Protokoll der Sitzung vom 10.05.2001

Ich appelliere gleichzeitig an alle Länder, entsprechende Landesgesetze zu erlassen. Dass die Zeit für diese Gesetze gekommen ist, führe ich auch auf die Vorbildwirkung des Ber

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Frau Sen Schöttler

liner Landesgleichberechtigungsgesetzes und die damit verbundene weitere Sensibilisierung in Fragen der Behindertenpolitik zurück.

Man sagt, wenn man ein Ziel erreicht hat, erscheint das Ziel plötzlich nicht mehr als Ziel, sondern als Station. Wir in Berlin haben mit dem Landesgleichberechtigungsgesetz nun eine Station erreicht. Ich fordere alle auf, sich ein neues Ziel zu setzen, um mit und für unsere Bürgerinnen und Bürger mit Behinderungen eine gänzlich gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen zu erreichen. – Danke schön!

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU – Beifall des Abg. Berger (Grüne)]

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir kommen dann zur Aussprache. Hierzu empfiehlt der Ältestenrat eine Redezeit von bis zu 15 Minuten pro Fraktion in freier Aufteilung der Redebeiträge. – Widerspruch höre ich dazu nicht. Dann verfahren wir so. – Das Wort in der Aussprache hat zunächst für die CDU-Fraktion Frau Abgeordnete Herrmann. – Bitte sehr!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte aber trotzdem einige Sätze aus Sicht der Abgeordneten zur Begründung der Großen Anfrage hier vortragen, damit auch Nichtbetroffene informiert sind.

Der 5. Mai wird alljährlich als europaweiter Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen begangen. Im Vorfeld dieses Tages hatten sich der Landesbeauftragte für Behinderte, Herr Marquard, und der Vorsitzende des Landesbeirates für Behinderte, Herr Dr. Schmidt, an alle Fraktionen mit der Bitte gewandt, im Umfeld dieses Tages in einer Plenarsitzung behindertenpolitische Fragen zu diskutieren und dazu möglichst vielen Besucherinnen und Besuchern mit Behinderungen den Zugang zum Plenarsaal zu ermöglichen. Wir sind diesem Wunsch gern nachgekommen und haben unter Berücksichtigung der Möglichkeiten, die unsere Geschäftsordnung dafür bietet, deshalb über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses angeregt, –

Frau Abgeordnete, darf ich Sie einmal kurz unterbrechen. – Meine Damen und Herren, es ist äußerst unhöflich, der Rednerin den Rücken zuzuwenden. Ich bitte Sie, doch Platz zu nehmen und der Rede zu folgen.

[Beifall]

Frau Abgeordnete, Sie haben das Wort!

Danke schön, Herr Präsident! – eine gemeinsame Große Anfrage aller Fraktionen für die heutige Plenarsitzung und Plenartagesordnung einzubringen, was im Ältestenrat sofort von den anderen Fraktionen unterstützt wurde.

[Zurufe der Abgn. Merkel (SPD) und Gaebler (SPD)]

An dieser Stelle möchte ich noch einmal alle Besucherinnen und Besucher, die speziell zu diesem Tagesordnungspunkt hier in das Parlament gekommen sind, ganz herzlich begrüßen.

[Beifall]

Nun aber zu der Großen Anfrage, die nicht nur wegen der Bitte der Behindertenvertretung zustande gekommen ist. In der kommenden Woche, am 17. Mai, sind genau zwei Jahre vergangen, seit wir das Berliner Landesgleichberechtigungsgesetz für Menschen mit und ohne Behinderung hier im Plenum verabschiedet haben. Ich denke, dass es an der Zeit ist, in der breiten Öffentlichkeit im Hinblick sowohl auf das Erreichte als auch auf weiterhin bestehende Knackpunkte ein Resümee zu ziehen. Frau Senatorin hat dazu einige Ausführungen gemacht. Doch bevor ich auf die gegenwärtige Situation eingehe, gestatten Sie mir noch einen kurzen Rückblick.

Die Grundlage für unser Gesetz wurde ja bereits mit den Leitlinien für den Ausbau Berlins als behindertengerechte Stadt gelegt, die im Ergebnis eines intensiven Dialogs mit den Berliner Behindertenverbänden vom Senat im September 1992 beschlossen wurden. Ich gehöre zu den Berlinern Parlamentariern, die die Umsetzung der Leitlinien seit dieser Zeit begleiten durften. Wenn ich mich so in der Stadt umsehe, kann ich feststellen, dass wir gemeinsam im Sinne der Integration und der Berücksichtigung der Interessen der Menschen mit Behinderungen einiges erreicht haben. Allerdings mussten wir auch feststellen, dass die Leitlinien im großen Bereich zu ihrer Umsetzung zusätzlich der rechtsverbindlichen Regelung durch ein Gesetz bedurften – Frau Senatorin führte es schon aus.

Auf der Basis eines von den Behindertenverbänden vorgeschlagenen Gesetzentwurfes hat die CDU-Fraktion gemeinsam mit dem Koalitionspartner den Gesetzentwurf für das Berliner Landesgleichberechtigungsgesetz in das Parlament eingebracht. Ich bin schon ein wenig stolz darauf, dass es uns trotz vielfältiger Bedenken aus den Fachverwaltungen und obwohl nicht alle Wünsche der Behindertenverbände berücksichtigt werden konnten, nach einem intensiven Meinungsaustausch mit allen Beteiligten gelungen ist, als erstes Bundesland ein Landesgleichberechtigungsgesetz für Menschen mit Behinderungen zu verabschieden und damit für die Weiterentwicklung des Behindertenrechtes im ganzen Land ein Signal zu setzen. Bedauerlich ist aber, dass auch heute, nach zwei Jahren, in wenigen anderen Bundesländern lediglich Entwürfe für ein Gleichberechtigungsgesetz vorliegen. Auch auf Bundesebene steht leider die Umsetzung des Wahlversprechens der rot-grünen Bundesregierung immer noch aus. Das ist im übrigen auch die Einschätzung des Berliner Behindertenverbandes, der im neuen Sozialgesetzbuch IX zwar eine grundsätzliche begrüßenswerte Zusammenfassung und Weiterentwicklung des Rehabilitationsrechts sieht, gleichzeitig aber bemängelt, dass das Gesetz wegen fehlender leistungsrechtlicher Regelung nicht dem deklarierten Anspruch, das Benachteiligungsverbot im Bereich der Sozialpolitik umzusetzen, gerecht wird. Ich hoffe, dass hier schnellstmöglich im Interesse der behinderten Menschen etwas nach vorn gebracht wird.

Lassen Sie mich nach diesem kurzen Ausflug in die Geschichte noch kurz auf einige konkrete Punkte der Großen Anfrage eingehen, die für uns von besonderer Bedeutung sind. Ich denke hier insbesondere an den Telebus, der im Gleichberechtigungsgesetz abgesichert ist. Viele Menschen mit Behinderung können wegen der Art und Schwere ihrer Behinderung, oder der Notwendigkeit von Treppenhilfe beziehungsweise der ungenügend behindertengerechten Ausstattung des Verkehrsangebots nicht am öffentlichen Personannahverkehr teilnehmen. Für diese Menschen wird ein besonderer Fahrdienst vorgehalten. Im Vergleich der Bundesländer stellt Berlin seit Jahren einen der qualitativ ausgewogensten Fahrdienste sicher, welcher monatlich von 10 000 Personen genutzt wird.

Die überwiegende Finanzierung erfolgt aus Haushaltsmitteln des Landes Berlin. Für das Jahr 2001 stehen 26,7 Millionen DM zur Verfügung. Die Eigenbeteiligung der Nutzer in Höhe von 2,4 Millionen DM soll durch eine neue Telebusverordnung geregelt werden. Hier ist unseres Erachtens eine nochmalige Berechnung für Wenig- und Vielfahrer vorzunehmen. Es kann nicht sein, dass die Personen, die sparsam sind, für die Nutzer aufkommen sollen, die regelmäßig weit mehr als 21 Fahrten im Monat in Anspruch nehmen.

Ein weiterer Punkt betrifft die Zusammenarbeit des Landesbehindertenbeauftragten mit den einzelnen Senatsverwaltungen bei der Umsetzung des Landesgleichberechtigungsgesetzes, die sich noch schwierig gestaltet. Der Informationsfluss zwischen den einzelnen Verwaltungen und dem Landesbeauftragten verläuft leider noch nicht reibungslos. Bei den einzelnen Senatsverwaltungen muss sich die Erkenntnis noch stärker durchsetzen, dass der Landesbeauftragte für Behinderte frühzeitig einzubeziehen ist und nicht erst, wenn die Entscheidung bereits weitgehend getroffen ist. Seit seinem Amtsantritt hat der Landesbeauftragte für Behinderte eine Reihe von angezeigten beziehungsweise vermuteten Verstößen gegen das Diskriminierungsverbot bei den verantwortlichen Stellen beanstandet und

um Stellungnahme gebeten. Dabei wurde deutlich, dass es noch unterschiedliche Auffassungen und Unklarheiten darüber gibt, was unter Diskriminierung von Menschen mit Behinderung zu verstehen ist.

Ich bedauere in diesem Zusammenhang, dass es unsere Geschäftsordnung nicht zulässt, den Landesbeauftragten für Behinderte hier im Plenum selbst zu Wort kommen zu lassen. – Ich finde es auch unmöglich, dass Herr Marquard als behindertenpolitischer Vertreter hinten steht, statt hier vorne zu sitzen.

[Vereinzelter Beifall bei der PDS und den Grünen]

Aber wir werden diese Fragen noch einmal ausführlich im Ausschuss besprechen und den Landesbeauftragten dazu einladen.

Ich hoffe auch bezüglich der bezirklichen Behindertenbeauftragten auf weitere Fortschritte. Es ist nicht zu akzeptieren, dass es weiterhin nicht in allen Bezirken Behindertenbeauftragte gibt oder dass sie wegen einer völlig unzureichenden Ausstattung ihre gesetzlich verankerten Aufgaben nicht erfüllen können.

Noch ein Fragenkomplex, der mir besonders am Herzen liegt, nämlich die Umsetzung des II. Abschnitts des Gesetzes, in dem es um die Förderung von gehörlosen und hörgeschädigten Menschen geht. Im Dezember 1999 wurde vom Beirat für behinderte Studierende im Roten Rathaus eine Veranstaltung zur Einrichtung eines Studiengangs für Gebärdendolmetscher durchgeführt. In einer Nachfolgeveranstaltung wurde der Ausbildungsweg gehörloser Menschen – bis zum Studium an der Hochschule – und ihre Situation als Studierende in Berlin dargestellt. Dabei wurde deutlich, wie dringend Veränderungen notwendig sind. Anlässlich unserer gemeinsam mit den Fachsprechern der SPD-Fraktion am vergangenen Montag durchgeführten Beratung mit Berliner Behindertenverbänden wurden uns vom Vorsitzenden des Berliner Gehörlosenverbands, Herrn Zander, die aktuellen Probleme der Gehörlosen Menschen dargestellt. Erfreulich ist, dass von der zuständigen Senatsverwaltung darüber informiert wurde, dass vorgesehen sei, ab dem Wintersemester 2002/2003 an der Humboldt-Universität ein Lehrangebot für deutsche Gebärdensprache einzurichten.

[Frau Dr. Lötzsch (PDS): Es wird auch Zeit!]

Noch einen Schlussappell: Ich denke, das Landesgleichberechtigungsgesetz für Menschen mit und ohne Behinderung geht jeden in der Stadt etwas an. Es gibt Menschen, die schon mit Behinderung zur Welt kommen, und andere, die es durch Krankheit oder Unfälle werden. Deshalb bitte ich Sie heute, dem Thema die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. – Vielen Dank! [Beifall bei der CDU – Beifall der Frau Abg. Dr. Lötzsch (PDS)]

Vielen Dank, Frau Herrmann! – Der Behindertenbeauftragte, Herr Marquard, hätte selbstverständlich vorne sitzen können, aber er wollte hinten bei seien Kollegen sitzen. Diesen Wunsch haben wir respektiert.

Dann nehme ich meine Kritik zurück.

[Beifall bei der CDU]

Für die PDS hat nun Frau Dott das Wort!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Gäste! Seit Verabschiedung des Landesgleichberechtigungsgesetzes vor zwei Jahren beschäftigt sich das Parlament heute zum ersten Mal mit einer Gesamtsicht auf den Stand seiner Umsetzung. Wir tun dies unmittelbar nach dem europäischen Protesttag – ich betone Protesttag – behinderter Menschen, der am 5. Mai unter dem Motto stand: Gleichstellung jetzt und in allen Lebenslagen. – Die Diskussion einer fraktionsüber

greifenden Großen Anfrage zu diesem Zeitpunkt ist vor allem dem Landesbehindertenbeirat und Herrn Marquard zu verdanken. Auch ich danke dafür.

[Beifall bei der PDS und den Grünen]

Es ist uns aber nicht nur aus gegebenem Anlass ein wichtiges Anliegen, das Thema im Parlament zu besprechen. Wir meinen, dass es sich nicht um ein politisches Randgruppenthema handelt, sondern um einen Ausdruck dafür, wie Politik mit ihren eigenen Grundsätzen umgeht. Deshalb rede ich darüber, welche Lebensbedingungen für Menschen unserer Stadt vorhanden sind, die diese in die Lage versetzen, ihre ihnen gleichberechtigt zustehenden bürgerlichen Rechte in Anspruch nehmen zu können – oder eben nicht.

Berlin verfügt als einziges Bundesland seit zwei Jahren über ein Landesgleichberechtigungsgesetz. Diese Tatsache muss man betonen, aber ich denke, die Abteilung Beweihräucherung haben wir heute schon gehört. Ich werde mich kritisch mit den Erfolgen des Gesetzes auseinander setzen.

[Beifall bei der PDS und den Grünen]

Frau Schöttler hat zwar teilweise sanfte Kritik geäußert, aber wenn wir über die Umsetzung eines Gesetzes sprechen, dann kommt es besonders darauf an, die Stellen zu benennen, die weiterentwickelt und verändert werden müssen. Das, was gut funktioniert, kann man nennen, aber es sollte nicht den Hauptteil einer Rede beinhalten. Die Teilhabe behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben ist auch in Berlin immer noch ein Wunschtraum. Angesichts aktueller Entwicklungen ist der Ausblick eher pessimistisch. Allerdings könnte man glauben, dass die Beantworter der Anfrage – in diesem Fall ist es Frau Schöttler – ebenso wie die Verfasser des am 8. Mai beschlossenen „Berichts zur Situation von Menschen mit Behinderung und zur Entwicklung der Rehabilitation in Berlin“ in einer anderen Stadt leben. Leider können wir uns heute nicht auf diesen – nach monatelanger Verzögerung vorgelegten – Bericht beziehen, denn wir kennen ihn leider nicht.

[Beifall bei der PDS – Beifall der Frau Abg. Herrmann (CDU)]

Wir haben den Bericht noch nicht in Händen und müssen uns später noch damit befassen.

Deshalb reden wir heute höchstens über die Meldung, die gestern im „Landespressedienst“ stand, nämlich dass ein Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik erkennbar geworden sei. Vielleicht kann man diesen herbeischreiben. Der PDS-Fraktion ist es aber noch nicht gelungen, in der täglichen Praxis zu erkennen, dass behinderte Menschen in den letzten Jahren in Berlin vom Objekt zum Subjekt der Rehabilitation geworden sind. Es gibt bestenfalls ein zartes Pflänzchen, das es zu hegen und zu pflegen gilt. Wir denken, dass daran auch das neue Sozialgesetzbuch IX erst einmal wenig ändern wird.

Im Verständnis der PDS ist und bleibt Behindertenpolitik zuerst eine Frage der Menschen- und Bürgerrechte und nicht vordergründig eine Frage der Wohlfahrtspflege und Fürsorge. Das ist ein besonders wichtiger Gedanke.

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei den Grünen]

Wir wünschen uns, dass dieser Gedanke stärker in die Arbeit aller einfließt. Dafür habe ich mich im Gesetzgebungsverfahren in der vergangenen Legislaturperiode stark gemacht. Ich betrachte das als Ausgangspunkt aller unserer Bemühungen, denn zu den entscheidenden Geburtsfehlern dieses Landesgleichberechtigungsgesetzes gehört – diese Ansicht ist nicht neu –, dass das Gleichberechtigungsgebot, das Diskriminierungsverbot, die Beweislastumkehr bei Diskriminierung und das außerordentliche Klagerecht lediglich Postulate sind. Denn sie sind nicht einklagbar. Verstöße bleiben weiterhin ungeahndet. Ich werde noch einige Beispiele dazu nennen.

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