Protokoll der Sitzung vom 20.09.2001

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 34. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, unsere Gäste, unsere Zuhörer und unsere Zuschauer zur heutigen Sondersitzung sehr herzlich.

Die Einladung ist Ihnen zugegangen. Ohne weitere Hinweise können wir sofort in unsere heutige Tagesordnung eintreten.

Ich rufe auf

lfd. Nr. 1:

Aktuelle Stunde zum Thema „Berlin nach dem Angriff auf die Vereinigten Staaten von Amerika“

Diese Aktuelle Stunde steht auf Antrag aller Fraktionen, der Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD, der Fraktion der PDS und der Fraktion der Grünen, auf der Tagesordnung. Hierzu rufe ich auch auf

Drucksache 14/1518:

Antrag der Fraktion der CDU über Behandlung von Einbürgerungsanträgen bei Bestehen von Sicherheitsbedenken

Drucksache 14/1519:

Antrag der Fraktion der CDU über Sofortmaßnahmen zur Verbesserung der Situation bei der Berliner Polizei

Drucksache 14/1520:

Antrag der Fraktion der CDU auf Annahme einer Entschließung über Abschaffung des Religionsprivilegs

Der Dringlichkeit wird nicht widersprochen.

Diese Anträge habe ich auf Wunsch aller Fraktionen bereits am Dienstag vorab zur Beratung in den Ausschuss für Inneres, Sicherheit und Ordnung, den Antrag Drucksache 14/1519 auch an den Hauptausschuss überwiesen. Ich stelle die nachträgliche Zustimmung fest.

Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, dass ihnen in der Aussprache jeweils eine Redezeit von bis zu 20 Minuten zur Verfügung stehen soll, dieses bei freier Aufteilung der Redebeiträge. – Widerspruch dazu erhebt sich nicht. Dann können wir so verfahren. Nach der ersten Runde der Fraktionen hat der Senat die Möglichkeit zu einer Stellungnahme. Die Reihenfolge der Redebeiträge richtet sich nach der Stärke der Fraktionen. Für die Fraktion der CDU hat das Wort der Abgeordnete Dr. Steffel. – Bitte sehr!

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute vor zehn Tagen hielt die Welt, hielten wir alle den Atem an. Wir saßen fassungslos und ohnmächtig vor den Fernsehgeräten. Dem schwersten Attentat der Geschichte fielen Tausende von Menschen in New York zum Opfer. Hunderte Fluggäste rasten sehenden Auges und bei vollem Bewusstsein in den Tod. Und schließlich begruben die Betonmassen Helfer, Polizei, Feuerwehr und unzählige Fußgänger unter sich.

Jeden Tag werden nun Einzelschicksale bekannt. Das unendliche Leid wird damit täglich greifbarer und für mich persönlicher. Der mörderische Wahnsinn dieser Attentäter und die unglaublichen Bilder dieses Grauens haben uns allen Tränen der Fassungslosigkeit, der Wut und der Trauer in die Augen getrieben. Es war, als hätten die fliegenden Passagiermaschinen nicht nur die höchsten Türme von New Yorks Skyline und eines der Verteidigungsministerien der freien Welt, sondern uns alle mitten ins Herz getroffen. Vor diesem unbeschreiblichen Schrecken, vor dem tausendfachen Tod und dem millionenfachen Leid müssen

menschliche Worte versagen. Dennoch, im Namen meiner Fraktion und sicher fast aller Berlinerinnen und Berliner sage ich: Wir sind entsetzt und empfinden tiefes Mitgefühl mit den Familien, mit den Angehörigen der Opfer, und mit unseren amerikanischen Freunden.

[Beifall bei der CDU und der SPD – Vereinzelter Beifall bei der PDS und den Grünen]

Und die Menschen in Amerika müssen und sollen wissen, dass für uns Berliner Freundschaft und Dankbarkeit keine Lippenbekenntnisse sind. Ich erkläre deshalb auch im Namen meiner Fraktion – ich sage das sehr bewusst –, dass wir keinen Krieg gegen den Islam und schon gar nicht gegen unsere rechtstreuen muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger dulden werden.

[Allgemeiner Beifall]

Und in diese düsteren Bilder mischten sich aber auch, auch das wird jeden Tag sichtbarer, berührende Eindrücke menschlicher Hilfs- und Opferbereitschaft. Mein tiefer Respekt gilt den Einsatzkräften der Polizei und der Feuerwehr in Washington und New York.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der PDS und den Grünen]

Und ich weiß, dass wir uns hier in Berlin auf unsere Feuerwehr und unsere Polizei genauso verlassen können. Dafür empfinde ich große Dankbarkeit.

Dieser schwärzeste Dienstag der Nachkriegsgeschichte hat der westlichen Welt ihre Gefährdung, ihre Verletzbarkeit vor Augen geführt. Viele Menschen, viele Analytiker, zahlreiche Kommentatoren haben ihre Ratlosigkeit in Worte zu kleiden versucht. Leider wurde neben sehr viel Klugem und Versöhnlichem auch manch irritierende Ansicht geäußert. Wofür ich kein Verständnis habe, sind die Versuche mancher Wirrköpfe, diesen Anschlag auch noch moralisch zu rechtfertigen. Kein politisches Motiv kann diesen Massenmord rechtfertigen, und schon gar kein religiöses.

[Allgemeiner Beifall]

Genauso wenig Verständnis kann ich für die Versuche aufbringen, den USA die Schuld für diese Ereignisse direkt oder indirekt zu geben. Mit Sorge beobachte ich, dass bei uns eine Diskussion entsteht, die Amerikaner jetzt vor falschen Schritten zu warnen. Hier schlägt die Debatte nach meiner Überzeugung die verkehrte Richtung ein. Denn ich finde, Präsident Bush verhält sich angesichts der tiefen Verzweiflung des schwer gedemütigten amerikanischen Volkes sehr besonnen und äußerst verantwortungsbewusst.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Und es entspricht unserer Überzeugung von Gerechtigkeit, dass die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden, auch ihre Handlanger, Förderer oder Beschützer. Alles andere wäre nicht nur ein Sieg der Gewalt und des Terrors, sondern auch verantwortungslos gegenüber den Menschen in aller Welt, die vielleicht in den kranken Hirnen dieser Terroristen schon als die nächsten Opfer vorgesehen sind. Und wir Berlinerinnen und Berliner wissen, was wir den Amerikanern, was wir unseren amerikanischen Freunden zu verdanken haben: Ihre Care-Pakete haben unsere Tische gedeckt, ihre Luftbrücke hat unser Überleben gesichert, ihr Marshallplan unseren Wohlstand begründet, und ihr militärischer Beistand hat unsere Freiheit gerettet.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Und ihre Solidarität, die Solidarität der Amerikanerinnen und Amerikaner, auch der amerikanischen Präsidenten, hat uns unsere Wiedervereinigung ermöglicht. Wir gehören nicht zu den Menschen, die von Freunden nur dann Geschenke annehmen, wenn es ihnen gerade passt, aber, wenn sie uns einmal brauchen, diese Freunde dann im Stich lassen. Und gerade die Menschen in Berlin waren besonders tief betroffen; nicht nur, weil wir New York und Washington aus vielen Filmen, aus persönlichen Erfahrungen kennen; nicht nur, weil wir wie die Opfer auch Großstädter sind, sondern weil wir diesem Land und seinen Menschen in vielfacher Weise geschichtlich und menschlich tief ver

bunden sind. Die Berlinerinnen und Berliner, wir haben immer mit den Amerikanern gefühlt. Wir haben geweint, als John F. Kennedy ermordet wurde, und wir weinen jetzt mit den Familien um ihre Toten. Die großen Parteien in Deutschland haben aufgerufen, und 200 000 Berlinerinnen und Berliner sind zum Brandenburger Tor gekommen, um ihr Mitgefühl mit den Amerikanern und ihre Verbundenheit mit den Menschen zu demonstrieren.

Aber zur Offenheit gehört auch: Viele Menschen haben Angst, haben Angst vor Krieg und Terror. Und sie fragen uns, die Politikerinnen und Politiker, was nun geschehen wird. Bei manchem in Berlin steigen wieder die Erinnerungen auf an die Anschläge auf das Maison de France, auf die Diskothek La Belle und auf das Mordkommando im griechischen Lokal Mykonos. Täuschen wir uns nicht, Deutschland ist keine Insel der Seligen und auch keine Oase des ewigen Friedens, wo man sich durch Wegschauen und Wegducken aus der Affäre ziehen könnte; und Berlin übrigens schon gar nicht. Alle, die in der G-10-Kommission sitzen, wissen, dass Berlin wie keine andere Stadt in Deutschland geradezu ein Kristallisationspunkt fundamentalistischer und terroristischer Elemente ist. Gerade das Attentat auf die Diskothek La Belle hat uns auf beunruhigende Weise gezeigt, dass niemand vom Wahnsinn dieses Terrors ausgespart bleiben kann. Unsere Solidarität mit den USA ist daher nicht nur Bündnistreue, die gestern in der Bundestagsdebatte völlig richtig festgestellt wurde, sondern sie entspricht voll und ganz unserem vitalen Eigeninteresse. Denn wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass sich in Berlin eine hohe Zahl ausländischer Extremisten aufhält, dass gerade diese Täter auf der ganzen Welt den Schutz großer Metropolen suchen und dass der internationale Terror aufgrund solcher terroristischer Stützpunkte jederzeit und überall zuschlagen kann. Wer diese Tatsachen verschweigt, der kämpft nicht gegen Panikmache, der kämpft gegen die Interessen der Berliner Bevölkerung.

Und wir Christdemokraten nehmen diese Befürchtungen und Ängste der Bevölkerung außerordentlich ernst. Das ist auch die Pflicht der Politik. Das ist unsere Verantwortung, und deshalb wende ich mich heute vor allem sehr persönlich an Sie, Herr Regierender Bürgermeister Wowereit. Was wir angesichts der terroristischen Bedrohung und der Verunsicherung bei den Menschen jetzt brauchen, das sind Sicherheitsbündnisse.

[Beifall bei der CDU]

So wie die NATO ein internationales verlässliches Sicherheitsbündnis ist, so wie dies gestern im Bundestag auf beeindruckende Weise geschehen ist, so müssen wir auch hier in Berlin ein solches Sicherheitsbündnis schließen – unabhängig von Koalitionen, von Parteigrenzen, auch unabhängig vom Wahlkampf. Deshalb habe ich Ihnen, Herr Regierender Bürgermeister, nach den Attentaten vertrauliche Gespräche und eine fraktionsübergreifende Zusammenarbeit gern angeboten. Lassen Sie uns alle jetzt aufhören mit kleinlichen Fieseleien des tagespolitischen Wahlkampfgerangels, lassen Sie uns beweisen, dass die großen Volksparteien in Krisenzeiten zusammenstehen,

[Beifall bei der CDU und der SPD]

wie sie das übrigens in der Geschichte Berlins immer getan haben. Für die CDU-Fraktion kann ich Ihnen jedenfalls verbindlich erklären, dass wir alle Maßnahmen unterstützen werden, die in Zeiten wie diesen zu mehr Schutz, zu mehr Sicherheit und zum entschlossenen Kampf gegen den politischen Extremismus führen. [Beifall bei der CDU]

Ich erkläre sehr nachdrücklich, dass wir uns hinter den Antiterrorforderungen, hinter das Antiterrorpaket des Bundesinnenministers stellen.

Kein Verein darf sich länger unter dem Deckmantel der Religion verstecken, wenn er verfassungsfeindliche Ziele verfolgt. Die Regelanfrage beim Verfassungsschutz soll klären, ob ein einbürgerungswilliger Ausländer ein staatsfeindliches oder terroristisches Vorleben hat. Wir müssen die modernsten Methoden der Identitätsfeststellung anwenden, denn jeder Staat hat die Pflicht zu wissen, wer sich dauerhaft in seinem Territorium nie

derlassen will. Das sind vernünftige Vorschläge, auch wenn sie in der eigenen rot-grünen Koalition auf Bundesebene nicht unumstritten sind.

Und auch in Berlin müssen wir jetzt unsere Kräfte bündeln, um die Menschen noch besser zu schützen. Es ist richtig, dass Sie die Kürzungen von 13 Millionen DM, die Sie bei der Polizei im Rahmen des Nachtragshaushalts vorgenommen haben, jetzt wieder rückgängig gemacht haben, aber das reicht nicht aus. Polizei, Staats- und Verfassungsschutz, aber auch Feuerwehr und Katastrophenschutz müssen die notwendige personelle und sächliche Ausstattung bekommen.

[Beifall bei der CDU]

Wir müssen neue Katastrophen- und Alarmpläne ausarbeiten. Wir müssen die Widerstände gegen andere vorbeugende Sicherheitsmaßnahmen überwinden, wie z. B. der Videoüberwachung, dem Unterbindungsgewahrsam und die Möglichkeit, Geiselnehmer durch Schusswaffengebrauch angriffsunfähig zu machen.

Auch ist dem Verfassungsschutz bei der Terrorismusbekämpfung die Vorfeldbeobachtung zu ermöglichen. Dabei muss er auch polizeiliche Befugnisse haben.

[Beifall bei der CDU]

Herr Innensenator, bei den dafür erforderlichen gesetzlichen Änderungen sichere ich Ihnen unsere volle Unterstützung zu.

[Beifall bei der CDU]

Wir müssen auch genauer hinsehen, wer mit welchen Motiven und Absichten zu uns kommt, um in Berlin seinen Aufenthalt zu nehmen. Das heißt Erkenntnisse und Hinweise in den Ausländerakten über radikale und terroristische Bestrebungen müssen zukünftig Staats- und Verfassungsschutz unaufgefordert übermittelt werden.