Protokoll der Sitzung vom 09.09.2010

haben, hier groß geworden sind, und den Aufbauhelfern, zumindest der ersten Gruppe, die ich genannt habe. Denen bin auch ausgesprochen dankbar.

(Beifall SPD und DIE LINKE)

Denn, meine Damen und Herren, diese Menschen mussten durch die Phase hindurch, dass 80 % neue Berufe erlernt haben. Sie mussten durch die Phase durch, dass jede zweite Familie Arbeitslosigkeit nicht im Fernsehen, sondern am eigenen Küchentisch erlebt hat, und von denen ist ein großer Prozentsatz in Langzeitarbeitslosigkeit übergegangen. Sie mussten die vorhin erwähnten Häuser räumen, sie mussten darum kämpfen, dass ihre Abschlüsse anerkannt werden. Manche Abschlüsse wurden nicht anerkannt, die davon Betroffenen gelten bis heute nur als angelernte Kräfte. Die Menschen mussten teilweise ihre Heimat verlassen, weil es keine Perspektive mehr gab. Seien wir doch ehrlich: Von denen ist die große Leistung vollbracht worden! Richten wir doch unsere Dankbarkeit auch einmal dorthin, meine Damen und Herren, und nicht immer in fiktive Bereiche, wie es einem mitunter aufgezwungen wird.

(Beifall der Abgeordneten Bischoff und Ziel [SPD])

Ich plädiere - das sage ich auch hier noch einmal - ganz vehement für mehr ostdeutsches Selbstbewusstsein. Ich habe nichts dagegen, überhaupt nichts, ich finde es gut, dass in Bayern - Florian Engels hat mir das beigebracht - mit der Buttermilch die Haltung „mia san mia“ aufgesogen wird. Diese Haltung können die auch haben. 43 Jahre Länderfinanzausgleichshilfe und dann eine tolle Leistung im Land, das haben die wirklich gut hinbekommen; „mia san mia“. Aber ich wünsche mir im Jahr 2010, dass auch Ostdeutsche mehr dazu finden, gerade nach dieser riesengroßen Leistung der letzten zwei Jahrzehnte. Es muss nicht in bayerischer Sprachfärbung sein, aber: Wir sind wir, und wir sind wer. Wir haben alles Recht dazu, meine Damen und Herren, denn es war eine große Leistung, die hier in diesen 20 Jahren vollbracht wurde.

(Beifall SPD und DIE LINKE - Zuruf der Abgeordneten Dr. Ludwig [CDU])

Sie dürfen nach unserer Geschäftsordnung leider nicht klatschen, aber ich nehme den Willen für die gute Tat.

Warum lege ich so viel Wert darauf? Weil ich der festen Überzeugung bin - ich komme wieder zu dem Thema Gesellschaftspsychologie -, man kommt in einem großen, neuen Ganzen nur an, wenn man seiner Selbst wirklich gewiss ist, wenn das Kreuz gerade und der Kopf oben ist. Deshalb plädiere ich für ostdeutsches Selbstbewusstsein, nicht aus separatistischen, sondern aus Vereinigungsgründen, meine Damen und Herren. Gebückt und seiner nicht sicher kommt man in einem neuen, großen Ganzen nicht an. Wir haben Grund dafür, und wir sollten ankommen. Das fände ich gut.

Letzter Satz von meiner Seite an die Kollegen der FDP und der CDU. Mit einem müssen Sie leben: Ich werde auch künftig nur jubeln und dankbar sein, wann ich es will, und nicht, wenn CDU, FDP, „Bild“ und „Welt“ es von mir verlangen. - Danke schön.

(Langanhaltender Beifall SPD und DIE LINKE)

Meine Damen und Herren, Sie werden jetzt mit üppiger zusätzlicher Redezeit ausgestattet. Jede Fraktion bekommt etwa viereinhalb Minuten. Vorerst aber hat der Abgeordnete Dombrowski eine Kurzintervention angemeldet, für die er drei Minuten Zeit hat.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Ministerpräsident, Sie brauchen sich nicht zu ärgern, bevor ich das Wort ergriffen habe, weil ich es versöhnlich halten möchte.

Herr Ministerpräsident, wenn Ihre Rede mit dem Beifall zweier Fraktionen und auch, wie Sie gesehen haben, mit dem angedeuteten Beifall aus dem Publikum bedacht worden ist, so liegt das vor allen Dingen daran, dass Sie Worte gefunden haben, die irgendwie plausibel klingen. Sie haben vorhin von zwei Haltungen, die aufeinandertreffen, gesprochen. Das ist ja richtig. Dass man 20 Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit auch kontrovers diskutieren kann, ist eine Errungenschaft, und deshalb brauchen wir uns gegenseitig auch keine Vorwürfe zu machen. Selbstverständlich können Sie auch zukünftig so viele Interviews geben, wie Sie wollen, und können vortragen, was Sie wollen. Aber Sie wissen natürlich auch, dass man dem in der Demokratie etwas entgegensetzen oder es ergänzen kann.

(Beifall CDU)

Denn keiner von uns verfügt über die einzige Wahrheit, es gibt immer mindestens zwei, und beide sind im Zweifelsfall auch zulässig.

Eines lässt immer wieder aufhorchen: Sie versuchen, den großen Konsens herzustellen, was durchaus Zustimmung finden kann, bringen dabei jedoch gewisse einzelne Töne hinein, wenn Sie zum Beispiel zur Kollegin Ludwig sagen, sie habe in München studiert und die Wendezeit insofern nicht hautnah erlebt.

(Zurufe von der SPD: Das hat doch Frau Dr. Ludwig selbst gesagt!)

Warum hat die Kollegin Ludwig in München studiert? Sie hat in der DDR das Abitur mit der Note 1 gemacht, durfte nicht studieren und hat als Verkäuferin gearbeitet. Unmittelbar nach der Wende hat sie die Gelegenheit genutzt, ihren Studienwunsch umzusetzen, und zwar in München.

(Zurufe von der SPD: Es hat doch niemand etwas anderes behauptet! - Ministerpräsident Platzeck: Ich habe das nicht infrage gestellt!)

Ich wollte das nur erläutern, Herr Ministerpräsident, weil sonst der Eindruck entstehen könnte, Frau Ludwig sei vom Himmel gefallen und hier in Brandenburg gelandet. Herr Ness wird gleich seine Rede halten und vielleicht vortragen, was sein Beitrag zur deutschen Einheit als ehemaliger Juso war.

(Ness [SPD]: Was ist das nun wieder für eine Unterstel- lung?)

- Das kann ich gern ausführen. Aber dazu müsste ich nochmals intervenieren.

(Bischoff [SPD]: Ein sehr versöhnlicher Beitrag ist das, Herr Dombrowski!)

Herr Ministerpräsident, Sie haben vorhin ehemalige Weggefährten wie Günter Nooke, Marianne Birthler, Konrad Weiß und andere als Zeitzeugen genannt. Wenngleich Sie in der Volkskammer, in der Wendezeit gleiche Positionen vertreten haben, so wissen Sie, dass keiner der von Ihnen Genannten das, was Sie in Brandenburg in den letzten Jahren vertreten, auch nur ansatzweise teilt. Sie wissen, was Frau Birthler Ihnen für Ihre politische Handlungsweise ins Stammbuch geschrieben hat. Das ist ihr gutes Recht. Tun Sie bitte nicht so, als hätten Sie sich von denen, mit denen Sie gemeinsam gestartet sind, nicht entfernt!

(Beifall CDU und GRÜNE/B90)

Eine letzte Anmerkung. Wenn Sie den Eindruck erwecken, die Bundesrepublik Deutschland habe im Zuge des Anschlusses, wie Sie ihn empfunden haben, dem Osten des Landes vorgeschrieben, keine Polikliniken oder Kitas mehr zu betreiben, so möchte ich daran erinnern - Herrn Kollege Görke ist dies bekannt -, dass die Kreispoliklinik im Altkreis Rathenow erst 1994 aufgrund von Ärztemangel geschlossen worden ist. Die ehemalige Poliklinik des Chemiefaserwerkes Premnitz - heute ein Ärztehaus mit angestellten Ärzten - arbeitet seit 20 Jahren ununterbrochen. Sie hätten es in der Hand gehabt, dafür zu sorgen, dass nach der Wende mehr Strukturen, die den Menschen genommen wurden, übernommen worden wären. Dann brauchten Sie es jetzt nicht zu kritisieren.

(Beifall CDU)

Herr Ministerpräsident, Sie haben Gelegenheit, drei Minuten auf diese Kurzintervention zu reagieren, wenn Sie es wünschen.

(Ministerpräsident Platzeck: Herr Präsident, es gibt nichts, worauf man reagieren müsste!)

Danke sehr. - Wir setzen in der Rednerliste fort. Es spricht der Abgeordnete Ness. Er hat nun statt fünf Minuten neun Minuten Redezeit zur Verfügung.

- Das ist eine schön lange Redezeit, aber ich werde mich bemühen, sie nicht auszuschöpfen.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich halte relativ wenig davon, jemandem vorzuhalten, wo er vor 1989 - ob in Ost- oder Westdeutschland - gelebt hat. Ich habe vor 1989 in Westdeutschland gelebt, bin im Sommer 1990 nach Ostdeutschland gegangen, erst nach Thüringen, nach Gotha, und im Herbst 1991 nach Brandenburg. Ich bin wahrscheinlich einer der Westdeutschen, die der zweiten Gruppe angehören, von der der Ministerpräsident sprach. Für mich persönlich ist die

deutsche Einheit ein großer Gewinn, und ich finde es unerträglich, dass die bürgerliche Opposition in diesem Hause dem linken Lager strukturell zu unterstellen versucht, dass sie gegen die deutsche Einheit sei.

(Beifall SPD und DIE LINKE)

Das ist die Wiederauflage einer Kampagne bürgerlicher Parteien gegen vermeintlich linke vaterlandslose Gesellen, die wir schon seit 100 Jahren in regelmäßigen Abständen erleben. Ich finde hierbei allerdings besonders perfide, dass es die Nachfolgeparteien der beiden Blockparteien LDPD und CDU sind, die dem ehemaligen Bürgerrechtler Matthias Platzeck vorwerfen, er sei gegen die deutsche Einheit. Ich meine, Sie sollten sich zu einem Seminar zurückziehen und über Ihre Geschichte, Ihre Rolle in der Wendezeit und darüber, was Sie hier veranstalten, nachdenken.

(Beifall SPD und DIE LINKE)

Ich glaube, der Dissens, den wir heute hier austragen, ist nicht, wer für und wer gegen die deutsche Einheit ist. Der Dissens ist vielmehr: Welche politische Kraft nimmt wahr, wie die Menschen in unserem Land empfinden? Ich muss leider feststellen, dass die CDU, die FDP und zum Teil auch die Grünen sehr weit davon entfernt sind, die Gefühle und Vorstellungen der Menschen wahrzunehmen. Wenn 80 % der Menschen heute in einem anderen Beruf als vor der Wende tätig sind, dann hat es damit zu tun, dass in der Nachwendezeit Industriestrukturen zusammengebrochen sind. Im Land Brandenburg gibt es Städte, die zu DDRZeiten Industriestädte waren. Heute sind sie nicht mehr als solche zu bezeichnen. Denken Sie an Forst, Guben und Wittenberge. In diesen Städten sind nach der Wende die Strukturen zusammengebrochen, was für Menschen erhebliche Einbrüche zur Folge hatte. Manche Menschen haben den Prozess der deutschen Einheit als eine Abfolge von ABM - Arbeitslosigkeit - Umschulung - ABM Arbeitslosigkeit erlebt. Das sind nicht diejenigen, die am 3. Oktober ein Helmut-Kohl-Bild an die Wand hängen und sagen: Danke, dass du uns ins Wirtschaftswunderland geführt hast. Diese vielen Menschen nehmen Sie nicht zur Kenntnis!

(Petke [CDU]: Ein Gerhard-Schröder-Bild hängen die aber auch nicht an die Wand!)

Vielleicht denken Sie einmal über folgenden statistischen Wert nach, Herr Petke: 50 % der ostdeutschen Frauen der Geburtsjahrgänge 1951 bis 1971 - es sind diejenigen, die in den letzten 20 Jahren im Erwerbsleben standen - haben eine Rentenerwartung von unter 600 Euro. 50 % aller Frauen und ein Drittel aller Männer in Ostdeutschland - das ist eine Folge des Transformationsprozesses, den die Menschen ertragen und erleiden mussten. Ich habe den Eindruck, dass in diesem Land von bestimmten politischen Kräften die Lebensrealität von Menschen ausgeblendet wird. Matthias Platzeck erfährt große Zustimmung und Akzeptanz in diesem Land - auch für seine Äußerungen im „Spiegel“-Interview -, denn er versteht es im Gegensatz zu Ihnen, diesen Gefühlen Ausdruck zu geben. Das sollte Ihnen zu denken geben. Sie spiegeln noch maximal 20 % der Bevölkerung wider. Die 80 %, die unter dem Transformationsprozess zu leiden hatten...

(Petke [CDU] Und Sie 32 %!)

- Warten Sie die nächsten Umfragen ab. Dann sehen wir, ob Sie überhaupt noch irgendetwas widerspiegeln. Die CDU arbeitet

ja an dem „Projekt 18“ - von oben kommend. Wenn Sie angesichts der Position, die Sie wahrnehmen, das „Projekt 18“ halten, können Sie wahrscheinlich zufrieden sein.

Ich glaube, dass Sie auch einige andere Dinge nicht zur Kenntnis nehmen. Sie beklagen einen Ost-West-Gegensatz. Ich denke, Ost-West-Gegensätze 20 Jahre nach der Einheit entstehen durch Realitäten. Meine Frau und ich haben einen 23-jährigen Sohn, der auf dem Bau beschäftigt ist. Er erhält Ost-Mindestlohn. Wenn er zufällig auf einer Baustelle in West-Berlin eingesetzt wird, ist das ein Glücksfall für ihn, denn dann erhält er WestMindestlohn. Der junge Mann ist drei Jahre vor der Wende geboren. Über solche Maßnahmen wird ihm beigebracht, dass er ein Ossi ist. Aufgabe von Politik ist es, das zu verändern.

(Beifall SPD und DIE LINKE)

Wenn wir das Zusammenwachsen des Landes wollen, darf es solche Unterschiede nicht mehr geben. Die CDU akzeptiert ja nicht einmal den Mindestlohn, geschweige denn nimmt sie die spezifische Problematik, dass 20 Jahre nach der Einheit noch immer nach Ost und West unterschieden wird, wahr. Die Menschen jedoch nehmen dies sehr wohl wahr und akzeptieren es nicht mehr. Diese Befindlichkeit muss aufgegriffen werden. Es ist unsere Aufgabe als Volksvertreter in diesem Landtag, dafür zu sorgen, dass 20 Jahre nach der Einheit das Rentensystem angeglichen wird und es beim späteren Rentenbezug keinen Unterschied mehr macht, ob man in Brandenburg oder Westberlin gearbeitet hat. Dieser Unterschied besteht nach wie vor.

(Petke [CDU]: Dann ändern Sie es doch!)

- Entschuldigung, Ihre Partei bildet derzeit die Bundesregierung und tut nichts, um an dem Problem etwas zu ändern. Sie nimmt das Problem nicht einmal wahr. Ich akzeptiere, dass es Ihnen wehtut, wenn ich Ihnen das heute so deutlich sage. Aber den Menschen im Lande tut es noch an ganz anderen Stellen weh.

Ich glaube, wir in Brandenburg, in Ostdeutschland und in Deutschland insgesamt haben noch eine große Aufgabe vor uns. Dafür müssen einige noch einmal über ihre Rolle nachdenken. Bestimmte Debatten, die wir zurzeit im Land führen, gehen an den realen Problemen der Menschen weit vorbei. Insbesondere die bürgerliche Opposition in diesem Hause sollte darüber sehr genau nachdenken. Die Menschen wollen arbeiten und fair behandelt werden.

(Petke [CDU]: Und gut regiert werden!)

Dazu braucht es zuallererst eine Angleichung der Ost- an die West-Löhne, damit wir weiterhin eine wirtschaftliche Zukunft haben. Andernfalls werden wir unser Facharbeiterproblem nie in den Griff bekommen. Es ist eine Tagesaufgabe von Ost- und Westdeutschen gemeinsam, eine Angleichung herzustellen. Ich würde mir wünschen, dass die bürgerliche Opposition in der Realität ankommt und sich nicht in Fantasterein über vermeintliche Affären verheddert.

(Beifall SPD und DIE LINKE)