Protokoll der Sitzung vom 13.11.2003

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Ich will an einem Beispiel verdeutlichen, was das eigentlich heißt: In Berlin werden immerhin in drei Bezirken vom öffentlichen Gesundheitsdienst diagnostische und therapeutische Leistungen für Hörgeschädigte angeboten. Das ist eine hervorragende Leistung für die Betroffenen. Aber sämtliche dieser angebotenen Leistungen fallen in den Pflichtenkatalog der gesetzlichen Krankenversicherung, und es wäre möglich, dass Vertragsärzte der Krankenkassen oder Klinikeinrichtungen genau diese Leistungen erbringen. Eine finanzielle Beteiligung der Krankenkassen gibt es aber bei unseren Bezirken nicht. Deshalb ist gerade vor dem Hintergrund der finanziellen Lage Berlins eine solche Situation nicht länger hinnehmbar.

Tätigen und andererseits durch die Krankenhäuser. Zwar hat jeder dieser drei Säulen ihren eigenen Aufgabenbereich. Es kommt aber darauf an, dass sie an entscheidenden Punkten miteinander kooperieren, um so eine besonders hoch stehende quantitative Gesundheitsversorgung der Menschen in unserer Stadt zu garantieren.

Kein Bereich kann allein sicherstellen, dass die Menschen in Berlin von den Möglichkeiten der modernen Medizin profitieren und ihre Gesundheit möglichst bewahrt wird. Deshalb ist es völlig unsicher, darüber zu phantasieren, die Aufgaben des öffentlichen Gesundheitsdienstes, den anderen beiden Säulen der Gesundheitsversorgung zu übertragen und gar die Gesundheitsämter schließen zu wollen, wie das Herr Lindner in der letzten Sitzung des Abgeordnetenhauses hier gefordert hat. Ich hoffe sehr, dass zumindest die Gesundheitspolitiker der FDP hier eine andere Meinung haben.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Der öffentliche Gesundheitsdienst in Berlin ist nicht isoliert zu betrachten, sondern muss vor dem Hintergrund der Veränderungen des Gesundheitssystems insgesamt gesehen werden. Da ist in den letzten 10 Jahren eine ganze Menge geschehen. Ich will darauf nicht im Einzelnen eingehen. Ich möchte nur so viel sagen, dass auch das im nächsten Jahr in Kraft tretende Gesundheitsmodernisierungsgesetz Struktur- und Leistungsveränderungen mit sich bringen wird. Damit werden neue Anforderungen an den öffentlichen Gesundheitsdienst entstehen.

Auch durch die Veränderungen in unseren Bezirken, durch die Bezirksstruktur selbst, durch den Umbau der bezirklichen Ämter haben sich die Rahmenbedingungen für den öffentlichen Gesundheitsdienst nachdrücklich verändert. Das alles zusammengenommen führt dazu, dass der öffentliche Gesundheitsdienst in Berlin nicht mehr optimal aufgestellt ist und der öffentliche Gesundheitsdienst eben kein einheitliches Profil für ganz Berlin erkennen lässt. Deshalb kommt es uns darauf an, hier etwas zu ändern. Wir – SPD und PDS – haben zu Beginn unserer Zusammenarbeit entschieden, das Gesetz zum öffentlichen Gesundheitsdienst zu reformieren und den öffentlichen Gesundheitsdienst zu modernisieren. Deshalb ist die Reform des öffentlichen Gesundheitsdienstes inzwischen auch zu einem zentralen Verwaltungsreformprojekt des gesamten Senats geworden. Das ist auch gut so!

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Die meisten Menschen in unserer Gesellschaft nutzen die Möglichkeiten unseres Gesundheitssystems umfassend und sehr intensiv. Vergleicht man das mit anderen Ländern Europas, stellt man fest, dass das hier auch in ganz besonderer Weise passiert. Deshalb muss der öffentliche Gesundheitsdienst nicht tätig werden, wenn niedergelassene Ärzte und Klinikambulanzen die notwendigen Dienste anbieten, wie das in der Sozialgesetzgebung vorgesehen ist.

[Vereinzelter Beifall bei der PDS und der SPD]

Trotz der im internationalen Vergleich ausgezeichneten gesundheitlichen Versorgungsstrukturen in Berlin nimmt ein Teil der Bevölkerung die Angebote des Systems gar nicht oder nur unzureichend wahr. Das hat zur Konsequenz, dass unnötige Krankheiten entstehen oder sich Erkrankungen verschlimmern, bevor professionelle Beratung und Betreuung aufgesucht wird. Das betrifft insbesondere den Kreis der Armen oder sozial Benachteiligten in unserm Land. Deshalb ein zweites Prinzip, dem der Modernisierungsprozess des öffentlichen Gesundheitsdienstes folgen muss: Das ist die sozialkompensatorische Ausrichtung der Angebote des öffentlichen Gesundheitsdienstes.

Das klassische Beispiel dafür sind Impfleistungen. Impfungen können als Satzungsleistungen zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gehören, und es ist in Berlin auch so, dass alle Krankenkassen dies als Leistungsanspruch für Versicherte anerkennen. Damit entfällt im Grundsatz die Notwendigkeit für den öffentlichen Gesundheitsdienst, hier überhaupt aktiv zu werden. Tatsächlich nehmen nicht alle Menschen – und hier vor allem die Jugendlichen – die Möglichkeit einer Impfung in Arztpraxen zu Lasten ihrer Kassen in Anspruch. So kommt es zu Erkrankungsfällen, die bei rechtzeitiger

Frau Sen Dr. Knake-Werner

Ein drittes Prinzip der Modernisierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes ist die personelle und die sach

liche Ausstattung der bezirklichen Dienste. Sie soll sich zukünftig nicht mehr vorrangig an der Einwohnerzahl, sondern an der Sozialstruktur ihrer Einwohnerinnen und Einwohner ableiten. Das ist ein ganz bedeutsamer Grundsatz, den wir neu einführen wollen.

Die bereits abgeschlossene Bestandsaufnahme, die wir im Zusammenhang mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst gemacht haben, zeigt deutlich, dass in vielen Bezirken, die weniger soziale Probleme haben, die Ausstattung des öffentlichen Gesundheitsdienstes einigermaßen gut ist, während in anderen Bezirken, die deutlich mehr Probleme sozialstruktureller Art haben, die personelle Ausstattung ausgesprochen dürftig ist, und deshalb kommt es jetzt darauf an, die personellen und sachlichen Ressourcen anders zu verteilen. Wir brauchen eine Neujustierung der Mittelzuweisung, und genau das wollen wir tun. Ich sage aber auch sehr deutlich: Das setzt voraus, dass wir Mindeststandards für den öffentlichen Gesundheitsdienst festlegen, die nicht unterschritten werden dürfen, weil ich es leid bin – und in den Bezirken gibt es eine solche Entwicklung –, dass der öffentliche Gesundheitsdienst dort zur Sparbüchse für die Bezirke wird. Das wollen wir künftig verhindern.

Schutzimpfung vermeidbar gewesen wären, einschließlich – und das finde ich sehr bedeutsam – schwerer oder gar tödlich verlaufender Infektionskrankheiten. Diese Problematik trifft auch vor allem Dingen im Bereich der sozial benachteiligten Menschen unserer Gesellschaft zu. Hier kann und muss der öffentliche Gesundheitsdienst durch aufsuchende Arbeitsweise Lücken schließen. Das ist nicht nur im Interesse der Betroffenen, sondern auch im Interesse der gesamten Gesellschaft, insbesondere vor dem Hintergrund, dass längst überwunden geglaubte Volkskrankheiten wieder auf der Bildfläche erscheinen, und es gilt, auf sie zu reagieren.

In den Schulen können über den öffentlichen Gesundheitsdienst alle Kinder erreicht werden, und hier kann der Impfstatus überprüft werden, und gegebenenfalls kann der öffentliche Gesundheitsdienst hier selber Impflücken schließen. Über Jahre – und das ist nach meinem Dafürhalten ein wichtiger Punkt – gab es in Berlin einen Streit darüber, ob der öffentliche Gesundheitsdienst diese Aufgabe wahrnehmen kann und das dann auch aus öffentlichen Finanzmitteln finanziert wird, wenn doch der Versicherte eine Anspruch auf Kassenleistung hat. Meinem Haus und mir ist es gelungen, in schwierigen – –

[Anhaltende Unruhe]

Frau Senatorin, darf ich Sie kurz unterbrechen und die Fraktion rechts von mir bitten, die Konferenzen dorthin zu verlegen, wohin sie gehören. Bitte mehr Gehör für die Frau Senatorin bei der CDU!

[Liebich (PDS): Die CDU hat die Große Anfrage eingebracht! – Weitere Zurufe]

Vielen Dank, Herr Präsident! – Wenn man nicht zuhört, kann man nicht mitbekommen, ob ich etwas Neues erzähle oder nicht. Sie bestehen immer darauf, viele Informationen zu erhalten. Erstens können Sie dann damit nichts anfangen, und zweitens sind Sie offensichtlich nicht bereit, sie überhaupt nur aufzunehmen.

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Ich will es deshalb noch einmal ausdrücklich betonen: Es ist mir in den letzten Monaten gelungen, in schwierigen und langwierigen Verhandlungen mit den gesetzlichen Krankenkassen in Berlin zu erreichen, dass sie sich erstmals in diesem Jahr an den Kosten des öffentlichen Gesundheitsdienstes bei der Impftätigkeit beteiligt haben. Das ist wirklich ein Erfolg mit Blick auf einen öffentlichen Gesundheitsdienst, der zukunftsfähig ist.

[Beifall bei der PDS]

Wir werden alle Leistungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes darauf überprüfen, welche Maßnahmen sozialkompensatorisch sinnvoll sind und welche nicht mehr.

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD – Beifall des Abg. Matz (FDP)]

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD – Beifall der Frau Abg. Herrmann (CDU)]

Damit komme ich zum vierten Punkt: In engem Zusammenhang mit dem Aspekt der sozialräumlichen Struktur steht ein viertes Prinzip, nämlich: In Zukunft muss sich der öffentliche Gesundheitsdienst sehr viel mehr den Problemen der Berliner Stadtgesellschaft stellen, die durch eine hohe Zahl ausländischer Bürgerinnen und Bürger gekennzeichnet ist. Sie sind zu einem großen Teil in andersartigen Kulturen – auch in andersartigen Medizinkulturen – verwurzelt. Deshalb haben sie sehr viel weniger Chancen, sich in den Strukturen und Eigenheiten des deutschen Gesundheitssystems zurechtzufinden. Diese Fremdheit führt dazu, dass ausländische Bürgerinnen und Bürger häufig sehr viel weniger Chancen haben, die Angebote unseres Sy-stems wirklich zu nutzen und rechtzeitig Hilfe dort zu bekommen, wo sie nötig ist. Vor diesem Hintergrund müssen wir prüfen, welche Aufgaben der öffentliche Gesundheitsdienst wahrnehmen kann, um Hemmnisse und Barrieren für Migrantinnen und Migranten überwinden zu helfen. Beispielhaft ist an dieser Stelle der Gemeindedolmetscherdienst zu nennen, da hier ein ganz spezielles Angebot für Migrantinnen und Migranten in unserer Stadt besteht, das für die Zukunft unverzichtbar sein wird.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Aus dieser Erweiterung ergibt sich ein fünftes Prinzip für die Modernisierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Die komplexe und unübersichtliche Verfassung des Gesundheitssystems insgesamt sowie seine Verbindungen zu dem parallelen Hilfesystem etwa zur Pflege

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Frau Sen Dr. Knake-Werner

Bis zum Juni des nächsten Jahres werden die Vorarbeiten abgeschlossen sein und die notwendigen gesetzlichen Veränderungen aufs Papier und auf den Weg gebracht sein. Im Vorgriff auf die notwendigen Beratungen und Diskussionen halte ich es für völlig absurd, über mögliche Ergebnisse zu referieren. Wir sollten die Chan

cen der jetzigen Arbeitsprozesse konstruktiv nutzen. Es ist das Ziel des Senats, zum 1. Januar 2005 den öffentlichen Gesundheitsdienst im Land Berlin zukunftsfähig und damit die Gesundheitsversorgung insgesamt durch eine funktionstüchtige dritte Säule der Gesundheitsversorgung zu qualifizieren.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Senatorin! Sie haben soeben davon gesprochen, dies sei eines Ihrer großen Reformprojekte, die Sie in Ihrer Legislaturperiode vorhaben. Ich habe mir die Koalitionsvereinbarung in Bezug auf die großen Reformprojekte im Gesundheitsbereich einmal angeschaut.

Da haben wir zunächst die Reform der Hochschul- medizin. Bei der Hochschulmedizin werden wir einen Vorstand haben, in dem von sieben Vorstandsmitgliedern keiner mehr aus der Medizin kommt, insgesamt drei Finanzsenatoren in diesem Vorstand vertreten sein werden und von medizinischem Sachverstand und Hochleistung in der Medizin keine Rede mehr sein kann.

führt häufig dazu, dass die Menschen sich in dem Aufgaben- und Zuständigkeitsgestrüpp verirren, weil es auch eine mangelhafte Koordinierung der verschiedenen Hilfeangebote im Gesundheitswesen gibt. Deshalb halte ich es für richtig, dass dem öffentlichen Gesundheitsdienst, der zukunftsfähig sein will, künftig eine Steuerungsfunktion zukommt, eine bürgernahe und zielgerichtete Steuerung, die hilft, unnötige Notlagen von Betroffenen zu vermeiden und die gleichzeitig dazu beiträgt – für Berlin nicht ganz unwichtig –, dass damit auch Kosten gespart werden können. Dazu kann der öffentliche Gesundheitsdienst als Steuerungsagentur, meinetwegen auch als Lotsendienst, beitragen. Aber auch hier gilt es darauf zu achten, dass es nicht zu Doppelungen gleicher Aufgaben kommt. Da, wo der Hausarzt eine Lotsenfunktion wahrnehmen kann, muss er es tun, da braucht es den öffentlichen Gesundheitsdienst nicht.

Lassen Sie mich deshalb abschließend folgende Punkte nennen: Das, was wir uns mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst vorgenommen haben, ist ein äußerst anspruchsvolles Reformprojekt. Wir werden es nur meistern, wenn wir die Bezirke auf diesem Weg mitnehmen. Genau das wollen wir, und damit meine ich nicht nur die politisch Verantwortlichen in den Bezirken, sondern auch die Fachleute – sie müssen eng in die Diskussionen um die Modernisierung des öffentlichen Gesundheitssystems eingebunden werden. Wir haben deshalb in enger Zusammenarbeit mit ihnen eine umfassende Bestandsaufnahme der Aufgaben des öffentlichen Gesundheitsdienstes vorgenommen. Sie ist bereits abgeschlossen, wurde in Arbeitsgruppen systematisch aufbereitet und soll dazu beitragen, dass die zukünftigen Kernaufgaben für den öffentlichen Gesundheitsdienst im Sinne der staatlichen Erfüllungsverantwortung ausgemacht werden können. Es muss auch deutlich gemacht werden, welche Aufgaben des heutigen öffentlichen Gesundheitsdienstes an Dritte abgegeben werden können und welche man ganz aufgeben muss.

Parallel dazu haben wir einen Stadtstaatenvergleich mit Hamburg, München, Leipzig und Frankfurt durchgeführt, um Informationen über Strukturvarianten und Finanzierungsmodalitäten zu erhalten. In dem jetzt vor uns liegenden Abschnitt wollen wir strukturiert die gesundheitspolitischen Konsequenzen aus diesen Vorarbeiten ziehen und die zukünftige inhaltliche und strukturelle Ausgestaltung des Berliner öffentlichen Gesundheitsdienstes klären. Auch dabei binden wir die Bezirke eng ein. Wir richten einen Beirat ein, in dem auch die Fraktionen dieses Hauses vertreten sein sollen, und ich wünsche mir, dass wir dann eine sehr kompetente und konstruktive Diskussion miteinander führen werden.

Wenn es uns gelingt, gute Qualität im Interesse der Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt mit verantwortungsbewusstem Umgang von Ressourceneinsatz miteinander in Verbindung zu bringen, dann sind wir mit dem Reformprozess des öffentlichen Gesundheitsdienstes auf der sicheren Seite. – Vielen Dank!

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Vielen Dank, Frau Senatorin! – Für die nun folgende Besprechung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung. Die Anfrage beginnt die Fraktion der CDU, und der Herr Kollege Czaja hat das Wort!

[Zuruf der Frau Abg. Simon (PDS)]

Ich schaue mir an, wie Sie mit Vivantes umgehen wollen. Bei Vivantes gibt es keine Mitsprache des Parlaments mehr, es gibt keine Ausbildung für medizinischtechnische Assistenten mehr, bei Vivantes gibt es ab demnächst keinen Storchenwagen mehr, und vieles andere wird es auch nicht mehr geben, außer demnächst einen vierten Geschäftsführer.

[Zuruf von der PDS: Zum Thema!]

Bei dem Krankenhausplan, dem dritten großen Thema, haben Sie überhaupt keine Entscheidung getroffen, sondern haben alles den Kassen überlassen und formuliert, sollen die Kassen die Krankenhäuser schließen, wir treffen die Entscheidung nicht.

[Zuruf des Abg. Brauer (PDS)]

Ganz ruhig, Herr Brauer! – Ich weiß, in Ihrem Alter will man schnell zu Ende kommen mit der Rede. – Die dritte Säule wurde von der Frau Senatorin angesprochen, die letzte Instanz, die sozialkompensatorische Aufgabe hat nun der öffentliche Gesundheitsdienst. Wie gehen Sie mit diesem um? Wie ist die Lage in der Stadt beim öffentlichen Gesundheitsdienst?

Czaja