vereinigung nach Artikel 146 - eine realistische Chance hatte oder ob sie nicht damals schon Illusion war.
Dabei geht es nicht nur um das Zeitfenster, das durch Gorbatschow eröffnet wurde und von dem damals keiner wissen konnte, wie lange es offenbleibt.
Lassen wir ruhig auch einmal den Fakt außer Acht, dass die große Mehrheit der DDR-Bürger bei der ersten freien Volkskammerwahl Parteien wählte, die eine schnelle Vereinigung versprachen. Die Wahl damals war ein Plebiszit, eine Volksabstimmung für die Wiedervereinigung und hat die Frage nach besseren Alternativen praktisch irrelevant gemacht. Man mag das bedauern; und auch viele in meiner Partei hatten sich damals einen anderen Weg gewünscht.
Doch fragen wir uns mit unserem heutigen Wissen, ob ein sich über Jahre hinziehender Verhandlungsprozess zwischen zwei deutschen Staaten mit ihren elf plus fünf Ministerpräsidenten und ihren Länderegoismen überhaupt Aussichten auf Erfolg gehabt hätte. Fragen wir uns, wie lange ein selbstständiger demokratischer Staat DDR als Verhandlungspartner ökonomisch überhaupt noch durchgehalten hätte. Dabei müssen wir davon sprechen, dass das ostdeutsche Wirtschaftssystem nach Zweitem Weltkrieg, SBZ und 40 Jahre DDR in einem Ausmaß marode war, von dem wir damals keine Vorstellung hatten und uns heute kaum noch eine Vorstellung machen können.
Wer heute sagt, an diesem Tag, dem 3. Oktober 1990, begann auch die „gnadenlose Deindustrialisierung“ Ostdeutschlands, der redet ahistorisch. Wer so etwas sagt, sitzt immer noch der SED-Propaganda auf, dass die DDR das weltweit zehntgrößte Industrieland gewesen sei.
Heute wissen wir: Die DDR war keine Industrielandschaft im heutigen Sinne, sondern überwiegend eine Ansammlung von Industriemuseen.
Die Produktion wurde auf Kosten der Werktätigen und der Gesellschaft erhalten und mit einer rücksichtslosen Zerstörung der Umwelt teuer erkauft.
So war der 3. Oktober 1990 auch der Anfang für eine Aufarbeitung der ökologischen Hinterlassenschaften der DDR, auch dies sollte an dieser Stelle der Ehrlichkeit halber einmal gesagt werden: Waldsterben, Kohlenbergbau, ein mit vielen Menschenopfern verbundener Uranabbau, Wasser- und Luftverschmutzung usw.
Wer heute von dieser Zeit spricht, der sollte Ursache und Wirkung schon richtig benennen können, Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit waren nicht primär der Wiedervereinigung geschuldet, sondern in der DDR und ihrer Geschichte bereits angelegt. Wer anderes behauptet, betreibt keine Aufklärung, sondern surft auf Stimmungen und bedient Ressentiments.
„Wir im Osten haben eine komplette Deindustrialisierung überstanden und dabei gemeinsam Hervorragendes geleistet.“
Wenn es unser Ministerpräsident schaffen könnte, noch hinzuzufügen, dass diese Leistung gemeinsam von allen Brandenburgern erbracht wurde - Alten wie Jungen, nach 1990 Zugewanderten wie Alteingesessenen -, und nicht immer „wir“ und „ihr“ zu sagen, weil es ja so schön griffig ist, und es ihm stattdessen gelingen würde, alle Bewohner dieses Landes mitzunehmen und mit Versöhnung wirklich ernst zu machen, dann wäre allen wohler. - Danke schön.
- Völlig. - Zunächst schüttelt mich seit einigen Minuten, seit Frau Ludwig gesprochen hat, „Abscheu und Empörung“. Frau Ludwig, Ihr Zwischenruf, mit dem Sie zum Ausruck brachten, dass Sie Kollegen westdeutscher Herkunft davon ausschließen, hier sachgerechte Beiträge zu leisten, ist wirklich unerhört, kann ich Ihnen nur sagen. Nicht alle westdeutschen Kollegen haben burkardtsches Niveau. Das muss man einmal ganz klar sagen.
Von daher sollten wir doch im vogelschen Sinne alle Menschen, die hier mittun, gleichberechtigt mit ihren Meinungsäußerungen berücksichtigen und keine Zweiklassengesellschaft aufmachen, wie Sie das eben getan haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP! Damit Sie nichts in den falschen Hals bekommen: Ich nehme jetzt hier nicht Stellung, sondern nehme mein Rederecht wahr. Das haben wir uns erkämpft, meine Damen und Herren.
Liebe Frau Ludwig, ich glaube, Sie sollten einmal ein wenig mehr im Osten Deutschlands unterwegs sein, um den Blick zu weiten - ich war vor kurzem im Sächsischen -, wenn Sie sagen, bestimmte Haltungen bei Menschen gebe es nur in Brandenburg. Sie werden erstaunt sein, wenn Sie durch das Erzgebirge fahren oder durch das mecklenburgische Land, dass es dort
sehr ähnliche Haltungen gibt. Vielleicht sollten Sie es einfach einmal tun. Reisen bildet, und dabei kommt man ein Stück weiter. Das hilft dann auch bei der Meinungsbildung, Frau Ludwig.
Meine Damen und Herren! Was ist eigentlich passiert? Man muss ja denken, etwas ganz Grausames, etwas ganz Grusliges. Ich habe dem „Spiegel“ ein Interview gegeben und auf darin gestellte Fragen geantwortet.
Diese Fragen haben sich leider - das habe ich auch bedauert nicht vordergründig mit der Entwicklung des Landes Brandenburg beschäftigt, mit unseren Zukunftschancen oder mit dem Ausblick in die nächsten 20 Jahre.
Nein, die Kollegen haben auf die Zeiten um den Einigungsvertrag herum abgestellt und wollten wissen, wie meine damalige Haltung war, was sich davon heute wiederfindet und was nicht. Das war der Fragenkomplex. Den sucht man sich gemeinhin, wie Sie wissen, nicht aus, sondern der ist vorgegeben. Ich habe also Interviewfragen beantwortet.
Der Kontext des Interviews - ich glaube, er ist im „Spiegel“ auch abgedruckt - war ein Plakat der Bürgerbewegung im Wahlkampf 1990. Diejenigen, die damals hier waren - einige können es nicht kennen, ihr wart ja nicht da, ihr habt keine Ahnung von den Vorgängen -, die hier sozialisiert sind, erinnern sich vielleicht an dieses Plakat: „Artikel 23 - Kein Anschluss unter dieser Nummer“.