Protokoll der Sitzung vom 09.11.2016

Hier gibt es noch viel zu tun, denn die Lebenssituation der Menschen mit Behinderungen ist nach wie vor nicht in den Köpfen angekommen. So kommt es vor - wie bei der Anhö rung vor zwei Tagen -, dass gehörlose Menschen völlig ausge schlossen sind, weil ein Dolmetscher für Gebärdensprache

fehlt, und das, obwohl es sich um die Anhörung mit der höchs ten Zuhörerzahl in der Geschichte dieses Ausschusses handel te.

Sind wir doch einmal ehrlich: Wer nimmt hierzulande die Be lange der Menschen mit Behinderungen wirklich wahr? Auch wenn Herr Attila Weidemann für den RBB unter anderem im Landtag die Barrierefreiheit testet oder „Brandenburg Aktuell“ einen Beitrag über behinderte Kampfkünstler sendet - welcher Zuschauer ohne Behinderung nimmt dies bewusst wahr, nimmt dies zur Kenntnis und denkt darüber nach? Peinlich berührt schauen noch immer viele weg und gehen siegessicher davon aus, dass sie eine Behinderung nicht treffen kann. Aber kann man wirklich davon ausgehen? Sollte man sich wirklich erst damit befassen, wenn man selbst betroffen ist?

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt noch viel zu tun in diesem Land. Ich danke der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für diesen Antrag und damit für den Anstoß zu einer intensiven Befassung im Ausschuss. Ich danke ebenfalls allen beteiligten Fraktionen für die konstruktive Erarbeitung der ge meinsamen Beschlussempfehlung und bitte alle Kolleginnen und Kollegen um ein entsprechendes Votum. - Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE, B90/GRÜNE und vereinzelt SPD sowie der Abgeordneten Augustin und Richstein [CDU])

Vielen Dank. - Für die AfD-Fraktion spricht die Abgeordnete Bessin.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Liebe Brandenburger! In Brandenburg unterhalten wir uns heute über das Bundesteilhabegesetz. Das Bundesteilhabegesetz soll und muss verbessert werden. Wir sind uns alle einig, dass wir ein modernes Teilhaberecht für Menschen mit Behinderungen wollen. Wir wollen, dass Menschen mit Behinderungen ein selbst bestimmtes Leben führen können. Es müssen Barrieren abge baut und muss ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden.

Das Bundesteilhabegesetz in seinem Entwurf erschwert den Zugang zu den notwendigen Leistungen. Es ist in der Systema tik nicht zu Ende gedacht. Das wurde auch in der Expertenan hörung im Landtagsausschuss sehr deutlich. Man merkte an vielen Stellen, dass der Umfang von Leistungen und Maßnah men von der Angst vor Kostensteigerungen diktiert wurde. Das ist so nicht hinnehmbar. Ob es sich nun um das Pooling der Leistungen, die Zusammenlegung von Teilhabeleistungen für mehrere Menschen gleichzeitig, um die fehlende Ausdehnung von Wahlrechten oder die Anrechnung von Einkommen und Vermögen handelt - das alles ist Ausdruck eines Sparzwangs, den wir in diesem Bereich überhaupt nicht hinnehmen können.

Der vorgelegte Beschluss beinhaltet viele Verbesserungen im Vergleich zu dem ursprünglichen Antrag der Grünen-Fraktion. Die Landesregierung möge sich daher im Bundesrat für Fol gendes einsetzen, heißt es im Beschluss:

„Die Zuordnung zur Pflege oder Eingliederungshilfe muss nach dem individuellen Bedarf und nicht pauschal erfolgen.“

„… die Beibehaltung und Stärkung des Vorrangs der am bulanten Leistungserbringung gegenüber einer stationä ren oder quasistationären Versorgung …“

„Beim Poolen von Leistungen bedarf es der Zustimmung der Leistungsberechtigten.“

„Der Ausschluss von Leistungskürzungen und -einschrän kungen. Der Vorrang der Pflegeleistungen ist zwingend abzuschaffen, um den Ausschluss von Eingliederungshilfe leistungen zu verhindern. Leistungen der Pflege und der Eingliederungshilfe sind gleichberechtigt nebeneinander zu gewähren.“

Auch das Verfahrensrecht muss beachtet werden, „das eine zü gige Bedarfsermittlung ermöglicht und personenzentrierte be darfsdeckende Leistungen wie aus einer Hand garantiert“, und etliches mehr.

Vielleicht gäbe es doch noch die Möglichkeit, jedem die ent sprechende Unterstützung zur Teilhabe am Arbeitsleben zu er möglichen, und zwar nicht nur in den sogenannten Werkstät ten. Allerdings ist unserer Meinung nach eine weitere Bearbei tung dieses Gesetzes notwendig, und wir werden uns heute an dieser Stelle bei der Abstimmung enthalten.

(Beifall AfD)

Vielen Dank. - Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht die Abgeordnete Nonnemacher. Bitte schön.

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Unsere Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatte im Juli ein klares Ziel: Wir wollten die Landesregierung auffor dern, ihre Einflussmöglichkeiten im Bund für ein Bundesteil habegesetz zu nutzen, das diesen Namen auch verdient, ein Gesetz, das zentrale Vorgaben der UN-Behindertenrechtskon vention in Bezug auf Selbstbestimmung und Teilhabe für Men schen mit Behinderung umsetzt und sich konsequent vom be vormundenden Fürsorgegedanken verabschiedet. Wir hatten bereits vermutet, dass die Bundesregierung dafür einen deutli chen Anstoß aus den Ländern braucht.

Schon im Mai dieses Jahres verabschiedete der Bundestag ein Reförmchen des Behindertengleichstellungsgesetzes. In vielen Punkten setzte sich die Große Koalition schon damals über ein deutige Forderungen der Verbände wie auch über die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention hinweg.

Ähnliches beobachteten wir, nachdem die ersten Entwürfe des Bundesteilhabegesetzes bekannt wurden. Sie enthalten zahlrei che und tiefgreifende Veränderungen, die die Lebenssituation der Betroffenen auch im Land Brandenburg verschlechtern können.

Für uns stand und steht aber fest: Teilhabeleistungen für Men schen mit Behinderung dürfen sich nicht mehr an sozialhilfe rechtlichen Maßstäben, sondern müssen sich am menschen

rechtlich gebotenen Ziel der vollen und gleichberechtigten Teilhabe orientieren. Noch viel weniger dürfen sich durch das Bundesteilhabegesetz Verschlechterungen für Menschen mit Behinderung im Vergleich zur aktuellen Rechtslage ergeben. Deswegen ist es sehr gut, dass wir mit unserem Antrag die Dis kussion im Landtag Brandenburg darüber angeschoben haben.

Alle Bedenken, die wir in unserem Antrag formuliert hatten, wurden durch die Expertinnen und Experten in der Anhörung bestätigt. Der Behindertenbeauftragte des Landes, Herr Dusel, fasste das so zusammen: Unisono schallt Kritik durch das Land. - Als Ergebnis der Anhörung haben wir eine überfraktio nelle Beschlussempfehlung erreicht, die vollumfänglich die Intention unseres Antrags abbildet und noch darüber hinaus geht.

Wir sind froh, dass so viele Anregungen aus der Anhörung auf gegriffen wurden. Unser Antrag wurde damit noch deutlich weiterentwickelt, weiterqualifiziert und abgerundet. In diesem Sinne gebe ich das Dankeschön an die betroffenen Kolleginnen und Kollegen zurück. Es war wirklich eine vorbildliche Zu sammenarbeit.

(Beifall B90/GRÜNE, SPD, CDU, DIE LINKE sowie BVB/FREIE WÄHLER Gruppe)

Auch dem Ziel, die Landesregierung möge sich im Bundesrat vehement für deutliche Verbesserungen am Gesetzentwurf ein setzen, sind wir ein sehr gutes Stück nähergekommen. Der So zialausschuss des brandenburgischen Landtags hat fraktions übergreifend beschlossen, eine Stellungnahme an den Sozial ausschuss des Bundestags zu senden, der gerade vorgestern er neut zum Bundesteilhabegesetz getagt hat. Unser blauer Brief aus Brandenburg - so möchte ich es einmal nennen - lag dabei als Beratungsvorlage vor.

Auch im Bundestag wurden alle Bedenken von den Expertin nen und Experten vorgetragen, die wir ebenfalls haben. Auch durch die Bundestagsfraktionen der GroKo geht ein tiefer Riss.

Wenn sich nun Mitte Dezember der Bundesrat mit dem Gesetz entwurf befassen wird, dann wird sich die Landesregierung in ihrem Abstimmungsverhalten hoffentlich sehr stark an der Be schlussvorlage aus dem Sozialausschuss orientieren. Denn es wird in dieser Schlussabstimmung sehr auf die Länder ankom men. Um dem großen Druck der kommunalen Spitzenverbän de in die entgegengesetzte Richtung standzuhalten, brauchen wir eine sehr starke Stimme aus allen Ländern. Dazu hat Bran denburg in sehr guter Weise beigetragen. - Danke schön.

(Beifall B90/GRÜNE, SPD, CDU und DIE LINKE)

Vielen Dank. - Für die Landesregierung spricht Frau Ministe rin Golze.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag wird die Landesregie rung aufgefordert, sich im Bundesrat auch weiterhin im Inter esse der Menschen mit Behinderung auch im Land Branden

burg, die diesem Gesetzentwurf von Anfang an sehr kritisch gegenüberstanden und ihre Kritik bis zum heutigen Tag äu ßern, für Verbesserungen an diesem Bundesteilhabegesetz ein zusetzen.

Die Betroffenenverbände, die Interessenverbände von Men schen mit Behinderung kritisieren, dass der Gesetzentwurf im Fürsorgerecht verharrt und eben nicht Grundlage für ein mo dernes Teilhaberecht bildet, wie es die UN-Behindertenrechts konvention verlangt. Sie haben mit gemeinsamen, sehr laut starken und - wie ich finde - auch sehr kreativen und bunten Aktionen auf Änderungsbedarf aufmerksam gemacht.

Es ist schon angesprochen worden: Vorgestern war die Anhö rung im Fachausschuss des Bundestags. Die Mehrheit der Ex pertinnen und Experten, die dort befragt wurden, hat sich sehr kritisch zum Regierungsentwurf des Bundesteilhabegesetzes geäußert und entsprechende Nachforderungen formuliert.

Das Sozialministerium in Brandenburg hat diesen Prozess von Anfang an auch sehr kritisch begleitet. Wie Sie wissen, haben wir im Gesetzgebungsverfahren zahlreiche Änderungen einge bracht oder Änderungsvorschläge anderer Länder unterstützt. Im Bundesrat sind 96 Änderungs- oder Entschließungsanträge mit großer Mehrheit beschlossen worden. Einige davon hat Brandenburg eingebracht. So haben wir uns zum Beispiel dafür eingesetzt, die Deckelung von Leistungen im Rahmen der Pfle geversicherung für pflegebedürftige behinderte Menschen, die bisher in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe leben, aufzuheben. Eine solche Deckelung wäre in keiner Weise zu rechtfertigen.

Brandenburg hat im Bundesratsverfahren darüber hinaus auch Anträge unterstützt, die zum Ziel hatten, den leistungsberech tigten Personenkreis nicht einzuschränken. Wir wollten eine klar definierte und vor allem handhabbare Schnittstelle zwi schen der Eingliederungshilfe auf der einen und den Leistun gen der Pflege bzw. der Hilfe zur Pflege auf der anderen Seite. Wir wollen den Vorrang von ambulanten Leistungen, wir wol len eine Evaluierung, die im Gesetzestext bereits festgeschrie ben wird, und einen Ausgleich etwaiger - beim Vollzug des Gesetzes auftretender - Mehrkosten durch den Bund.

All diese Anträge haben eine große Mehrheit gefunden und sind nun Bestandteil der Stellungnahme des Bundesrats, die vorgestern bei der Anhörung im Sozialausschuss des Bundes tags auch vorgelegen hat.

Darüber hinaus hat das Sozialministerium im Fachausschuss des Bundesrats auch Anträge eingebracht, zum Beispiel zur Einführung eines Bundesteilhabegeldes oder zum gänzlichen Verzicht der Anrechnung von Einkommen und Vermögen. Die se Anträge haben jedoch in der Länderkammer keine Mehrheit gefunden.

Ebenfalls wurden Anträge anderer Länder abgelehnt, die die Öffnung der Werkstätten oder die gemeinsame Inanspruchnah me von Leistungen - Poolen von Leistungen - von der Zustim mung der Leistungsberechtigten abhängig zu machen zum Ziel hatten. Auch dieser Antrag hat unter den Ländern keine Mehr heit gefunden.

Nichtsdestotrotz: 96 Änderungsanträge machen deutlich, wie groß das Anliegen der Länder ist, an diesem Teilhabegesetz

noch Änderungen zu erreichen. Diese Aufzählung macht auch deutlich, dass wir uns für diese Änderungen sehr stark einge setzt haben. Es liegen damit sehr konstruktive Vorschläge auf dem Tisch, die verhindern sollen, dass wir bei dieser wichtigen Reform der Hilfe für Menschen mit Behinderung auf halbem Weg stehen bleiben. Die Erwartungen sind hoch, sie wurden auch von der Bundesregierung selbst durch einen sehr langen Prozess der Einbeziehung von Menschen mit Behinderung ge weckt. Nun soll daraus Realität werden.

Ich freue mich natürlich über die fraktionsübergreifende Unter stützung unseres Anliegens, die ich auch persönlich empfangen habe. Der Ball liegt aber weiterhin beim Bundestag. Nach der Anhörung werden sich nun die Fraktionen mit dem Gesetzent wurf auseinandersetzen und Änderungsvorschläge vorlegen müssen, um dann in der abschließenden Lesung darüber zu be finden. Ich würde mich sehr freuen, wenn die Positionen von SPD und CDU im Landtag Brandenburg dabei von den Regie rungsfraktionen im Bundestag übernommen würden.

(Beifall DIE LINKE und B90/GRÜNE sowie vereinzelt SPD)

Anderenfalls wird es mit der Realisierung von notwendigen Änderungen im Gesetzgebungsverfahren nämlich sehr schwer werden.

Dass sich der Bund an höchstwahrscheinlich auftretenden Mehrkosten beteiligen muss, hat er eigentlich selber bei der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention festge schrieben, womit er zum Ausdruck gebracht hat, dass das eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Diese Beteiligung des Bundes ist natürlich neben den vielen fachlichen Fragen einer der Gradmesser, anhand derer wir entscheiden, wie wir uns im Dezember bei der endgültigen Abstimmung im Bundesrat ver halten werden.

Lassen Sie mich noch einen Satz dazu sagen, auch wenn ich damit meine Redezeit leicht überschreite: Sollte es im Dezem ber im Bundesrat nicht zu einer Einigung zwischen Bundestag und Bundesrat kommen und der Vermittlungsausschuss ange rufen werden, wird Brandenburg einen sehr entscheidenden Anteil am Fortgang der Ereignisse haben. Denn Brandenburg ist ab 1. Januar Vorsitzland der Arbeits- und Sozialministerkon ferenz. Es ist üblich, dass die Fachministerkonferenzvorsitzen den in Gespräche einbezogen werden, wenn ein Vermittlungs ausschuss notwendig ist.

Insofern danke ich Ihnen auch für diesen Antrag, weil ich dann eine sehr gute Arbeitsgrundlage habe und weiß, mit welchen Forderungen ich in diese Verhandlung gehen werde. - Herzli chen Dank.

(Beifall DIE LINKE, SPD und B90/GRÜNE)

Ich schließe die Aussprache und rufe die Beschlussempfehlung und den Bericht „Alle inklusive in Brandenburg“ - Das Bun desteilhabegesetz verbessern, Drucksache 6/5341, zur Abstim mung auf. Ich frage: Wer möchte dieser Beschlussempfehlung und diesem Bericht zustimmen? - Gegenstimmen? - Enthaltun gen? - Damit sind Beschlussempfehlung und Bericht bei eini gen Stimmenthaltungen angenommen.

Ich schließe Tagesordnungspunkt 5 und rufe Tagesordnungs punkt 6 auf: