Protokoll der Sitzung vom 23.09.2015

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Zuwanderinnen und Zuwanderer sind nicht nur unsere Chance zum Ausgleich der demografisch bedingten Bevölkerungsverluste - sie sind un sere einzige Chance, wenn wir Wirtschaft und Daseinsvorsorge am Laufen halten wollen. Frau Sozialministerin Golze hat laut „nd“ vor dem Brandenburger Wirtschaftsforum darauf hinge wiesen, dass wir in Brandenburg bis 2030 rund 150 000 neue Pflegekräfte benötigen, um ausscheidende Kollegen zu erset zen und der Zunahme an alten Menschen - Stichwort demogra fischer Wandel - gerecht zu werden.

Im selben Zeitraum haben wir weniger als 300 000 Schulab gänger. - Herr Galau, vielleicht kann einmal das Gequatsche dort drüben aufhören?

(Gelächter bei der AfD)

Berücksichtigt man, dass manche Schulabgänger ein Studium anstreben - schließlich brauchen wir auch Lehrerinnen und Lehrer in Brandenburg -, legt dies nach dem Bericht nahe, dass theoretisch alle Schulabgänger einen Gesundheitsberuf ergrei fen müssten. So wird es natürlich nicht kommen. Aber diese Zahlen zeigen, dass sich gegenüber 1990 die Erwerbsmöglich keiten für Zuwanderer - für Einheimische natürlich auch - deutlich verbessert haben und darum neue Chancen bestehen, Flüchtlinge im Land zu halten.

Dafür ist gelebte Willkommenskultur ein erster Schritt. Wir wissen alle, dass wir ohne die aus dem Boden sprießenden eh renamtlichen Willkommensinitiativen überhaupt nicht beste hen könnten. In Willkommensinitiativen engagieren sich Men schen, indem sie Deutschunterricht geben, übersetzen, Flücht linge bei Amtsgängen begleiten oder Spenden verteilen. Ma chen wir uns aber nichts vor: Viele dieser ehrenamtlichen Hel ferinnen und Helfer stoßen an ihre physischen und psychischen Grenzen. Wir brauchen auch Hilfe für die Helfer, Betreuung für die Betreuerinnen und Betreuer, wenn wir diese Willkom mensinitiativen dauerhaft erhalten wollen.

Wir brauchen aber auch eine Menge von Kleinigkeiten, die das Leben sowohl für die Asylbewerber und Flüchtlinge als auch die Betreuer erleichtern. Ein Beispiel: Eine Willkommensbro schüre für Flüchtlinge existiert nicht wirklich. Es gibt eine offi zielle Broschüre des Bundesinnenministeriums - „Willkommen in Deutschland“ -, die zwar viel erläutert, aber wenig vom ge sellschaftlichen Grundverständnis beschreibt. Das Land Bran denburg gibt keine eigene Broschüre heraus. Die von der RAA herausgegebene Broschüre ist vergriffen, es gibt sie nur noch im Internet - es fehlt das Geld, sie wieder aufzulegen. Was auch ein Problem ist: Sie ist nicht in Arabisch, sondern in Deutsch verfasst. Wie soll das helfen? Das ist unzureichend. Sie müsste wenigstens in Englisch sein, damit eine Verständ nismöglichkeit geschaffen wird. Das ist ein einfaches, aber gutes Instrument, um einen Beitrag zur Verbesserung der Ar beit der Willkommensinitiativen zu leisten.

Wenn wir die Chance nutzen und Flüchtlinge dauerhaft für uns gewinnen wollen, dann reicht es aber nicht, die Willkommensinitiativen finanziell oder emotional zu unterstützen. Bildungs angebote müssen ausgeweitet und die Chancen auf dem Ar beitsmarkt verbessert werden; wir müssen - für einheimische Bedürftige und Migranten gleichermaßen - preiswerten Wohn raum schaffen; in neuen Wohngebäuden müssen Deutsche und Zuwanderer gleichermaßen unterkommen, um eine Gettobil dung wirksam zu verhindern.

(Beifall B90/GRÜNE, vereinzelt SPD und DIE LINKE)

Bei manchen Brandenburgern aufkeimende Neidaffekte wer den nur dann wirksam zu unterbinden sein, wenn erkennbar wird, dass die Aufnahme von Flüchtlingen nicht mit einer Ver schlechterung der eigenen sozialen Situation einhergeht. Des halb sind alle Forderungen richtig, die den Bund zur Kostenübernahme verpflichten, ist es richtig, die Städtebauförderung umzukrempeln, ist es notwendig, die Schulen insgesamt mit mehr gut ausgebildeten jungen Lehrkräften zu versorgen. Nicht nötig sind dagegen immer neue Diskussionen über immer neue Abschottungsmechanismen, sind Versuche, so viele Flücht linge wie möglich vor den Grenzen der EU zu halten.

(Beifall B90/GRÜNE, DIE LINKE sowie vereinzelt SPD)

Die Aufnahme und Integration von Schutzsuchenden ist kei ne Tages-, sondern eine langfristige Aufgabe. Sie ist für unser Land die gewaltigste Herausforderung seit der Wiederverei nigung. Unsere Aufgabe als Landtag ist es, gemeinsam mit den Kommunen dazu beizutragen, dass aus dieser Herausfor derung keine Überforderung wird: nicht für die Flüchtlinge, nicht für die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, auch nicht für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Verwal tungen. Wir sind der festen Überzeugung: Wenn wir uns diese Aufgaben zu eigen machen und gemeinsam bewältigen wol len, dann schaffen wir das auch. - Ich danke für Ihre Auf merksamkeit.

(Beifall B90/GRÜNE, SPD, DIE LINKE, BVB/FREIE WÄHLER Gruppe sowie der Abgeordneten Augustin [CDU])

Wir danken Ihnen. - Zu uns spricht nun als letzter Redner der

Debatte der Abgeordnete Vida für die Gruppe BVB/FREIE WÄHLER.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Es gibt wahrlich nicht viele Punkte, in denen wir als BVB/FREIE WÄHLER mit der Landesregierung übereinstimmen, doch der Umgang mit Flüchtlingen ist einer dieser wenigen Punkte - zu mindest, was die Grundsätze betrifft: dass sich Deutschland und Brandenburg Menschlichkeit leisten können und müssen. Ob aus dem Verfassungsauftrag, dem christlichen Weltbild oder auch der humanistischen Gesinnung heraus: Sie alle ge bieten einen Umgang mit Menschen, der auf Würde und Re spekt basiert - und zwar mit allen Menschen!

(Beifall BVB/FREIE WÄHLER Gruppe, vereinzelt SPD, DIE LINKE, B90/GRÜNE sowie des Abgeordneten Wichmann [CDU])

Deswegen, meine Damen und Herren, sind die nötigen An strengungen keine Opfer, die wir erbringen, sondern Hand lungsaufträge, um unsere Werte zu verteidigen. Um dies zu tun, muss man sich klar von jenen abgrenzen, die diese Werte angreifen. Deswegen sage ich im Hinblick auf meinen Vorvor vorredner: Es bedarf nicht Ihrer Erinnerung, Herr Gauland, um zu wissen, dass nicht jeder, der herkommt, einen Anspruch da rauf hat, hierzubleiben. Das wissen wir. Aber das entscheidet in einem Rechtsstaat immer noch ein Gericht und nicht Ihre Ar beitsgruppensitzung - vor allem auch nicht Ihre Demo vor der Türe dieses Hauses. Und das ist sehr beruhigend zu wissen.

(Beifall BVB/FREIE WÄHLER Gruppe, SPD, DIE LIN KE und B90/GRÜNE)

Im ersten Schritt geht es darum, wie ich auf Menschen zugehe, wie ich sie aufnehme. Wenn ich von ihnen - und das zu Recht - Akzeptanz der Gesetze erwarte, muss ich ihnen auch meine Grundsätze gesellschaftlichen Handelns und Auftretens entge genbringen.

Es gilt, Ressentiments durch Kulturvermittlung abzubauen so wie Integrationsmöglichkeiten in den Arbeitsmarkt durch bes sere Anerkennung von Berufsabschlüssen und passgenaue Be rufsmodelle zu erleichtern. Dies steigert das Selbstwertgefühl und baut zugleich Vorurteile ab.

Meine Damen und Herren, alle reden davon, wie man die Selbstaktivierungskräfte der Flüchtlinge stärken muss. Da ist es für uns umso befremdlicher, dass die Mehrheit dieses Land tages im Juli - leider - unseren Antrag auf Direktwahl von Mi grationsbeiräten abgelehnt hat. In einer Zeit, in der die Flücht lingszahlen überall steigen, in einer Zeit, in der alle davon re den, dass man Hilfesuchenden eine Stimme geben kann, setzt der Landtag hier ein falsches Zeichen.

(Frau Mächtig [DIE LINKE]: Nein!)

Unter verbaler Führung des Innenministers, der in den letzten Monaten und auch davor immer wieder mit sehr fragwürdigen Äußerungen und Amtshandlungen gegenüber Flüchtlingen von sich reden gemacht hat - das haben Sie kritisiert, Frau Mächtig, vielleicht können Sie das an der Stelle auch bestätigen -, wurde hier der Antrag abgelehnt. Es ist ein Antrag, der unter allen Ge

sichtspunkten der Migrationsforschung als ein absolut zeitge mäßes Instrument der Partizipation hätte angewendet werden können. Hier setzt der Landtag leider ein falsches Zeichen.

(Beifall BVB/FREIE WÄHLER Gruppe)

Meine Damen und Herren, dieser Fehler von Rot-Rot bei derart hohen Flüchtlingszahlen, diese sinnvolle Chance, landesweit Migrationsbeiräte einzuführen, nicht zu nutzen, ist beschämend.

Nun wird es aber in den kommenden Monaten auch darum ge hen, möglichst wenig Menschen in Turnhallen unterbringen zu müssen. Es braucht gemeinsamer Kraftanstrengungen auch in den Kommunen, um die Gebäude auf ein vernünftiges Maß zu ertüchtigen. Bestehende Heime müssen winterfest ausgebaut werden. Deswegen bedarf es spätestens jetzt an vielen Orten eines Umdenkens im Bereich des Stadtumbaus.

Der Abriss von Wohnungen ist in der jetzigen Situation nicht vermittelbar. Leider mussten sehr viele Landkreise bereits jetzt von ihren modernen Unterbringungskonzepten abkommen, weil sich zeigt, dass die zeitnahe dezentrale Unterbringung in Wohnungen nicht überall stemmbar ist. Das ist auch klar. Aber die Situation darf nicht verschärft werden. Deswegen fordern die Kommunen zu Recht eine bessere und stärkere Unterstüt zung in diesem Bereich.

Wir können nicht wie heute der Ministerpräsident von einer guten Koordination sprechen, während uns jede Woche Hilfe rufe aus den Landkreisen, aus Eisenhüttenstadt, aus den Kom munen erreichen, dass die Verteilung und Unterbringung nicht überall professionell organisiert ist.

Die Willkommensinitiativen, die nahezu schon staatliche Auf gaben leisten, ohne die es überhaupt nicht mehr ginge, brau chen nicht nur mehr, sondern vor allem auch unbürokratischere schnelle Unterstützung.

(Beifall des Abgeordneten Jungclaus [B90/GRÜNE])

Zugleich wird es auch darum gehen, die Volkshochschulen zu stärken, um die Sprachvermittlung als zentrales Integrationsin strument voranzutreiben.

Meine Damen und Herren, das Land Brandenburg hat eine ehr bare Tradition der Gastfreundlichkeit und der Aufnahmebereit schaft. In diesem Geist müssen wir jetzt weiter arbeiten. Dann bekommt die Landesregierung auch von uns die hierfür nötige Unterstützung.

Zum Abschluss möchte ich mein Bedauern zum Ausdruck brin gen. Der Ministerpräsident sprach davon, dass Brandenburg von der politischen Vielfalt lebt, auch im Landtag. Er sprach von einem konstruktiven Umgang. Völlig korrekt. Es beschämt und enttäuscht mich, dass die Fraktionen dieses Landtages bei einer solchen wichtigen Aussprache - 25 Jahre Brandenburg und Flüchtlingspolitik -, uns als BVB/FREIE WÄHLER nur fünf Minuten Redezeit zugebilligt haben. Obwohl wir unser Ta geskontingent nicht einmal ausschöpfen würden, obwohl Sie sich selbst 30 Minuten und mehr und damit sechsmal so viel wie üblich genehmigen, verweigern Sie uns, wenigstens zehn Minuten zu sprechen. Bei einem solch wichtigen Thema er reichte uns gestern Abend die Information: Wir dürfen nur fünf

Minuten reden, weil kein wichtiger Grund erkennbar sei, wa rum es nötig wäre, dass wir länger reden dürfen.

Meine Damen und Herren, ich glaube, dass auch wir als BVB/ FREIE WÄHLER als frei gewählte Gruppe und auch ich als direkt gewählter Vorsitzender des Migrationsbeirates im Bar nim etwas mehr als fünf Minuten zu dem Thema hätten sagen können so, wie Sie das auch tun können. Es wirft einen trau rigen Schatten auf die Debatte, dass Sie selbst bei einem solch wichtigen, nicht parteipolitischen Thema die Benachteiligung politischer Minderheiten nicht aus Ihrem Kopf bekommen. - Schade.

(Beifall BVB/FREIE WÄHLER Gruppe)

Wir sind damit am Ende der Aussprache. Es liegen Ihnen zu diesem Tagesordnungspunkt zwei Entschließungsanträge vor. Zum einen handelt es sich um einen Entschließungsantrag der SPD-Fraktion, der CDU-Fraktion, der Fraktion DIE LINKE, der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Gruppe BVB/FREIE WÄHLER mit der Drucksachennummer 6/2647. Zum anderen ist Ihnen ein Entschließungsantrag von der Frak tion der AfD mit der Drucksachennummer 6/2651 ausgereicht worden.

Wir kommen zur Abstimmung. Wir stimmen zuerst über den gemeinsamen Entschließungsantrag, Drucksache 6/2647, ab, ein Antrag der Fraktionen von SPD, CDU, DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Gruppe BVB/FREIE WÄHLER mit dem Titel „Aufnahme, Betreuung und Integrati on auch unter den neuen Rahmenbedingungen gewährleisten“.

Wer diesem Entschließungsantrag seine Zustimmung gibt, den bitte ich um sein Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthal tungen? Damit ist der Entschließungsantrag bei einigen Enthal tungen mit großer Mehrheit angenommen worden.

(Beifall SPD, DIE LINKE und B90/GRÜNE)

Wir kommen zur Abstimmung über den zweiten Entschlie ßungsantrag, Drucksache 6/2651. Das ist ein Entschließungs antrag der Fraktion der AfD mit dem Titel „Für einen konse quenten, ehrlichen und solidarischen Umgang mit der Flücht lingskrise“.

Wer diesem Entschließungsantrag seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um sein Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Bei einigen Enthaltungen ist dieser Antrag mehrheitlich abgelehnt worden.

Ich schließe damit den Tagesordnungspunkt und rufe eine Mit tagspause aus. Wir treffen uns um 14 Uhr wieder und beginnen dann sofort mit der Fragestunde. - Vielen Dank.

(Unterbrechung der Sitzung: 13.06 Uhr)

(Fortsetzung der Sitzung: 14.02 Uhr)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir setzen die Sitzung fort.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:

Fragestunde

Drucksache 6/2621