Protokoll der Sitzung vom 09.09.2010

(Beifall SPD und DIE LINKE)

Frau Ludwig, Sie haben nun aufgrund der Überziehung des Ministerpräsidenten noch vier Minuten Redezeit, und ich denke, Sie werden sie wahrnehmen.

Ich habe es vorhin gesagt, das alles steht sehr eindeutig in diesem Lebenslauf. Ich glaube, an diesem Punkt ist es tatsächlich angesagt. Ich durfte zu DDR-Zeiten studieren; ich habe in Leipzig angefangen und dann Leipzig noch vor der Wende verlassen - genau aus den Gründen heraus, die Herr Dombrowski angeführt hat. Insofern, Herr Platzeck, kann ich mir einige Dinge sehr gut vorstellen und es mir auch leisten, über bestimmte Dinge für mich zu urteilen. Das Wunderbare an dieser Demokratie ist, dass man die Dinge unterschiedlich sehen und unterschiedlich bewerten darf.

Was ich mir wünsche, Herr Platzeck, ist weniger Betroffenheit und mehr Aufklärungswille - nicht nur zum Thema deutsche Einheit, sondern auch zu den Fakten, die wir heute haben, sowie zu Ursache und Wirkung. Ich sage nur „Ursache und Wirkung“ zum einen, aber es muss auch um die tatsächlichen Dinge von heute gehen, die Sie als Skandalisierung bezeichnen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Opposition irgendetwas zu tun hat mit Problemen, die wir heute jeden Tag aufs Neue lesen dürfen. Fragen werden nicht beantwortet.

(Zurufe von der Fraktion DIE LINKE)

Fragen der Opposition werden nicht beantwortet. Hier würde ich mir mehr Aufkläsungswillen des Ministerpräsidenten wünschen. Das sind die eigentlichen Probleme, mit denen wir uns heute beschäftigen müssen. Ich sage es noch einmal: Es ist schade um diese Zeit. Wichtig ist, wie wir unter den Bedingungen, die wir jetzt haben, unser Land und unsere Zukunft gestalten. Diese Möglichkeiten - Herr Woidke, ich kann es nur wiederholen - sind in den letzten 20 Jahren von der SPD nicht genutzt worden. - Danke.

(Beifall CDU sowie vereinzelt FDP)

Die Abgeordnete Kaiser spricht für die Linksfraktion.

Man möchte der FDP fast dankbar sein für das Thema, weil es uns ja etwas weitergeführt hat. Ich hoffe, dass wir die Debatte miteinander weiter und vertieft führen. Zum Beispiel gibt uns die Arbeit in der Enquetekommission dazu noch einige Jahre die Möglichkeit.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Kollege Vogel, ich folge Ihnen ausdrücklich, wenn Sie hier sinngemäß sagen, dass Erkenntnisse immer an ihre Zeit, an Erfahrungen gebunden sind. Ich sage Ihnen auch: Die schmerzhaften Erfahrungen und Erkenntnisse im Hinblick auf die ökologischen Hinterlassenschaften der DDR, die teilweise mit gesundheitlichen Folgen für die Bürgerinnen und Bürger verbunden waren, teilen wir mit Ihnen. Ich möchte an dieser Stelle aber wenigstens anmerken, dass sich das ökologische Bewusstsein weltweit erst in den 70er und 80er Jahren verstärkt hat. Daran ist die Entwicklung Ihrer eigenen Partei gebunden gewesen. Ich erinnere an den Bericht des Club of Rome. Wir haben heute keine in Ost und West geteilte Welt mehr, sondern eine in Nord und Süd geteilte Welt, und wir sind am Rande des ökologischen Kollaps, obwohl es die DDR nicht mehr gibt. An dieser Stelle

müssen wir jetzt einfach fair miteinander umgehen, zurückblicken und daran anknüpfen.

(Vereinzelt Beifall DIE LINKE)

Ich folge Ihnen ausdrücklich nicht, wenn Sie sagen, es habe 1989 und 1990 schlicht keine Fragen mehr nach Alternativen gegeben bzw. die Fragen seien irrelevant geworden. Ich glaube, darüber haben wir auch heute unsere Meinungen genügend ausgetauscht. Meiner Meinung nach hätte es natürlich die Alternative gegeben, einen Einigungsvertrag zunächst auszuhandeln oder eine gesamtdeutsche, bundesweit gültige Verfassung zu schaffen, wie es das Grundgesetz vorsieht, und erst dann über die Einigung oder den Beitritt zu entscheiden. Das wäre doch eine Alternative gewesen! Alternativen sind immer möglich, weil Politik über Politik entscheidet, und diese folgt aus gutem Grund nicht immer nur einer Mehrheitsstimmung bzw. der Mehrheitsmeinung auf der Straße; das ist ihre Verantwortung. Vielleicht hat man in Brandenburg aus der Erfahrung gelernt: dass die Bevölkerung 1995 die Fusion mit Berlin ablehnte, weil es keine gemeinsame Verfassung gab und die Fusion für die Bürgerinnen und Bürger erkennbar nicht nur Vorteile brachte. Insofern sage ich: Es gibt immer Alternativen. Auch das sollten wir hier bei unserem künftigen Meinungsstreit bedenken.

Frau Kollegin Ludwig, für die sachliche Bestandsaufnahme und den Rückblick in Bezug auf Finanzen und Ökonomie - auf diesem Gebiet sind Sie ja die Fachfrau - empfehle ich Ihnen das Buch von Edgar Most, der bekanntlich der letzte Chef der DDR-Zentralbank war und später bei der Bundesbank gearbeitet hat. Dabei werden Sie noch andere Einsichten gewinnen als jene, die Sie uns hier heute in Bezug auf Verschuldung und Ähnliches zur Kenntnis gaben.

Auch ich habe, wie wir alle wahrscheinlich, inzwischen Freunde in Westdeutschland. Sie wohnen ein Stück von Stuttgart entfernt, auf der Schwäbischen Alb. Und wissen Sie, was ich bei der Debatte um die deutsche Einheit wirklich verhängnisvoll finde? Sie haben den Eindruck, dass sich beispielsweise in Bezug auf soziale oder finanzielle Rahmenbedingungen auch bei der Situation der Kommunen in Westdeutschland sehr wohl etwas zum Negativen verändert hat. Ihr Eindruck ist, dies alles sei gekommen, „seit wir den Osten haben“. Angesichts dessen habe ich, was das Zusammenwachsen von Ost und West betrifft, eben auch meine Befürchtungen. Gerade in dieser Hinsicht ist es schade, dass die Westdeutschen vor dem Hintergrund des Hinzukommens des Ostens keine positiven Veränderungen erlebt haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den ersten 20 Jahren der deutschen Einheit ist viel erreicht, aber auch viel verfehlt worden. Das wurde heute hier deutlich. Illusionen haben wir verloren. Der einseitige Nachbau West und Fehleinschätzungen haben dazu geführt, dass Entwicklungspotenziale zusammenbrachen oder blockiert wurden; der Ministerpräsident hat das hier ausgeführt. Es gelang eben nicht, allen Menschen eine Zukunftsperspektive zu ermöglichen. Jetzt gilt es, diese Lage nüchtern einzuschätzen. Wir nutzen dafür die Zeit der Jubiläen. Es gilt, zeitgemäße politische Ansätze zu formulieren und realistische Ziele zu setzen. Das haben wir uns vorgenommen, und daran arbeiten wir. Wir möchten das, obwohl Sie keine Lust dazu haben, mit Ihnen gemeinsam diskutieren.

Die rot-rote Landesregierung, die SPD-Fraktion und die Fraktion DIE LINKE wissen sehr genau, dass Demokratie nur zu

entwickeln ist, wenn Interessen und Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger sich artikulieren und zur Geltung gebracht werden können. Widersprüchliche Folgen des Einigungsprozesses dürfen nicht zur Ausgrenzung und auch nicht zur Geringschätzung der Demokratie führen. Wenn ich mir die Entwicklung der Wahlbeteiligung vor Augen führe, meine ich, haben wir hier gemeinsam die wichtige Aufgabe, dass Demokratie nicht geringgeschätzt wird, je nachdem, wie die Problemlage eines Menschen ist. Diese Regierung - da bin ich mir sicher - betrachtet die widersprüchlichen Folgen der deutschen Einigungspolitik als Herausforderung und will darauf hinwirken, dass Alltagserfahrungen aus den letzten 20 Jahren nicht durch ideologische Folien oder Floskeln verdeckt werden.

Deshalb wollen und müssen wir hier trotz Finanzkrise und Verschuldung öffentlicher Haushalte an einer Politik festhalten, die das Thema soziale Gerechtigkeit nicht von der Tagesordnung nimmt. Wir halten fest an den Forderungen nach einem gesamtdeutschen existenzsichernden Mindestlohn, nach öffentlich finanzierter Beschäftigung für Langzeitarbeitslose, nach einer guten Kita und guten Schule für alle Kinder und, Herr Vogel, nach einer ökologisch orientierten Wirtschaft. Wir wollen auch in Zukunft ein Land gestalten, das Menschen Lebensperspektiven eröffnet und ihre Lebensleistung würdigt. - Ich danke Ihnen.

(Beifall DIE LINKE sowie vereinzelt SPD)

Die Abgeordnete Blechinger hat eine Kurzintervention angemeldet.

Frau Abgeordnete Kaiser, es gäbe viel zu dem zu sagen, was Sie hier vorgetragen haben. Das ist im Rahmen einer Kurzintervention nicht möglich. Offenbar haben Sie die Erfahrungen verdrängt, wie die Umwelt aussah oder wie man zu DDRZeiten in Altenheimen mit alten Menschen umging. Der Mensch zählte eigentlich nur etwas, solange er Produktivkraft war. Das ist Gott sei Dank heute anders.

(Beifall CDU und FDP - Zurufe von der SPD und der Fraktion DIE LINKE)

Ich möchte aber noch etwas zum Thema Selbstbewusstsein sagen. Es ist ein Versäumnis, dass nach 1990 in Brandenburg kein entsprechendes Selbstbewusstsein geschaffen wurde, und das lag nicht an den Westdeutschen. Es lag nicht an den Westdeutschen, dass sich Brandenburg entschieden hat, das Schulsystem von Nordrhein-Westfalen, das schon damals im Deutschland-Vergleich sehr weit hinten lag, zu übernehmen - im Gegensatz zu den Sachsen, die nie das 12-jährige Abitur abgeschafft haben, nie die zentralen Abschlussprüfungen abgeschafft haben und die heute im bundesweiten Vergleich an der Spitze liegen, während wir das Schlusslicht sind. Das ist die Erfahrung, die Brandenburger Schüler machen, und zwar nicht, weil sie von Westdeutschen vereinnahmt wurden, sondern weil hier falsche Weichenstellungen erfolgt sind. Sachsen hatte 1990 die gleichen Lehrer wie wir, die gleichen Eltern wie wir, die gleichen Schulgebäude wie wir; es hatte die gleichen Voraussetzungen wie wir.

(Beifall CDU und FDP)

Frau Kaiser, Sie haben die Chance, drei Minuten lang zu reagieren.

Ausdrücklich nicht formal will ich sagen: Eine Kurzintervention bezieht sich selten auf Redebeiträge, die nicht gehalten wurden,

(Lachen bei der SPD)

sondern auf Äußerungen, die gefallen sind.

Ich möchte Sie, Frau Kollegin, einfach bitten - ich erinnere mich nicht daran, ob Sie im Raum waren -, den allerersten Satz meines ersten Redeteils im Protokoll nachzulesen, mit dem ich auf Ihre Kollegin Ludwig reagiert und gesagt habe: In diesem Raum befindet sich meines Wissens kein einziger Mensch, der die negativen Seiten und Hinterlassenschaften der DDR in irgendeiner Weise beschönigt oder verdrängt. Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE, SPD und von Ministerpräsident Platzeck - Senftleben [CDU]: Gesagt ist nicht getan, Frau Kaiser!)

Bevor die antragstellende Fraktion das Schlusswort hält, hat die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Möglichkeit, die zusätzliche Redezeit zu nutzen. Bitte, Herr Vogel!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zu zwei Themen noch etwas sagen; das eine richtet sich an Herrn Ness. Herr Ness, bitte schminken Sie sich den Begriff von der bürgerlichen Opposition ab.

(Zuruf von der SPD: Wieso?)

Für uns hat der Begriff „bürgerlich“ eine positive Bedeutung.

(Beifall GRÜNE/B90, CDU und FDP)

Bürgerlich bedeutet bürgerliches Engagement, bedeutet Bürgerinitiativen, bedeutet Verteidigung von Bürgerrechten.

(Dr. Woidke [SPD]: Wieso haben Sie etwas dagegen?)

Ich finde es ausgesprochen verwegen, wenn hier versucht wird zu unterteilen, und zwar mit einem negativen Beigeschmack, in eine angeblich bürgerliche Opposition, die dort drüben sitzt, und - möglicherweise - in eine gute Opposition, die da drüben sitzt. Sondern wir sind die Opposition in diesem Hause, und wir sind alle gemeinsam bürgerlich.

(Beifall GRÜNE/B90, CDU und FDP)

Es stellt sich wirklich die Frage, wenn hier der Begriff „bürgerliche Opposition“ verwandt wird, wem diese bürgerliche Oppo

sition gegenübersteht, ob es sich hier um eine proletarische Regierung handelt.

(Lachen und Beifall bei der CDU)

Ich habe gerade gehört, der Ministerpräsident wird sich dazu noch einmal zu Wort melden. Auf die Antwort bin ich sehr gespannt.

Herr Ministerpräsident, das andere Thema ist „Herkunft braucht Zukunft“ und „Mia san mia“. Mia san mia - das sage ich jetzt einmal als Bayer -, das ist so kleinkariert, dass es viele Bayern, nämlich Menschen wie mich, aus ihrem Lande vertrieben hat.

(Beifall GRÜNE/B90, CDU und FDP sowie Lachen bei der SPD)

Ich hatte gehofft, dass es in Brandenburg dieses „Mia san mia“ nie geben würde. Es gibt überhaupt keinen Anlass, in Brandenburg eine „Mia san mia“-Orgie abzuhalten, weil Brandenburg nämlich viel stärker als Bayern immer Zuwanderungsland gewesen ist - nach 1648, nach dem Dreißigjährigen Krieg, nach der Pest, nach dem Siebenjährigen Krieg, nach dem Zweiten Weltkrieg. Städte wie Schwedt, Lauchhammer, Lübbenau, Eisenhüttenstadt - haufenweise ist deren Bevölkerung ausgetauscht worden.

Wir wissen alle, dass seit 1990 von 2,5 Millionen Einwohnern Brandenburgs 1,2 Millionen Neusiedler, Neubürger dieses Landes geworden sind. Es ist schon sehr komisch, wenn diesen Menschen immer ein Brandenburg-Bild vorgehalten wird, das von Brandenburgern ausgeht, die 1990 bereits erwachsen waren und hier gelebt haben. Das, finde ich, ist nicht legitim, das ist nicht in Ordnung.

(Beifall GRÜNE/B90, CDU und FDP)

Ich will, wir wollen ein Brandenburg für alle Brandenburgerinnen und Brandenburger, und dazu hatte ich, denke ich, in meinem vorherigen Redebeitrag alles Notwendige ausgeführt. - Vielen Dank.

(Beifall GRÜNE/B90, CDU und FDP)