Protokoll der Sitzung vom 23.03.2000

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Die Diskussion um die Greencard ist ein Resultat der verfehlten Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte.

[Beifall des Abg. Sayan (PDS)]

Wenn heute nicht die Weichen gestellt werden, wird auch in 20 Jahren der Ruf nach qualifiziertem Fachpersonal aus dem Ausland nicht ruhen. Wir befürchten, dass dann nicht nur der Ruf nach IT-Fachkräften laut wird, sondern noch zahlreiche weitere Berufe davon betroffen sein werden. Das kann nicht in unserem Sinn sein.

Wir wissen, Kinder und Jugendliche wachsen heute unter völlig anderen Bedingungen auf als die jetzige Erwachsenengeneration. Deshalb muss die Schule auf die veränderten Realitäten von Kindheit, Jugend und familiärer Sozialisation und die rasanten Umwälzungen in der Arbeitswelt angemessen reagieren. Schule muss so gestaltet werden, dass sie zu einem Lern- und Lebensort wird, der Kindern und Jugendlichen die notwendigen Kompetenzen vermittelt und Raum zur Bewältigung und Verarbeitung ihrer Erfahrungen gibt. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, bedarf es einer grundlegenden Reform der Schule. Neue Unterrichtsinhalte und neue Formen der Lernorganisation, Stärkung der Schulsozialarbeit, mehr Eigenverantwortung für die Einzelschule und eine Veränderung der Rolle sowie der Arbeitszeit der Lehrerinnen und Lehrer. Dazu gehört beispielsweise auch die Abweichung vom 45-Minuten-Takt.

Mit der jetzt geplanten pauschalen Wochenarbeitszeiterhöhung der Lehrerinnen und Lehrer sowie der Reduzierung der Anrechnungsstunden und der Ermäßigungstatbestände, erschwert der Senat eine von allen Beteiligten getragene qualitative Weiterentwicklung der Schulen und verhindert zudem die dringend notwendige Verjüngung der Lehrerschaft. Das sind Schritte in die falsche Richtung.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der PDS]

Der Senat und insbesondere Herr Böger begründen die Verschlechterung der Finanz- bzw. Personalausstattung der Schulen – wie zum Beispiel die jetzige Leherarbeitszeiterhöhung – immer wieder mit den Aussstattungsvorsprüngen Berlins. Aus dem Bericht des Senats über die Finanzplanung Berlins von 1999 bis 2003 geht jedoch eindeutig hervor, dass der Ausstattungsvorsprung Berlins zu allen Bundesländern im Schulbereich am geringsten ist und sogar um rund 20 Prozent unter der Ausstattung der anderen Stadtstaaten liegt. In Hamburg werden beispielsweise pro Schüler etwa 2 500 DM mehr ausgegeben als in Berlin. Kein Wort auch darüber, dass die Durchschnittsfrequenz in Berlin um drei Schüler höher ist als im Bundesdurchschnitt.

Die vielfältigen Probleme der Schulen können allein durch mehr Geld und mehr Personal nicht behoben werden. Es geht um eine Kombination von strukturellen Maßnahmen, die eine höherer Effizienz der eingesetzten Mittel ermöglichen, und es geht um finanzielle Verbesserungen im Schulbereich. Hierzu machen wir Vorschläge, die wir in unserem Dringlichkeitsantrag „Sicherstellung der Bildung und Erziehung in der Berliner Schule“ konkretisieren.

Vertretungsstunden und Unterrichtsausfall haben in Berlin dramatische Ausmaße angenommen. Jedem Schüler, jeder Schülerin wird statistisch gesehen Unterricht im Umfang eines dritten Schuljahres vorenthalten. In einzelnen Schulen beträgt der Ausfall sogar zehn Prozent. Ein Beispiel aus Prenzlauer Berg: Eine Schülerin des Heinrich-Schliemann-Gymnasiums hat sich die Mühe gemacht und die Unterrichtsausfälle des 2. Schulhalbjahres bis zum heutigen Tag festgehalten. Ich zitiere daraus:

10. Februar: Sport, 3 Stunden, Ausfall; 16. Februar: Physik, 1 Stunde, Ausfall; 17. Februar: Erdkunde, 1 Stunde, Ausfall; Sport, 3 Stunden, Ausfall; 18. Februar: 1 Stunde Vertretung in Musik durch einen Mathelehrer.

Die Liste geht so weiter. In der besagten Klasse haben sich innerhalb von 28 Schultagen 29 Vertretungs- bzw. Ausfallstunden angesammelt. Herr Böger! Ich werde Ihnen das Protokoll im Anschluss übergeben, damit Sie als früherer Lehrer sehen, wie sich die Situation tatsächlich darstellt.

Ein weiteres Beispiel ist die Eichenwald-Grundschule in Spandau. Der Bezirksschulbeirat schreibt die Mitglieder des Schulausschusses an und beklagt das Fehlen von circa 75 Lehrerstunden, die zu unerträglichen Ausfällen führten. Bei dieser Diskussion dürfen wir nicht vergessen, dass jede ausgefallene Unterrichtsstunde den Schülerinnen und Schülern den Eindruck vermittelt, dass der gesamte Unterricht nicht so ernst gemeint sein kann, ansonsten hätte man Lösungen gesucht.

Offiziell steht der Berliner Schule ein Lehrerstundenansatz von 105 Prozent des Bedarfs zur Verfügung. Fünf Prozent dienen als Vertretungsmittel. Allerdings ist dieser Stellenplan nicht ausfinanziert, weil die Durchschnittssätze auf Grund einer abweichenden Altersstruktur nicht ausreichen und die Besetzung von Beamtenstellen mit Angestellten teurer kommt. Deshalb fordern wir die Ausfinanzierung des Lehrerstellenplanes.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der PDS]

Weiter fordern wir, dass den Schulen im Rahmen der Stärkung der Eigenverantwortung der Schulen ein Teil der Vertretungsmittel als Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden, die die Schule je nach Bedarf für entsprechend qualifiziertes Personal einsetzen kann, um bei Krankheiten oder anderen Ausfällen unter drei Monaten flexibler reagieren zu können.

Die große Koalition hat nicht nur die Stadt in den finanziellen Ruin getrieben, der Mehltau aus Bürokratie und Arroganz verhindert auch jede Reformidee im Schulbereich. Die Einführung des Landesschulamtes und die bisherigen Erfahrungen mit diesem Amt sind ein Paradebeispiel dafür.

[Beifall des Abg. Cramer (Grüne)]

Wesentlich verschlechtert hat sich die Situation der Schulen auch in der Versorgung mit Lehr- und Lernmitteln. Die Verfügung der pauschalen Minderausgaben für die Bezirke hat zu drastischen Einschnitten geführt. Wir lehnen diesen Kurs entschieden ab!

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der PDS]

Würden Sie bitte zum Ende kommen, Herr Kollege!

Ich komme zum Schluss, obwohl – –

Zehn Minuten Redezeit sind vorbei!

Ein letzter Satz noch: Wir haben heute auch noch eine Beschlussempfehlung des Schulausschusses zur Schulgesetzänderung auf der Tagesordnung. Dazu liegt uns jetzt ein Gutachten vor, das rechtliche Probleme aufzeigt und auf die Einschränkung des Elternwahlrechts aufmerksam macht. Wir bitten deshalb um die Rücküberweisung der Beschlussempfehlung in den Ausschuss, damit wir die geplante Gesetzesänderung noch einmal auf der Grundlage dieser neuen Erkenntnisse diskutieren können.

Summa summarum ist die große Koalition, die in ihrer Koalitionsvereinbarung für den Bildungsbereich sehr blumige Worte gefunden hat, bereits in den ersten 100 Tagen gescheitert. Herr Böger, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der großen Koalition! Der Kessel steht bereits unter Druck, hören Sie auf, das Ventil zuzudrehen!

[Beifall bei den Grünen und der PDS]

Danke schön, Herr Kollege! – Zur Beantwortung hat nunmehr Herr Senator Böger das Wort. Bitte schön, Herr Senator!

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz der heftigen Angriffe und Unterstellungen, Kollege Mutlu, freuen wir uns und ich persönlich, dass das Abgeordnetenhaus erstmals in dieser Legislaturperiode die Bildungspolitik zu einer Aktuellen Stunde und Großen Anfrage verdichtet hat, weil damit hoffentlich bei allen deutlich wird, welche Bedeutung Bildungspolitik hat. Schule, Bildung, Zukunft, Unterrichtsversorgung, Lehrerarbeitszeit, Reformen – und alle diese Stichworte will ich hier nennen – sind viel zu wichtig, als dass man es einzelnen Zirkeln oder isolierten Interessenvertretern überlassen kann, darüber zu diskutieren oder gar zu entscheiden.

[Zurufe von den Grünen]

Viele Menschen sind in der vergangenen Woche oder vorvergangenen Woche für die Bildung ihrer Kinder auf die Straße gegangen. Die Motivationslage ist gewiss sehr vielschichtig; das waren nicht durchweg Anhänger der Opposition oder der GEW oder des Philologenverbandes. Nein, Auslöser für diese eindrucksvolle Demonstration, die seit Herbst 1999 vorbereitet wurde, ist der Unterrichtsausfall in dieser Stadt, den niemand – ich auch nicht – hinnehmen will. Wir begreifen diese Demonstration als kritische Unterstützung oder Aufmunterung für unsere Politik. [Zuruf der Frau Abg. Jantzen (Grüne)]

Ich begreife diese Demonstration als ein deutliches unübersehbares Signal für die Prioritäten in der Berliner Politik.

[Zurufe der Abgn. Cramer (Grüne) und Frau Künast (Grüne)]

Ich möchte – ganz anders, als Herr Mutlu unterstellt hat – keinen blinden Aktionismus vortragen, sondern ich möchte im Rahmen dieser Großen Anfrage einige Daten, Reformschritte und natürlich auch Ihre Fragen beantworten.

Deshalb komme ich – erstens – zu einem ganz erfreulichen Punkt – nicht blinder Aktionismus, sondern reale Handlung: Gestern Abend hat der Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses den Start zu einem Programm zur Sanierung und Instandsetzung der Berliner Schulen freigegeben. Gemeinsam und in enger Abstimmung mit den Bezirken werden wir in den nächsten fünf Jahren Jahr für Jahr 100 Millionen DM aufwenden, um schlimme Mängel an unseren Schulen zu beheben. Dies ist kein Aktionismus, sondern dies sind reale Schritte, die notwendig sind und die das beheben werden, was sehr viele Eltern, was Schüler, was Lehrer und was auch wir beklagen müssen, dass in den Stätten des Wissens zum Teil katastrophale Zustände herrschen und wir jetzt energisch beginnen, Schritt für Schritt zu Verbesserungen zu kommen.

[Beifall bei der SPD – Hoff (PDS): Fällt euch früh ein!]

Ihnen fällt immer alles ganz früh ein. Ich bin froh, dass es nicht nur bei Einfällen bleibt, sondern dass dieser Senat und die den Senat tragenden Koalitionsfraktionen endlich konkrete Schritte und Maßnahmen einleiten, die auch vor Ort spürbar sind. Ich setze darauf, dass die Bezirke, die an dieser Maßnahme zu einem Drittel beteiligt sind, sehr schnell und sehr zügig diese Schritte einleiten, damit an vielen Schulen in Berlin gebaut werden kann, damit die Sommer- und Ferienzeit genutzt werden kann und damit es sichtbare und spürbare Verbesserungen gibt.

Dies sind nicht die einzigen Investitionen in die Hardware, also in die Schulbauten, in dieser Legislaturperiode. Gegenwärtig befinden sich 28 Schulbauvorhaben mit Gesamtkosten in Höhe von rund 900 Millionen DM im Bau. Bis 2003 ist zudem der Baubeginn von 9 weiteren Schulbauvorhaben in der Planung. Ich betone dies, um deutlich zu machen, Herr Abgeordneter Mutlu: Es ist nicht wahr und es ist falsch, dass in Berlin für die Schulden nichts getan wird.

[Beifall bei der SPD und der CDU – Frau Künast (Grüne): Warum dann die Demonstrationen?]

Zweitens: Es ist keiner blinder Aktionismus – weder blind noch Aktionismus –: Der Senat investiert engagiert in die Zukunft [Niedergesäß (CDU): Richtig!]

in den Schulen und bemüht sich nachdrücklich, neue Medien in der Berliner Schule einzusetzen. Wir alle wissen, dass diese neuen Medien eine Revolution in unserer Gesellschaft

[Hoff (PDS): Wäre schön!]

und damit auch in der Jugend auslösen werden. Die jungen Menschen brauchen eine neue Kompetenz. Sie müssen Suchstrategien entwickeln, Daten zielgenau abrufen, abspeichern und bearbeiten. Wir sollten hier von der Medienkompetenz als einer vierten Kulturtechnik sprechen, die alle jungen Menschen erwerben müssen. Ich sage: alle jungen Menschen,

[Frau Martins (Grüne): Nicht nur alle jungen, sondern auch alle alten!]

weil sich die neuen Medien nicht zu einer neuen sozialen Frage entwickeln dürfen. Wer an der Chancengleichheit festhält – und das tun wir –, der darf nicht zulassen, dass nur ein teil der jungen Generation zu den neuen Medien Zugang hat und das gesamte Lernpotential für sich entfalten kann, der andere Teil aber außen vor bleibt und abgehängt wird. Gerade deshalb ist es wichtig, dass zunächst und zu allererst die Schule als Lernort für alle diese neue Kompetenzen entwickelt.

[Beifall bei der SPD und der CDU]

Auch hier ist eben nicht Aktionismus und schon gar nicht blind angezeigt; im Gegenteil: Im Vergleich mit anderen Ländern und anderen Städten sind in Berlin bei den Investitionen in die Zukunft – das heißt: Computer an die Schulen! – schon wichtige Schritte getan.

Ester Schritt: Alle Berliner Schulen sollen und werden einen Internetzugang erhalten. Dieses Ziel wird noch in diesem Jahr erreicht. [Beifall bei der SPD und der CDU]

Zweiter Schritt: Jede Schule erhält eine ausreichende Zahl von Computerräumen, die auch den Schülern zur selbständigen Nutzung bereit stehen. Auch dieses Ziel werden wir in Bälde erreichen. [Frau Freundl (PDS): Stehen denn in den Computerräumen auch Computer?]

Herr Senator, gestatten Sie eine Zwischenfrage?