Protokoll der Sitzung vom 15.01.2004

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach PISA, genauer gesagt nach der internationalen Schülerleistungs

studie 15-Jähriger und noch genauer gesagt nach den Ergebnissen, präziser den schlimmen Ergebnissen von PISA, ist die bildungspolitische Diskussionsbühne neu sortiert.

Bildung, das ist erreicht worden, ist zu einer zentralen Frage geworden. Es wird mit Leidenschaft, mit Ernsthaftigkeit und auch mit großer Diskussionsfreude in unserem Land diskutiert. Wir in Berlin tun heute das wirklich Wichtige und Richtige: Wir reden nicht nur, sondern wir handeln. Wir verabschieden heute das erste Schulgesetz in der Bundesrepublik Deutschland, das unmittelbare und – wie ich finde – auch klare Konsequenzen aus PISA zieht.

Mit diesem Schulgesetz schaffen wir eine rechtliche Grundlage für tiefgreifende und notwendige Veränderungen im Bildungswesen.

[Mutlu (Grüne): Naja!]

Darüber, Herr Kollege Mutlu, sollten wir nicht mäkeln, sondern darauf kann das Haus und können auch Sie stolz sein.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der PDS]

Wir haben eine lange Diskussion hinter uns. Viele Menschen in diesem Land und Engagierte in der Bildungspolitik haben sich daran beteiligt. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich. Ich möchte heute stellvertretend für alle und auch ganz bewusst den federführenden Bildungsausschusses unseres Hauses sehr herzlich für die intensive Arbeit und engagierte und kritische Begleitung dieses Gesetzesvorhabens danken.

[Beifall]

In der Bildung sind wir alle Betroffene und auch Experten. Ob Mutter oder Vater, Oma, Opa, Onkel, Tante, entweder haben wir selbst Kinder, aber in jedem Fall waren wir selbst einmal Kinder und früher einmal in der Schule. Alle sind Experten, und jeder weiß um die zentralen Fragen der Bildungspolitik. Das macht diese Frage so spannend und so wichtig, ich gebe allerdings zu, auch manchmal etwas schwierig, die Dinge zu ordnen und herauszukristallisieren, worum es eigentlich geht.

Nach meiner Auffassung geht es jenseits aller Details in diesem Land darum zu begreifen, dass Bildung die entscheidende Zukunftsfrage ist. Wir haben keine Rohstoffe. Wir haben nur die Ressource “Bildung“ in unserem Land. Davon lebt dieses Land, und deshalb ist dies auch die entscheidende Zukunftsfrage.

Die Zukunft bestimmt nicht allein die Verteilungsfrage, nicht in erster Linie die Frage, wer bekommt was vom Kuchen des Bruttosozialprodukts. Nein, Bildung ist auch die soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Das haben in diesem Land noch nicht alle hinreichend begriffen. Das Schulgesetz ist ein – wohlgemerkt: kleiner Beitrag.

Vizepräsidentin Michels

Wir haben drei große Ziele: Erstens: Wir wollen die Bildungschancen für alle in diesem Land vergrößern. Wir wollen mehr Chancengerechtigkeit erreichen. PISA hat nun gerade gezeigt, dass in der Bundesrepublik Deutschland, und auch in Berlin, die soziale Herkunft, nicht die Fähigkeiten, das Talent und das Wissen über den Bildungserfolg entscheiden. Das ist für uns nicht hinnehmbar. Das wollen wir ändern.

Zweitens: Wir wollen mehr Qualität in der Schule. Wir sind in den Kernkompetenzen – auch das ist klar und ernüchternd – nicht so gut, wie wir sein müssten, wenn wir ein führendes Industrieland bleiben wollen. Es geht also im Kern darum, den Unterricht und seine Ergebnisse zu verbessern.

Das dritte große Ziel, und das ist insbesondere für Berlin ein wichtiges Thema: Wir wollen Integration durch Bildung. Gegenwärtig verschenkt dieses Land, verschenken wir Begabungsreserven, weil wir es nicht schaffen, Kinder mit Migrationshintergrund zu einem erfolgreichen Schulabschluss zu führen. Nur wenn uns dies verstärkt gelingt, wird uns auch die Integration gelingen.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Bildung beginnt nicht mit der Schulpflicht. Zur Bildung gehört entscheidend auch, was vor dem Schuleintritt passiert. Diese Koalition und diese Regierung haben die Kindertagesstätten als Bildungseinrichtung gestärkt und werden das auch fortsetzen. Wir haben ein Kitabildungsprogramm entwickelt, das große Beachtung findet, und wir werden dieses Bildungsprogramm zum Erfolg führen. Wir bieten zusätzliche Fortbildungsangebote für Erzieherinnen und Erzieher an, und wir haben die Erzieherausbildung reformiert.

Kleine Kinder wollen nichts mehr, als wissen, wie und warum die Dinge so sind, wie sie sind.

[Frau Senftleben (FDP): Das ist aber keine neue Erkenntnis!]

Gerade in diesem Alter haben sie Spaß am Entdecken, sind wissbegierig und lernfähig. Kindsein und lernen ist kein Widerspruch. Deshalb haben wir die Schulpflicht um ein halbes Jahr vorgezogen. Wir sind das erste Land in der Bundesrepublik Deutschland, das diese frühere Schulpflicht einführt.

Wir beginnen zugleich mit einer neuen Schulanfangsphase. Die beiden ersten Jahre bilden künftig eine Einheit. Das Kind kann die Schulanfangsphase in verschiedenen Geschwindigkeiten durchlaufen. Es kann sie entweder in einem Jahr oder aber in zwei oder drei Jahren, je nach seinen Fähigkeiten und individuellem Lerntempo, durchschreiten.

Im Zuge der Schulanmeldung erfolgt ab 2005 erstmals in Berlin durch die Schule und dieKita eine Sprachstandserhebung mit einer dann zwingenden Konsequenz: Wenn wir feststellen, dass das Kind im Einschulungsalter nicht die notwendigen sprachlichen Fähigkeiten hat und nicht

in einer Einrichtung der Jugendhilfe, also der Kita, ist, dann werden wir in Berlin – das gibt es in der Bundesrepublik Deutschland bislang noch nicht –

[Mutlu (Grüne): Doch, in Niedersachsen!]

verpflichtend einen halbjährigen Sprachkurs vorschalten. Wir werden und müssen dies in Berlin einführen, um die Sprachfähigkeit möglichst frühzeitig zu verbessern.

Wir wollen auch ganz generell eine Stärkung der Grundschule für alle Kinder, denn das ist die eigentliche Basis für den Bildungsprozess. Wir haben den Frühbeginn der ersten Fremdsprache ab Klasse 3 durchgesetzt, wir haben zusätzlichen Deutschunterricht eingeführt, wir haben Schulen mit hohem Ausländeranteil mit zusätzlichem Personal ausgestattet. Und wir werden ab dem Schuljahr 2004/05 schrittweise den technisch-naturwissenschaftlichen Unterricht in den Klassen 5 und 6 verstärken. All dies sind bewusste Zeichen, um die Grundschule, die entscheidende Schule für den weiteren Lernerfolg, zu stärken.

Das Schulgesetz gibt auch ein klares Konzept für eine Ganztagsschule, insbesondere die Ganztagsgrundschule vor. Wir wollen allein Erziehenden, wir wollen Familien helfen. Wir wollen ihnen Mut zu Kindern machen.

[Frau Jantzen (Grüne): Hi, hi!]

Unsere Tagesbetreuung ist schon jetzt bundesweit Spitze. Das ist das Ärgerliche in Berlin, dass Sie nur realisieren, dass etwas gut ist, wenn es verändert oder abgeschafft werden soll.

[Frau Oesterheld (Grüne): Oder teurer!]

Das ist es, was mich in Berlin wirklich aufregt, Frau Kollegin, wenn ich Ihr hysterisches Lachen wahrnehme. Es ist wahr, die Tagesbetreuung in Berlin ist bundesweit Spitze. Darauf können wir stolz sein,

[Beifall bei der SPD und der PDS]

auch wenn wir in manchen Bereichen, das ist auch wahr, die Gebühren erhöhen müssen.

Wir werden das Angebot für die Grundschulen erweitern. Bis 2006 werden alle Grundschulen zu verlässlichen Halbtagsgrundschulen. Das heißt, dass es dort ein Betreuungsangebot von 7.30 Uhr bis 13.30 Uhr gibt. Wir wollen zusätzliche Ganztagsangebote in den Grundschulen aufbauen. Das bedeutet 30 weitere Ganztagsgrundschulen mit einem verbindlichen Angebot, und darüber hinaus wollen wir im offenen Ganztagsbetrieb die Angebote erweitern. Wir wollen die Schulen ermuntern, sehr eng mit freien Trägern zusammenzuarbeiten. Ich wünsche mir, dass viele Sportvereine, Musikschulen und Kultureinrichtungen attraktive Betreuungen und pädagogische Angebote in den Schulen machen.

[Frau Jantzen (Grüne): Und was ist mit den Schülerläden, Herr Böger?]

Für dieses Programm nutzen wir das gute und richtige 4Milliarden-€-Investitionsprogramm der Bundesregierung,

Sen Böger

von dem Berlin immerhin 147 Millionen € bis zum Jahr 2007 erhält.

Wir führen mit dem Schulgesetz einen mittleren Bildungsabschluss und das Zentralabitur ein, weil wir so Klarheit und Vergleichbarkeit erreichen. Wir stärken die berufliche Bildung, wir verkürzen die Schulzeit für Abiturientinnen und Abiturienten. Bildungszeit ist Lebenszeit, die nicht vergeudet werden darf. Die heutigen Viertklässler werden die ersten sein, die – unter Umständen, wenn es ihren Fähigkeiten entspricht – das Abitur an Gymnasien oder Gesamtschulen in zwölf Jahren machen können, also erstmals im Sommer 2012. Die sechsjährige Grundschule, die sich bewährt hat, bleibt dabei erhalten, die gymnasiale Oberstufe wird von drei auf zwei Jahre verkürzt. Wer länger braucht, hat in Gesamtschulen und beruflichen Gymnasien auch weiter die Möglichkeit, das Abitur in 13 Jahren zu machen. Manch einem mag diese Einführung zu lang erscheinen – 2012. Aber Kontinuität und Sorgfalt geht vor Hektik und unüberlegten Schritten. Wir brauchen solide Reformen und wollen niemanden überfordern. Das Ziel ist, genauso wie in der Schulanfangsphase auch am Ende der Schulzeit eine Individualisierung von Bildungsgängen. In Berlin wird es ab jetzt möglich sein, dass besonders Leistungsfähige, die wir auch brauchen und fördern müssen, das Abitur bereits nach elf Jahren machen können.

[Frau Oesterheld (Grüne): Was haben sie denn davon?]

Das ist konkret ausformuliert das, was man unter Individualisierung von Bildungsgängen zu verstehen hat.

Die wichtigste und entscheidendste Frage lautet: Wie verbessern und wie sichern wir die Qualität des Unterrichts? – Wir haben die Rahmenpläne für die Grundschule gemeinsam mit anderen Bundesländern reformiert. Wir entwickeln auch für die Sekundarstufen I und II neue Rahmenlehrpläne, um Kernkompetenzen klarer herauszuarbeiten. Wir wollen Bildungsstandards und Vergleichsarbeiten, weil sie unverzichtbares Instrument sind, um Qualität zu sichern und zu kontrollieren. Wir wollen die Gestaltungsfreiheit für die einzelne Schule erheblich erweitern. Die Schule soll sich ein Profil geben,

[Frau Jantzen (Grüne): Darüber reden wir schon seit zehn Jahren!]

ein Schulprogramm definieren, selbstständig entscheiden können, welchen Weg sie gehen will und an der Auswahl des Personals beteiligt sein. Das Schulgesetz sichert den Schulen ein hohes Maß an Eigenverantwortung. Es geht in diesem Gesetz und in der Bildungspolitik um einen absolut zusammengehörenden Dreiklang: Erstens die Selbstständigkeit von Schulen, zweitens die klare Definition von Standards und Qualitätsmaßstäben und drittens die regelmäßige Kontrolle dieser Standards – und auch ihrer Öffentlichkeit – in den Schulen.

[Beifall des Abg. Dr. Kaczmarczyk (PDS)]

Dazu brauchen wir die Beteiligung von Eltern, Schülern und Lehrern. Wir wissen, dass sie sich in ihrer Schule

engagieren und sich mit ihr identifizieren. Das wollen wir weiter fördern.

Gerade nach der Debatte – der wie vielten eigentlich – in der Aktuellen Stunde weiß jeder – und auch ich –, dass man für Reformen materielle Grundlagen schaffen muss. Das tut Berlin. Trotz schwieriger finanzieller Rahmenbedingungen steht diese Koalition zu ihrer Aussage und vollzieht sie: Für uns hat Bildung Priorität.

[Beifall bei der SPD und der PDS – Mutlu (Grüne): Wer es glaubt, wird selig!]

Wir sichern trotz größter Schwierigkeiten, ich wiederhole es, das Investitionsprogramm zur Schul- und Sportstättensanierung. Wir bauen mit hohem Kapitaleinsatz die beruflichen Schulen in diesem Land aus, wir geben die Lehr- und Lernmitteletats an die einzelnen Schulen und wir werden die Übertragbarkeit dieser Mittel jeweils sicherstellen. Wir mindern nicht entsprechend der zurückgehenden Schülerzahlen die Lehrerstellen, sondern wir sichern zusätzlich 1 040 Lehrerstellen für pädagogische Verbesserungen.