Protokoll der Sitzung vom 18.05.2011

Ich habe vorhin über Reinstraumbedingungen gesprochen. Es wird immer Zielkonflikte geben. Das einzelne Opfer wünscht sich individuelle Schuldanerkenntnis und Sühne, das ist völlig klar, nachvollziehbar und verständlich. Alles andere anzunehmen wäre unmenschlich. Es wünscht sich dieses als Grundlage der Versöhnung und sieht in der Versöhnung keine politische Kategorie, sondern immer nur eine persönliche. Ich habe allerhöchsten Respekt vor dieser Sicht auf Versöhnung, aber ich teile sie nicht, das ist bekannt, das habe ich schon öfter gesagt. Selbstverständlich ist für mich Versöhnung auch eine politische Kategorie, und ich verlange von niemandem, der gelitten hat, dass er meiner Meinung ist. Aber für mich ist Versöhnung auch eine politische Kategorie. Das politische Streben nach innergesellschaftlicher Versöhnung hat sein eigenes Recht, hat auch seine eigene Würde und vor allem seine eigene Notwendigkeit. Wenn es diese politische Kategorie nicht gäbe, würde in Ländern wie Südafrika, Chile und vielen anderen Ländern niemals Versöhnung stattfinden können, weil die persönlich nicht organisierbar ist. Natürlich ist Versöhnung in ehemals zerrissenen Gesellschaften immer auch eine politische Kategorie und muss es sein, und sie muss von der Politik betrieben werden.

Übrigens: Sprache ist manchmal aussagekräftig und manchmal auch verräterisch. Im Deutschen ist die Grundlage des Wortes Versöhnung „Sühne“, und das spüren wir auch nicht selten. Im romanischen und auch im englischen Sprachraum ist das Grundwort von Versöhnung „reconciliare“: zusammenführen, wieder zusammenbringen. Ich verhehle nicht, dass mir „reconciliare“ näher ist als „Sühne“. Aber das verlange ich von niemandem das sage ich noch einmal -, der gelitten hat. Helmut Kohl hat 1991 gesagt:

„Um [...] für unser Volk den inneren Frieden zu gewinnen, müssen wir auch fähig sein, die Kraft zur Aussöhnung zu finden. [...] Wir würden sonst die Barrieren, die wir niedergerissen haben, in unserem Denken neu aufrichten und befestigen.“

Wo er Recht hat, hat er Recht. Ich habe damals diesen Satz kommentiert: Es ist mir zu früh. - Es waren gerade Monate vergangen. Inzwischen sind zwei Jahrzehnte vergangen, und inzwischen unterschreibe ich diesen Satz von Altbundeskanzler Kohl vollinhaltlich.

Bei aller notwendigen Differenzierung im Einzelfall, meine Damen und Herren, wünsche ich mir, dass wir nun tatsächlich im Jahre 2011 die Kraft und die Weisheit zu wirklicher Versöhnung aufbringen, und zwar eine Versöhnung ohne Vergessen. Uns allen, jedem Menschen in diesem Lande würde das guttun. Ich bedanke mich.

(Starker anhaltender Beifall SPD, DIE LINKE sowie von der Regierungsbank)

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Begrüßen Sie mit mir unsere Gäste vom Sängerstadt-Gymnasium aus Finsterwalde und dem Elsterschloss-Gymnasium Elsterwerda.

(Allgemeiner Beifall)

Ihr habt einen spannenden Tagesordnungspunkt erwischt. Ich wünsche euch viele Lehren daraus.

Zu dem eben gehaltenen Redebeitrag wurden zwei Kurzinterventionen angemeldet. Die würde ich, Herr Ministerpräsident, nacheinander aufrufen und anschließend Gelegenheit zur Reaktion geben, wenn Bedarf besteht. - Frau Teuteberg ist die Erste.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Um es ganz deutlich zu sagen: Süß oder nicht süß ist für mich keine Kategorie in dieser Debatte.

(Beifall FDP, CDU und GRÜNE/B90)

Sie können ganz beruhigt sein: Ich weiß um Ihre Biografie und habe doch das Recht, andere Schlussfolgerungen zu ziehen. Ich kenne eine Menge Zeitgenossen, die die Dinge auch anders sehen. Und eine Deutungshoheit kommt Ihnen deshalb noch nicht zu.

(Beifall FDP, CDU und GRÜNE/B90 - Zurufe von der Fraktion DIE LINKE)

Was die Frage angeht, was junge Abgeordnete beurteilen dürfen, glaube ich, können Sie sich ein Beispiel an Ihrem Kollegen Ziel nehmen, der da sagt: Junge Abgeordnete haben das Recht und sogar die Pflicht, Fragen zu stellen, sich eigene Meinungen zu bilden - oder auch, dass nicht unbedingt immer die selbst Betroffenen die Richtigen sind, um das in einer Enquetekommission zu untersuchen.

(Zurufe von der Fraktion DIE LINKE)

Aber der Kern der Sache ist: Wenn Ihnen nichts Besseres einfällt, als auf das Lebensalter von Abgeordneten abzustellen, dann sagt das über Sie so viel mehr aus als über die betroffene Abgeordnete.

(Beifall FDP, CDU und GRÜNE/B90)

Die zweite Kurzintervention kommt von der Abgeordneten Ludwig.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Stasi-Land Brandenburg - das ist weiß Gott nicht das Bild, das unser Land verdient hat.

Wenn man sich die Diskussion hier und vor allen Dingen das anhört, was der Ministerpräsident gerade auch zum Thema Versöhnung vorgebracht hat, kann ich nur sagen: Dazu gehört genau das Thema zweite Chance. Ich glaube, es ist überhaupt nicht das Thema, dass jemand aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden soll. Die Frage steht einfach, ob die Personen, die damals den Unrechtsstaat nicht nur mitgetragen haben, sondern auch wussten, was sie tun an der Stelle - ob mit oder ohne Zwang spielt an der Stelle keine Rolle -, in der Demokratie tatsächlich wieder an den Schaltstellen des Rechtsstaates zu sitzen haben.

(Beifall FDP, CDU und GRÜNE/B90)

Und, Herr Platzeck, ich frage mich ernsthaft, ob Sie wirklich wissen, was im Bundesland Brandenburg - in Ihrem Land - vor sich geht.

(Frau Lehmann [SPD]: Sie wissen es garantiert nicht! - Lachen bei der SPD)

Und da rede ich nicht von '90, '91, '94, '95, weil: Das wird die Enquetekommission intensiv behandeln, dass nicht nur CDUMitglieder aus der Fraktion, sondern genauso die Grünen, FDP, SPD und Linke - höchstwahrscheinlich auch mit einem entsprechenden Wissen um die Schwächen des Rechtsstaates entsprechende Urteile gefällt haben.

Herr Kuhnert, ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie tatsächlich so blauäugig sind und meinen, dass innerhalb einer Sekunde nach dem Übergang von einem System in das andere Leute, die Unrecht begangen haben, sagen: „Jetzt bin ich Demokrat.“ Das funktioniert nicht.

Wir haben aktuelle Presselagen:

(Görke [DIE LINKE]: Das soll eine Kurzintervention sein, kein Redebeitrag! - Zuruf der Abgeordneten Kaiser [DIE LINKE])

Wir haben gestern im RBB sehen können, dass Steuern in der DDR dazu benutzt wurden, Menschen unrechtmäßig zu enteignen. Wenn ich mir vorstelle, dass wir ein aktuelles Bundesverfassungsgerichtsurteil haben, weil das Finanzamt in den 90er Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit einen Unternehmer zu Unrecht in die Pleite geführt hat,

(Holzschuher [SPD]: Was ist denn das jetzt für eine Asso- ziation?!)

wenn ich Veranstaltungen in diesem Land durchführe mit der Aufführung des Films „Das Leben der Anderen“, wonach ältere Leute zu mir kommen, die wirklich psychisch fertig sind sie sagen, sie trauten sich nicht einmal, etwas zu sagen; sie waren zu DDR-Zeiten in der Psychiatrie; auch dies ist ein Kapitel, das überhaupt noch nicht aufgearbeitet ist, das uns aber heute betrifft -, dann finde ich es ehrlich gesagt mehr als erstaunlich, dass da überhaupt kein Bestreben besteht, zu sagen: Zur Aufarbeitung und zur Aussöhnung gehört tatsächlich, die Dinge beim Namen zu nennen. Es ist doch merkwürdig, dass...

(Bischoff [SPD]: Missbrauch der Kurzintervention!)

- Wissen Sie, Herr Bischoff: Das ist zum Beispiel auch so ein Punkt: dass man demokratische Rechte beschneiden möchte, wenn einem bestimmte Dinge und Themen missfallen.

(Vereinzelt Beifall CDU - Unruhe bei SPD und DIE LIN- KE - Krause [DIE LINKE]: Sie müssen mal die Ge- schäftsordnung lesen!)

Ich kann Ihnen nur sagen, dass all diese Dinge, die mit Aufarbeitung zu tun haben, nur und ausschließlich aufgrund von Medienengagement zustande gekommen sind, wofür ich mich ausdrücklich bei der vierten Macht hier im Staate bedanken möchte - und nicht, weil der Ministerpräsident Platzeck oder irgendjemand von den Betroffenen daran gearbeitet hat.

(Frau Kaiser [DIE LINKE]: Wo waren Sie denn die letz- ten Jahre? Das hätten Sie doch erarbeiten können!)

Es ist tatsächlich so, dass immer nur dann Dinge an den Tag gekommen sind, wenn man Fakten, und zwar neue Fakten, auf dem Tisch hatte.

(Frau Stark [SPD]: Wer? Ihre CDU-Minister?)

Ich bitte ausdrücklich darum: Wir haben ein höchstes Interesse daran, dass dieses Land Brandenburg, unser Land Brandenburg, endlich zur Ruhe kommt. Herr Platzeck, Sie persönlich tragen Verantwortung dafür, dass dieses Land nicht zur Ruhe kommt, wenn Sie weitermachen wie bisher. Ich erinnere an Ihren Ausspruch 2004, als Sie - damals schon - gesagt haben: „Wir leben im Jahre 2004. Es muss endlich Schluss sein mit dieser Debatte!“ - Wir sehen, das ist nicht der Fall. Tun Sie etwas dafür, dass wir diese Debatte so schnell wie möglich beenden können, und zwar durch Aufarbeitung.

(Beifall CDU - Görke [DIE LINKE]: Das war aber keine Kurzintervention!)

Das waren 25 % Zeitüberziehung, die Sie nicht nachmachen müssen, Herr Ministerpräsident, falls Sie denn jetzt reagieren

möchten. - Das ist nicht der Fall, also setzen wir die Rednerliste mit dem Beitrag der SPD-Fraktion fort. Der Abgeordnete Holzschuher spricht jetzt.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begrüße auch besonders die Kollegin Blechinger.

Frau Kollegin Ludwig, nach zehn Jahren Regierungsbeteiligung spreche ich Ihrer Fraktion, Ihrer Partei und auch Ihnen persönlich das moralische Recht ab, sich in dieser Art, wie Sie sich hier heute präsentieren und in den letzten Monaten präsentiert haben, darzustellen. Mehr muss man zur CDU heute nicht sagen.

(Vereinzelt Beifall SPD)

Herr Kollege Vogel, Ihr Antrag mag ja etwas mehr moralisch fundiert formuliert sein, aber wir beide haben ja eine gemeinsame Vergangenheit - wir sind nicht hier geboren, in der ehemaligen DDR.

Die ersten Jahre nach der Wende habe ich mich, obwohl ich als Anwalt sehr viel mit der Materie zu tun hatte, politisch sehr zurückgehalten, weil ich davon überzeugt war, dass es zunächst einmal Sache derjenigen ist, die hier geboren sind, wie sie mit der Materie umgehen. Ich hatte hohen Respekt vor denjenigen, die wie Andreas Kuhnert, obwohl sie Opfer waren, zu DDRZeiten für eine friedliche Revolution und sehr frühzeitig für Aussöhnung eingetreten sind. Ich habe auch diejenigen verstanden - Herr Dombrowski wird ja gleich nach mir reden -, die als Opfer des DDR-Unrechtsstaates eine etwas andere Herangehensweise hatten. Es ist dann so geklärt worden, wie es geklärt worden ist: durch die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR. So, wie wir die Situation heute vorfinden, ist das eine gemeinsame und herausragende Leistung der ehemaligen Bürgerinnen und Bürger der DDR. Das infrage zu stellen halte ich heute - das darf ich inzwischen sagen - für fatal. Denn inzwischen ist doch sehr viel zusammengewachsen von dem, was zusammengehört. Wir haben jetzt ein gesamtdeutsches Stasi-Problem. Das ist jetzt auch mein Problem, und jetzt kann sich auch jeder dazu äußern. Ich bin sehr froh, dass wir heute einen linken Justizminister haben, der voll und ganz auf dem Boden des Rechtsstaates und des Grundgesetzes steht und der sich weigert, einen solchen Generalverdacht, Herr Vogel, wie Sie ihn äußern, über alle Richterinnen und Richter des Landes zu legen.

(Vereinzelt Beifall DIE LINKE)

Wir wissen doch, welche Fälle damals bekannt waren. Wenn Sie jetzt sagen, es könne doch sein, dass noch zwei oder drei dazukommen und man müsse das einmal überprüfen, dann ist das ein Generalverdacht und ein Verdacht, der uns irgendwann alle trifft. Denn wir wissen doch wohl, dass es auch in Westdeutschland ganz, ganz viele inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit gab, die nicht überprüft worden sind. Aber niemand, kein Justizminister in Bayern, würde es wagen, sich hinzustellen und zu sagen: „Ich überprüfe einmal die Richter in Bayern.“ - Auch würde so etwas kein Richterbund in Bayern mitmachen, obwohl das Gesetz es hergibt. Das Gesetz würde es ja hergeben.

(Vereinzelt Lachen bei der CDU)

Solange das aber nicht der Fall ist, haben wir nicht die geringste Veranlassung, hier vor Ort erneut eine generelle Überprüfung der Richterinnen und Richter vorzunehmen. Solange das passiert, so wie wir uns hier verhalten, solange wir gemeinsam sagen: „Nur bei konkreten Einzelfällen“, so lange bin ich überzeugt, dass wir in unserem gemeinsamen Deutschland andere Themen haben werden. Ich hoffe, dass wir die Debatte endlich auf eine sachliche und moralisch fundierte Grundlage zurückführen können und nicht diese Pseudomoral predigen, die wir von einigen leider immer wieder hören. - Vielen Dank.