Der Kontext des Interviews - ich glaube, er ist im „Spiegel“ auch abgedruckt - war ein Plakat der Bürgerbewegung im Wahlkampf 1990. Diejenigen, die damals hier waren - einige können es nicht kennen, ihr wart ja nicht da, ihr habt keine Ahnung von den Vorgängen -, die hier sozialisiert sind, erinnern sich vielleicht an dieses Plakat: „Artikel 23 - Kein Anschluss unter dieser Nummer“.
Niemand ist damals auf die Idee gekommen, das Wort „Anschluss“ so zu deuten, wie es mir jetzt von manchen unterstellt wird, kein einziger. Die Menschen, die damals unter diesem Label Wahlkampf gemacht haben, hießen Marianne Birthler, Günter Nooke, Wolfgang Ullmann, Konrad Weiß, Jens Reich. Sie werden wohl keinem der Genannten unterstellen wollen, dass sie solche Gedanken im Kopf hatten, wie Sie sie in den Landtag hineinbringen und so tun, als wären sie das Handlungs- und Leitmotiv gewesen. Ich finde, das ist ein Unding, meine Damen und Herren.
Dann kommen wir einmal zu dem Komplex fehlender Jubelgefühle. Das wird mir ja auch unterstellt: Der jubelt nicht genug, der ist wirklich nicht jeden Tag von früh bis spät hinreichend dankbar.
Ich kann nur empfehlen, Frau Ludwig, lesen Sie einmal Studien aus der Zeit um den Mauerfall bis heute, Befragungen, Analysen. Am Sonntag war in der „FAZ“ ein interessanter, vielspaltiger Beitrag, in dem dem Thema nachgegangen wurde „Was ist da im Osten los?“. „Warum sind so viele noch nicht da?“, lautete die Fragestellung dieses Artikels. Die Fragestellung war nicht: Warum sind in Brandenburg so viele noch nicht hinreichend angekommen?, sondern im Osten Deutschlands, ganz generell im Osten Deutschlands.
Damit kommen wir zu den Dingen, die ich im Interview lediglich benannt habe. Ja, es setzte eine gnadenlose Deindustriali
sierung ein. Sie war gnadenlos im Tempo, und sie war gnadenlos in ihren Wirkungen. Ich habe mit keinem Satz gesagt, Herr Vogel, dass sie in Gänze vermeidbar war. Ich weiß sehr wohl, wie die Verhältnisse waren. Ich weiß aber auch, was dann noch draufkam. Ich erinnere nur an das Thema Stahlindustrie. Ja, wir haben uns zum Beispiel dagegen verwahrt, dass die Privatisierung des Stahlwerks Oranienburg in Richtung Krupp geht, weil wir geahnt haben, was passiert. Manche, die dabei waren ich habe nun die Ehre, seit 20 Jahren in dieser Landesregierung zu sein -, wissen das noch. Wir haben dagegen gekämpft. Aber es wurde in diese Richtung privatisiert. Wir wussten, dass es nur genau ein Ziel gibt, nämlich Einsparquoten zu realisieren. Sechs Wochen später war das Stahlwerk geschlossen, nicht, weil es uneffektiv war, sondern weil man es genau zu diesem Zweck gekauft hat. Und das war nicht das Einzige. So etwas, liebe Frau Ludwig, wird man doch wohl in einem historischen Rückblick benennen dürfen. Das ist historische Wahrheit, und die soll man doch heute im Jubel nicht verschweigen müssen. Entschuldigung, wo sind wir denn!
Ich habe damals - Sie haben in München studiert, das ist Ihr Recht und nicht als Vorwurf zu verstehen - in der Landesregierung jede Woche mehrere Termine gehabt, bei denen es ausschließlich zu Belegschaften von Betrieben ging, denen dann gesagt wurde: Es geht nicht weiter! - Ich habe vor Hunderten Brandenburger Stahlwerkern gestanden. Die haben mir gesagt: Du kannst mit deiner Demokratie sonst wo bleiben, wir bauen jetzt unser Werk ab und sehen nicht, wie es die nächsten Jahre weitergeht. - Das war die Realität. Das habe ich Tag für Tag erlebt, Frau Ludwig. Vielleicht sollten Sie wirklich einmal mit Ihren Großeltern intensiver darüber reden, denn sie haben wahrscheinlich davon auch etwas mitbekommen.
Es gab einen weiteren Komplex, der vielleicht nicht jeden zum täglichen Jubel verleitet hat. Das ist dieser schwierige inzwischen in Hunderten juristischen und politischen Aufsätzen beschriebene und diskutierte Komplex „Rückgabe vor Entschädigung“. Wir wissen heute, dass das nicht die günstigste Variante war. Ich habe Anfang der 90er Jahre Menschen in Kleinmachnow und anderswo gegenübergestanden, die nach 35 Jahren aus ihrem Haus ausziehen mussten und ihr Grundstück verloren, weil es Leute gab, die gesagt haben: Wir haben den Rückgabeanspruch, wir sind jetzt hier. - Da können Sie doch nicht erwarten, dass die die Hände heben und sagen „Danke“. Das ist doch weltfremd, das ist doch menschenfremd. Da betreiben Sie schon wieder Geschichtsschönung.
Es ist sehr wohl im gesellschaftlichen Leben so - übrigens immer -, dass, wenn man zwei größere Gruppen vereint...
Wir haben uns seinerzeit gewünscht, dass bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten auch Symbole mitgenommen werden, weil es eine alte, rein psychologische Erkenntnis ist, dass die Gruppe, die in der größeren aufgeht, zu ihrer inneren Stabilisierung ein Stück ihrer Lebenserfahrung, ihrer Lebensstruktur, ihrer Lebenselemente wiedererkennen will, damit sie sich besser aufgehoben fühlt.
Es wäre manches nicht teuer gewesen, es hätte nur eines etwas längeren Nachdenkens bedurft. Ich erinnere in diesem Landtag an diesem Pult, wie sich Regine Hildebrandt noch zwei Jahre lang um das Thema gesundheitliche Betreuung, stationäre und ambulante Versorgung und Polikliniken bemüht hat, weil sie gesagt hat: Das hat sich bewährt. Nehmt doch wenigstens die Strukturgedanken mit auf, nehmt wenigstens dieses Strukturelement mit, damit am Ende bei der einen Gruppe nicht das Gefühl bleibt: Wir haben gar nichts gekonnt, von uns ist gar nichts verwendbar, von uns ist gar nichts der Übernahme würdig.
Ich freue mich sehr, dass die von Ihrer Partei gestellte Bundeskanzlerin - es war nicht nur Thomas de Maizière, wie dankenswerterweise Dietmar Woidke hier gesagt hat - vor fünf Tagen erklärt hat, es wäre besser gewesen - sie hat ganz klar in ihrer Rede gesagt „es wäre besser gewesen“ -, mehr aus dem Leben der DDR-Bürger mit ins neue Deutschland zu nehmen, weil sie sich wohler gefühlt hätten. Nichts anderes habe ich gesagt, verehrte Frau Ludwig, nichts anderes habe ich gemeint, nichts anderes ist niedergeschrieben.
Mich nervt, dass es zwei Haltungen gibt. Ich möchte sie gern zusammenführen. Die eine ist die öffentliche, am 9. November noch einmal vorgeführte, absolute Jubelhaltung, angesichts derer große Verwunderung in den Essays der nächsten Wochen darüber herrschte, dass ein hoher Prozentsatz der Ostdeutschen gesagt hat: Diese im Fernsehen übertragene Feier war nicht unsere Feier. - Das hat großes Erstaunen hervorgerufen.
Aber man muss nicht erstaunt sein, wenn man sich ehrlich die Geschichte vor Augen führt. Erstaunt kann doch nur sein, wer verdrängt und sagt: Das war alles nicht so und das ist nicht so.
Gehen wir doch bitte ehrlich mit den Realitäten um. Wer die 90er Jahre mit offenen Augen erlebt hat, der weiß, dass das eben keine Jubeljahre waren. Ich erinnere mich an den Auftritt von Helmut Kohl in Halle, als er im Anschluss ratlos fragte: Warum reagieren die Menschen so? - Macht doch die Augen auf, dann wisst ihr es, mein Gott. Dabei sage ich immer noch nicht, dass jeder Schritt hätte anders gegangen werden können. Aber man muss doch einmal realistisch sagen dürfen, wie es war, anstatt so zu tun, als sei es nicht so gewesen.
Ich komme zum Komplex Dankbarkeit. Mir wird nicht nur vorgeworfen, ich jubelte nicht genug, sondern auch, ich sei nicht dankbar. Wer auf so eine Idee kommt, wer so etwas wiedergibt, der leidet ein wenig an Realitätsverlust.
Ich habe 20 Jahre in unzähligen Essays, Reden, Artikeln und letztlich auch in einem Buch - ebenfalls in dem „Spiegel“-Interview, Dietmar Woidke hat es zitiert, ich will es nicht wiederholen - aus meinem Herzen keine Mördergrube gemacht.
Ich bin in vielerlei Hinsicht dankbar. Ich bin erstens ausdrücklich denen dankbar, die mit viel Mut und Weitblick dafür gesorgt haben, dass im Osten Deutschlands Demokratie und Freiheit für die Zukunft dieses Landesteils überhaupt möglich wird. Denen, die die friedliche Revolution getragen haben, bin ich nachhaltig und für immer dankbar, meine Damen und Herren.
Ich merke für mich an, Frau Ludwig, dass ich meinen Teil dazu beigetragen habe. Ich trage das nicht wie eine Monstranz vor mir her. Aber ich habe mich nicht erst im Herbst 1989, sondern schon in den 80er Jahren, als man nicht wusste, wie es sich entwickelt, als wir nicht wussten, ob wir uns für fünf, zehn oder 20 Jahre auf den Weg machen, entschieden, etwas zu tun, weil ich wollte, dass wir in Demokratie, Freiheit und Offenheit leben. Das nehme ich für mich in Anspruch, und da brauche ich mich auch nicht belehren zu lassen, verehrte Kollegin.
Ich bin - zweitens - ausdrücklich und genauso von Herzen dankbar - das habe ich hundertfach gesagt - für die große Solidarität, die wir nach 1989 vom westdeutschen Teil unseres Landes empfangen haben. Diese Solidarität hat sich erstens in imensen Geldleistungen ausgedrückt - auch das habe ich im „Spiegel“-Interview noch einmal gesagt -, und sie hat sich zweitens in dem Einsatz vieler Aufbauhelferinnen und Aufbauhelfer ausgedrückt, die hierher gekommen sind und mit aufgebaut haben. Denen bin ich genauso wie den Revolutionären bis heute dankbar, meine Damen und Herren.
Dazu zählen kirchliche sowie gemeindliche Partnergemeinden und viele andere Verbindungen. Aber - auch hier bitte ich, Frau Ludwig, keine herzchenförmigen Pupillen zu bekommen - wir leben unter Menschen. Diejenigen, die hierher gekommen sind, Axel Vogel, lassen sich in mindestens drei Gruppen unterteilen. Das darf man schließlich auch nicht vergessen. Nicht alle haben sich beliebt gemacht. Da gab es die Gruppe derer, die ehrlichen Herzens und ehrlichen Sinnes gekommen sind und gesagt haben: Das ist eine historisch einmalige Situation, hier bin ich gefragt, hier sind meine Erfahrung, auch mein Geld, meine Unterstützung, mein Wissen gefragt. Ich erinnere an jemanden, der lange hier auf der Regierungsbank gesessen hat, an Hans Otto Bräutigam. Er hat in New York einen super Posten als UNO-Botschafter aufgegeben, der Traum eines jeden Diplomaten, auf einen Anruf von Manfred Stolpe hin, weil ihm gesagt wurde: Hilf uns bitte! Komm hierher! - Und er setzte sich statt in ein Büro im UNO-Gebäude hier in ein Büro mit drei Stühlen und einem grauen Telefon. Dieser großen Gruppe von Menschen bin ich bis heute dankbar; und davon gibt es Tausende, meine Damen und Herren.
Dann gab es die zweite Gruppe, das waren diejenigen, die geschaut haben: Dort sind Stellen frei, dort gibt es Karrieremöglichkeiten, da gibt es in Teilen auch - Sie erinnern sich an solche Begriffe, Sie vielleicht nicht mehr, Frau Ludwig - Sprungbeförderung, Zulagen
und anderes. Das finde ich überhaupt nicht vorwerfbar, menschlich völlig normal. Ich finde, das ist auch in Ordnung, wenn jemand sagt: Das nehme ich wahr. - Da finde ich überhaupt nichts dabei. Auch das war eine Hilfe. Das war ein Strom von Leuten, ich denke an juristische und andere Bereiche, dank derer am Ende auch etwas Positives herauskam. Es ist etwas Normales, wenn jemand erkennt, wo er mehr Geld verdienen, Karriere machen und eine Leitungsfunktion annehmen kann. Mein Gott, das ist menschlich normal, aber das muss man nun nicht so sonderlich hervorheben.
Die dritte Gruppe bilden die windigen Typen; davon gab es nun auch wahrlich nicht wenige. Sie waren in ihrem Beritt zu Hause nicht die Besten. Ich habe selbst erlebt, als ich das Umweltministerium aufgebaut habe, dass eine Kollegin eingestellt wurde - blauäugig wie wir waren -, und ich hörte dann, dass im alten Ministerium im Westen die Sektkorken geknallt haben, weil alle froh waren, dass sie weg war. Wir wussten nach zwei Monaten, warum. Aber am Anfang wussten wir es nicht.
Dann gab es die vielen Geschäftemacher - Axel Vogel wird wissen, an wen etwa ich da denke -, die zu Tausenden mit einem dicken Mercedes hergekommen sind und sich gedacht haben: Das Schnäppchen hole ich mir! - Sie sind radikal über alles hinweggegangen.
Ich möchte nur, meine Damen und Herren, dass wir uns nicht die Augen verkleistern, denn das ist nicht die Realität, die die Ostdeutschen erlebt haben. Sie haben die ganze Realität erlebt, Erfahrungen mit allen drei Gruppen und nicht nur mit den edlen Menschen und Helfern gemacht.
Dann - ich bin immer noch beim Komplex Dankbarkeit, das ist manchmal ein bisschen mühsam, aber die FDP wollte ja, dass ich das noch einmal erkläre - stellt sich die Frage: Wo hat sich in den letzten 20 Jahren eigentlich das Gravierende dieses Prozesses der deutschen Wiedervereinigung abgespielt? Wo war es spürbar? Wo haben die Menschen es geleistet oder ausgehalten? Mit Sicherheit - da trete ich niemandem im Westen unseres Vaterlandes zu nahe, Freunde bestätigen mir das auch - hat sich nicht das Leben in Stuttgart verändert, nicht in München und nicht in Hamburg. Stuttgarter Freunde sagen mir, sie hätten immer noch nicht gemerkt, dass sich etwas verändert hat. Was hat also wirklich stattgefunden?
Ich bin denen dankbar, die die Last des Umbruchs in den 20 Jahren wirklich getragen haben. Das ist eine riesengroße Leistung. Das ist eine Mischung aus denen, die hier gelebt
haben, hier groß geworden sind, und den Aufbauhelfern, zumindest der ersten Gruppe, die ich genannt habe. Denen bin auch ausgesprochen dankbar.