Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Sehr geehrter Gast! Diabetes mellitus ist weiter auf dem Vormarsch. Die Gründe hierfür sind vielschichtig und nicht auf eine Hauptursache zu reduzieren. Das steigende Durchschnittsalter der Bevölkerung spielt hierbei eine Rolle, aber auch zivilisationsbedingt verän derte Lebensumstände, insbesondere die Kombination aus fal scher Ernährung und Bewegungsmangel - also so ungefähr das, was wir in jeder Sitzungswoche hier mit uns und unseren Körpern anstellen.
Der technische Fortschritt der letzten Jahrzehnte führte dazu, dass ein großer Teil der Bevölkerung in den Industrienationen sich kaum noch körperlich betätigen muss, um die Anforderun gen des Lebens zu meistern. Während vor wenigen Jahrzehn ten allein zur Bewältigung der täglichen Wege zur Schule, zur Arbeitsstelle, zum Einkauf ganz selbstverständlich Muskel kraft aufgewendet wurde, erleben wir heute eine „Schülergene ration Rücksitz“, Büroarbeitsplätze bzw. weitgehend automati sierte Produktionsabläufe mit Überwachungstätigkeiten und autofreundliche Supermärkte am Stadtrand bzw. mit ÖPNVAnschluss in den Innenstädten.
Gleichzeitig sind Lebensmittel quasi immer und in unbegrenz ter Menge verfügbar, wobei der Anteil der Lebensmittel, die man selbstständig zu einem Essen verarbeitet, kontinuierlich abgenommen hat. Salz, Zucker und Fett als wichtigste Ge schmacksträger dominieren in verzehrfertigen Speisen und Ge tränken die Angebote im Lebensmittelhandel. Diese Umstände hat der Einzelne zunächst nicht zu vertreten. Niemand von uns will zurück in die Zeit, in der man körperlich hart schuften musste, um am Ende wenigstens das Essen für seine Familie auf dem Tisch zu haben.
Allerdings muss sich unsere Gesellschaft viel konsequenter als bisher mit den Folgen der oben angerissenen Lebensumstände auseinandersetzen. Bereits seit Beginn der 2000er-Jahre wird in Deutschland ein System aufgebaut, das den schönen neu deutschen Namen Disease-Management-Programm - DMP - trägt. Neben der Vergütung der vertragsärztlichen Leistungen nach einem einheitlichen Bewertungsmaßstab werden dort zu sätzliche Leistungen wie Dokumentationen oder Schulungs maßnahmen außerhalb der Gesamtvergütung honoriert.
Ziel dieser DMPs ist die strukturierte Behandlung von chro nisch kranken Menschen in Deutschland, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung inzwischen auf unfassbare 20 % bis 25 % gestiegen ist. Von fünf Deutschen ist also mindestens einer mit einer chronischen Krankheit geschlagen, die seine Lebensqua lität einschränkt, ihn zu regelmäßiger Medikamenteneinnahme oder in eine dauerhafte medizinische Behandlung zwingt und die nicht zuletzt auch die Lebenserwartung mindert. Gleichzei tig ist feststellbar, dass die gerade beschriebenen Lebensum stände eine der wichtigeren Ursachen dieser traurigen Ent wicklung darstellen. Die großen Krankheitsgruppen werden angeführt von Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und den Stoffwechselerkrankungen, hier vor allem dem Diabetes mellitus Typ 2.
Als 2003 auch in Brandenburg mit der Umsetzung eines DMP Diabetes mellitus Typ 2 begonnen wurde, ging man bundes weit von 7 % bis 8 % betroffener Diabetiker aus. Die neuesten Zahlen für das Land Brandenburg zeigen, dass inzwischen rund 12 % der Brandenburger von dieser chronischen Krank heit betroffen sind. Brandenburg liegt damit in der Spitzen gruppe der am meisten betroffenen Bundesländer. Diabetes mellitus führt zu Herzinfarkten, Erblindungen, Schlaganfällen, zu ca. 40 000 Amputationen pro Jahr und schließlich zum Tod der Patienten.
Neben den ohnehin dramatischen Folgen für die Erkrankten entstehen durch die Behandlung und Betreuung so vieler chro nisch Kranker enorm hohe Kosten für das beitragsfinanzierte Sozialsystem. Die Landesregierung muss daher dringend ihre Aktivitäten in den Bereichen Datenanalyse, Forschung und Prävention steigern. Es gilt, auch gemäß den Vorgaben des Ro bert Koch-Instituts für den Aufbau einer bundesweiten Diabe tes-Surveillance mit landesspezifischen Daten eine Gesund heitsberichterstattung aufzubauen, die unterschiedliche Prä ventions- und Versorgungsbedarfe nach Personen - also etwa Geschlecht, Alter, Bildung - und Ort, nach regionalen Beson derheiten sowie Veränderungen über die Beobachtungszeit deutlich macht.
Ohne diese Daten ist gezielte Gesundheitspolitik in Branden burg auf diesem Gebiet gar nicht möglich. Unterstrichen wird
dies durch eine Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1093 zur Diabeteserkrankung in Brandenburg aus die ser Legislaturperiode:
„Der Landesregierung stehen repräsentativ erhobene und valide Daten mit der gewünschten Differenzierung für das Land Brandenburg nicht zur Verfügung.“
In Anbetracht der besonderen Betroffenheit der Brandenburger Bevölkerung sollte sich die Aktivität der Landespolitik defini tiv nicht darauf beschränken, auf eine Datenlieferung aus dem Robert Koch-Institut im Rahmen der sogenannten Nationalen Diabetes-Surveillance im Jahr 2019 zu warten.
Allein durch die in Brandenburg seit mehr als einem Jahrzehnt laufenden Disease-Management-Programme liegen den Ver tragspartnern aus der gesetzlichen Krankenversicherung und der Kassenärztlichen Vereinigung viele Erkenntnisse vor, die in Dokumentationsbögen erfasst werden. Auch wenn diese aus dem unmittelbaren Arzt-Patienten-Verhältnis stammenden Da ten nicht ungefiltert weitergegeben werden dürfen, lassen sich doch mit Sicherheit zahlreiche wertvolle Rückschlüsse für die zukünftige Gesundheitspolitik im Lande ziehen.
Ebenso muss die Expertise der Brandenburger Diabetes Ge sellschaft mit den bestens vernetzten Ärzten und den Vertretern der Betroffenen genutzt werden. Genau zu diesem Zweck for dern wir in unserem Antrag die Initiierung eines Diabetesbeira tes für Brandenburg.
Auch in verschiedenen Bundesinstituten wie dem Deutschen Institut für Ernährungsforschung sind bereits heute landesspe zifische Daten vorhanden und können genutzt werden. Die Wirksamkeit primärpräventiver Maßnahmen zur Senkung des Diabetesrisikos und auch der Maßnahmen zur Verbesserung von Früherkennung und richtiger Behandlung eines Diabetes mellitus kann ohnehin erst rückblickend bewertet werden.
Die Erarbeitung einer Strategie zur Früherkennung und Prä vention steht also keinesfalls im Widerspruch oder etwa unter dem Vorbehalt der geplanten Nationalen Diabetes-Surveillance 2019. Vielmehr müssen sich beide Maßnahmen zukünftig er gänzen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das bringt mich zum Ausgangspunkt meiner Rede und der so wichtigen Präventi onsarbeit zurück. Der Mensch neigt nicht unbedingt dazu, sich körperlich zu betätigen, wenn die äußeren Umstände es nicht erfordern. Diese Eigenschaft dürfte er mit allen übrigen Lebe wesen auf dem Planeten teilen; denn wer ohne Not Energie verschwendet, bereut es im normalen Kreislauf des Lebens in der Regel schnell. Insofern ist es also notwendig, ein gesell schaftliches Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Bewegung und gesunde Ernährung für den Einzelnen auch ohne äußere Zwänge sinnvoll sind. Stigmatisierung und Bevormundung werden hierbei nicht zum dauerhaften Erfolg führen.
An dieser Stelle ist mir wichtig zu betonen, dass auch ein Typ2-Diabetes nicht allein vom Lebenswandel eines Menschen, sondern auch von vielen verhaltensunabhängigen Faktoren ab hängt. Selbst wenn sich ab heute alle Menschen deutlich mehr
bewegen und gesünder essen würden, wäre die Krankheit nicht verschwunden. Sie würde aber deutlich seltener und erst in hö heren Altersgruppen auftreten.
Wir sind überzeugt davon, dass die eigenständige Entschei dung für eine gesundheitsbewusste Lebensweise, getroffen im Bewusstsein des Wertes der eigenen Gesundheit, letztlich die einzig dauerhafte Grundlage für ein gesellschaftliches Umsteu ern ist. Wir stellen fest, dass die Landesregierung weit hinter ihren Möglichkeiten bleibt, diesen gesellschaftlichen Bewusst seinswandel zu unterstützen. Die Präventionsarbeit ist ein zu fälliges Flickwerk mit großen Löchern. Die Chance des Prä ventionsgesetzes ist in Brandenburg bislang verpufft.
In der Realität sieht Präventionsarbeit im Jahr 2017 nicht we sentlich anders aus als im Jahr 2014. Das ist enttäuschend und angesichts der Entwicklung im Bereich der chronischen Er krankungen auch nicht mehr akzeptabel.
Noch eine Überzeugung meiner Fraktion möchte ich betonen: Gute Präventionsarbeit, insbesondere in den Lebenswelten Ki ta, Schule und Beruf, erfasst alle Menschen. Es trifft zu, dass überproportional viele Menschen aus unteren Einkommens schichten von chronischen Erkrankungen betroffen sind. Eben so trifft jedoch zu, dass weder die Möglichkeit zur körperlichen Bewegung noch eine gesunde Ernährung in Deutschland eine Frage des Geldes sind. Ideologisch getriebene Differenzierun gen verstellen daher nur den Blick auf die Verantwortung jedes einzelnen Menschen für seinen Körper und seine Gesundheit.
Unser Antrag soll die bereits vorhandene Expertise nutzbar machen und eine neue Stufe der Präventionsarbeit vorbereiten. Wir wollen nicht nur einen allgemeinen Bericht, sondern Ar beitsstrukturen. Das sind wir hunderttausenden chronisch kran ken Brandenburgern schuldig. - Vielen Dank.
Vielen Dank. - Wir setzen die Aussprache fort. Jetzt spricht die Abgeordnete Müller für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kolle gen Abgeordnete! Wir rücken heute eine Volkskrankheit in den Mittelpunkt, die immer mehr Menschen und vor allem immer mehr junge Menschen betrifft, auch bei uns in Brandenburg. Herr Nowka hat die Zahl vorhin schon genannt: 12 % Erkrank te in Brandenburg.
Fakt ist jedoch: Diabetes mellitus Typ 2 - und auf diesen Typ 2 will ich mich konzentrieren - gehört zu den am besten erforsch ten Krankheiten. Wir wissen heute, wie und warum er entsteht, welche Faktoren seine Entstehung begünstigen und wie wir ihn behandeln können. Trotzdem wächst die Zahl der Menschen, die an Diabetes mellitus erkranken. Dabei ist Diabetes mellitus Typ 2 eine Volkskrankheit, der wir nicht heil- und hilflos aus geliefert sind. Denn den Risikofaktoren, die ihre Entstehung begünstigen, kann mit Mitteln der Prävention und der Gesund heitsförderung wirksam entgegengewirkt werden.
Zwar wird die Krankheit Diabetes mellitus in den nationalen Gesundheitszielen genannt, aber anders als in anderen Län dern - wie Australien, England, Frankreich oder auch Kanada - existieren in Deutschland keine Zielprogramme. In Frankreich etwa ist die Prävention in einem Fünfjahresplan für öffentliche Gesundheit als ein bedeutendes Ziel verankert worden. In Neu seeland sind sogenannte Basisgesundheitsorganisationen damit beauftragt, präventive Dienste für benachteiligte Bevölke rungsgruppen bereitzustellen, zum Beispiel für Maori, die Ur einwohner dieses großen Inselstaats. Die Forderung, gesund heitliche Ziele zu formulieren, die sich an konkreten Ergebnis sen messen lassen, ist auf nationaler Ebene bisher ohne Resul tat geblieben. Die nationale Diabetes-Strategie steckt auf Bun desebene fest.
Mit Ihren Forderungen nach einem Diabetes-Register und der Onlineplattform greifen sie dem Gedanken nämlich vor und wollen auf dieser Ebene schon Taten folgen lassen.
Was brauchen wir aber in Brandenburg, um bei der Problema tik voranzukommen? Wir wollen zunächst eine Expertise zum Stand der Krankheit in Brandenburg erarbeiten lassen. Ja, Herr Nowka, Sie haben Recht, es gibt viele Daten. Es gibt Krankenkassendaten, es gibt Daten der Krankenhausstatistik, die auch Sterbefälle berücksichtigen. Aber wir haben meistens keinen Zugriff auf diese Daten, um diese insgesamt auswerten zu können. Wir benötigen also eine Zusammenfassung der Datenlage, um dieser Krankheit in Brandenburg vorbeugen zu können. Denn nichts anderes bedeutet Prävention - vorbeugen. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben der Gesundheitspolitik: die Bedingungen dafür zu schaffen, dass Menschen gesund bleiben, in unserem Fall, dass die Brandenburger gesund blei ben.
Immer wieder und zu Recht wird das Thema der Stärkung der Gesundheitskompetenz ins Feld geführt. Was gibt es dazu in Brandenburg? Im Bereich Schule und Kita sind es viele Maß nahmen. Die Brandenburger Diabetes Gesellschaft hat zum Beispiel das Schulprojekt „Diabetes“ ins Leben gerufen. Auch die neuen Rahmenlehrpläne der Brandenburger Schulen wur den um das Handlungsfeld der Prävention erweitert. Weiterhin gibt es das Präventionsprogramm der „Guten gesunden Schu le“, das mit Beginn des nächsten Schuljahres verstärkt und ausgeweitet werden soll. Es gibt die Schulkrankenschwester, und pädagogische Konzepte der Kitas und Schulen weisen Er nährung und Bewegung als einen Schwerpunkt ihrer Arbeit aus.
Gleichzeitig haben wir mit dem Beschluss des Landtags die Rahmenvereinbarung zum Präventionsgesetz als Grundlage zur Stärkung und zum Ausbau von präventiven und gesund heitsfördernden Angeboten auf den Weg gebracht. Außerdem haben wir die Sportförderung auf 17 Millionen Euro jährlich erhöht, damit auch die Sportvereine unter anderem dabei unter stützt werden, Gesundheitssportangebote auf- und auszubauen.
Es fehlt also nicht an präventiven Ansätzen. Aber, Herr Nowka, die Frage ist: Sind diese flächendeckend und in ihrer Form wirksam, das heißt nachhaltig? Sie stellen das unter Verweis auf einen Vergleich von 2014 und 2017 infrage.
Wie wirkt das Präventionsgesetz? Diese Frage müssen wir uns tatsächlich stellen. Ist das, was wir machen, wirksam? Kommt das in der Fläche an? Auch das soll der Bericht der Landesre gierung beantworten. Denn wir müssen wissen, welche diabe tesbezogenen Aktivitäten es im Land in der Fläche gibt, ob sie nachhaltig sind, wo sie gestärkt und wo sie unterstützt werden müssen.