Protokoll der Sitzung vom 21.02.2002

In Berlin wird es eine Sondersitzung des Verwaltungsausschusses des Landesarbeitsamtes Berlin-Brandenburg geben, bei der alle Fakten auf den Tisch kommen, sie bewertet werden, nach den Ursachen geforscht wird und Verabredungen getroffen werden. Lassen sie uns erst einmal diese Prüfung abwarten. – Ich danke für ihr Zuhören!

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Vielen Dank, Frau Grosse! – Für die Fraktion der CDU tritt nun Herr Peter Kurth an das Pult. – Sie haben das Wort!

[Frau Dr. Klotz (Grüne): Der arbeitsmarktpolitische Sprecher!]

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sind eben immer noch Karrieren möglich, nicht wahr, Frau Dr. Klotz! interjection: [Heiterkeit]

Denn das Thema, um das es hier geht, ist, darüber stimmen die Wenigen, die noch im Saal sind, sicher überein, eines der zentralen Anliegen in Berlin, und es betrifft nicht nur die dramatisch hohe Zahl an Arbeitslosen, die wir haben, das betrifft auch die gegenwärtige Diskussion über Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsmarktverwaltung.

Es ist klar, dass diese einer grundlegenden Reform bedürfen, wobei ich glaube, keiner – auch nicht die FDP – hat im Moment Anlass, mit etwas vorschnellen Forderungen auf die gegenwärtigen Missstände und deren Bekanntwerden zu reagieren, weil wir sicher in der Einschätzung übereinstimmen: Das System der Arbeitsverwaltung war eine sehr große Koalition, in die die Arbeitgeberverbände und die Wirtschaft seit Jahren sehr eng eingeschaltet worden sind. Dass jetzt einige Forderungen kommen, klingt manchmal so, als wenn man da nicht dabei gewesen wäre.

[Beifall bei der SPD, der PDS und den Grünen]

Ich meine, dass man sich die Situation in Berlin-Brandenburg, also die Frage, ob auch bei uns Statistiken gefälscht worden sind, in einigen Wochen anschauen soll, wenn die Ergebnisse der Sonderprüfungen, die veranlasst worden sind, vorliegen.

Die Statistik für Berlin verlangt allerdings eine etwas differenziertere Betrachtung. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist zurückgegangen. Das ist erfreulich, klingt erfreulich, ist aber allein darauf zurückzuführen, dass sich im letzten Jahr so viele Menschen wie noch nie für den Vorruhestand entschieden haben, was in der Gesamtbetrachtung natürlich kein Fortschritt sein kann.

Die Zahl der jugendlichen Arbeitslosen unter 25 Jahren ist deutlich stärker gestiegen als die Zahl der Arbeitslosen insgesamt.19,2 Prozent beträgt die Arbeitslosenrate jetzt bei jungen Menschen unter 25 Jahren. Und das ist eine dramatische Entwicklung. Wir wissen, dass Jugendlichen, denen schon der Einstieg auf den Arbeitsmarkt nicht gelingt, damit häufig jede längerfristige Perspektive sowie ihr Selbstvertrauen verlieren.

Und auch deshalb gehört in diese arbeitsmarktpolitische Debatte ein Satz zu der Weigerung des Senates, die Absolventen der Ausbildung für den mittleren Dienst zumindest für ein einjähriges Beschäftigungsverhältnis zu übernehmen.

[Beifall bei der CDU und der PDS]

Wir wissen, dass derjenige, der heute in den Realitäten der Berliner Verwaltung für Verwaltung ausgebildet wird, auf dem freien Arbeitsmarkt, auf dem ersten Arbeitsmarkt, praktisch keine Chance hat. Wir wissen, dass die Weigerung, wenigstens einjährige Beschäftigungsverhältnisse zu vereinbaren, auch unter haushaltspolitischen Gesichtspunkten wenig Sinn macht, weil die Gefahr – und das sind ja keine Schätzungen, sondern das ist die Erfahrung, die wir haben –, dass die Betroffenen zu Sozialhilfeempfängern werden und damit das Land Berlin sehr viel stärker belasten, langfristig da ist.

Deshalb will ich noch einmal an den Senat den Appell aufgreifen und ihn auch noch etwas weitergehend formulieren, dass den Jugendlichen, um die es jetzt geht, tatsächlich ein einjähriges Beschäftigungsverhältnis angeboten wird. Das muss man nicht für alle 900, die anstehen, machen. Ich meine aber, dass der Senat, wenn er das schon nicht tut, dann wenigstens jetzt eine Änderung der Ausbildung durchführen muss, die es den betroffenen Männern und Frauen wenigstens erlaubt, auf dem Arbeitsmarkt eine Chance zu finden.

[Allgemeiner Beifall]

Und sage jetzt keiner, das geht nicht. Wer jetzt zu so etwas sagt, es gehe nicht, hat die Regierungserklärung nicht gehört. Aber dazu hätten wir dann gern auch in der Beantwortung eben etwas konkretere Angaben gehört. Bisher steht eine Weigerung im Raum, an sachgerechten Lösungen mitzuwirken. Und wer sich sachgerechten Lösungen verweigert, wer an falschen Beschlüssen festklammert, der braucht sich nicht zu wundern, wenn die Bereitschaft zu solidarischen Verständigungen in ganz anderen Größenordnungen in der Stadt immer geringer wird. Dafür trägt der Senat die Verantwortung.

[Beifall bei der CDU]

Natürlich gehört zu einer neuen Arbeitsmarktpolitik eine grundlegende Reform der Bundesanstalt für Arbeit, der Landesarbeitsämter. – Herr Lehmann, wenn Sie dieses Eingeständnis brauchen: Ich bin auch der Meinung, dass vieles an der Arbeitsmarktpolitik der großen Koalition in den letzten Jahren nicht ganz gelungen ist. – Wahrscheinlich ist das auch der Grund, weswegen sich die SPD entschlossen hat, dem Sozialressort den Arbeitsmarktbereich wegzunehmen, weil diese Einschätzung dort auch geteilt wird. Nun warten wir darauf, dass Herr Bürgermeister und Senator Dr. Gysi eine Arbeitsmarktpolitik vorschlägt, wie sie den Forderungen und Interessen der Berliner Wirtschaft endlich einmal entspricht.

[Frau Oesterheld (Grüne): Der Wirtschaft oder den Arbeitnehmern?]

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Wir brauchen eine Konzentration der Aufgaben der Bundesanstalt und der Landesarbeitsämter auf den Bereich, der zu ihrer Kernaufgabe gehört, nämlich die Verwaltung der Arbeitslosenversicherung und die Vermittlung von Arbeitslosen. Die Überhäufung der Behörde mit sozial- und strukturpolitischen Aufgaben zu Lasten der Beitragszahler hat dazu geführt, dass der Faktor Arbeit teurer geworden ist, hat dazu geführt, dass sich ein Moloch in dieser Bürokratie entwickelt hat, in dem heute, wenn man Presseberichten glauben schenken darf, nur noch 10 Prozent der Beschäftigten tatsächlich mit der eigentlichen Kernaufgabe der Bundesanstalt für Arbeit betraut sind. Wir brauchen eine stärkere Einbeziehung privater Vermittler, und wir brauchen auch einige rechtliche Reformen im SGB III.

Was wir nicht brauchen, ist eine Umsetzung der Koalitionsvereinbarung. [Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Das betrifft im Wesentlichen drei Punkte.

Die Ankündigung einer stärkeren Berücksichtigung von Vergabe-ABM ist hinter dem, was die arbeitsmarktpolitischen Rahmenprogramme der letzten Jahre noch beinhaltet haben, erneut zurückgeblieben. Das ist kein Ruhmesblatt.

Das Zweite: Die Infrastrukturfinanzierung auf der Basis des Job-Aqtiv-Gesetzes birgt die Gefahr, dass der zweite Arbeitsmarkt weiter ausgebaut wird, anstatt ihn langsam und kontinuierlich zurückzuführen. Das ist insofern ein Problem,

[Frau Freundl (PDS): Das haben Sie nicht verstanden!]

doch! – weil sie damit bei der Sanierung von Schulen und Grünanlagen genau zu Lasten der mittelständischen Betriebe, die mit ihren Steuern das ganze System erst bezahlen sollen, diesen Wettbewerb liefern.

[Frau Dr. Klotz (Grüne): Sie üben ja noch!]

Dieses ist ein Schritt in die grundsätzlich falsche Richtung. Man kommt fast ins Schmunzeln, Frau Dr. Klotz, wenn in der Koalitionsvereinbarung steht – ich hoffe, das ist nach Ihrer Zeit verhandelt worden –, dass der Senat sich nunmehr anschickt, den Unternehmen bei der Suche nach Arbeitskräften zu helfen. Darauf haben diese wahrscheinlich gerade gewartet, dass neben einer mit der Aufgabe sichtlich überforderten Arbeitsverwaltung nun auch noch der Senat sich anschickt, den Unternehmen helfen zu wollen.

[Ritzmann (FDP): Das hilft bestimmt!]

Das sind sämtlich Schritte in die falsche Richtung. Wir brauchen eine viel stärkere Orientierung der Arbeitsmarktpolitik an den Bedürfnissen des ersten Arbeitsmarktes. Daher wiederhole ich das, was die CDU immer gesagt hat: Die Bündelung von Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik in einem Ressort ist sinnvoll. Herr Bürgermeister, wir warten immer noch auf Ihr Reformkonzept zur Arbeitsmarktpolitik. Es muss sich – ich wiederhole es – an den Interessen der Wirtschaft ausrichten, weil nur so eine dauerhafte Entlastung auf dem Arbeitsmarkt und eine Senkung der Arbeitslosenzahlen gelingen wird. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Vielen Dank, Herr Kurth! – Für die Fraktion der PDS tritt nun Frau Freundl ans Mikrofon. Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kurth, da kann ich Ihnen nicht so viel Hoffnung machen, dass wir die Koalitionsvereinbarung nicht umsetzen werden. Aber bemerkenswert fand ich schon, dass ein ehemaliger Finanzsenator so wenig in die anderen Ressorts, wo er doch mitentscheiden musste, Einblick hat, dass er die Arbeitsmarktpolitik so grundlegend falsch verstanden hat.

[Beifall bei der PDS]

Die Misere der Arbeitsmarktpolitik ist nichts Latentes, Verborgenes, sie ist etwas Immerwährendes. Ich hatte die Befürchtung, dass in diesem Hause auch diese Debatte schon zum Wahlkampf, zum Vorwahlkampf auf der Bundesebene verkommt. Aber offensichtlich ist eine Seite des Hauses schon von den Reaktionen auf die Regierungserklärung so ermüdet, dass noch nicht einmal hier eine wirkliche Debatte zu den Problemen in Berlin zu Stande kommt.

[Widerspruch bei der CDU]

Wir haben auf der Bundesebene das Problem nicht eingehaltener Wahlversprechen, von über 4 Millionen Arbeitslosen und neuen bundesgesetzlichen Regelungen, die gewürdigt werden müssen. Bei der Arbeitsmarktpolitik gibt es immer das Problem, dass schnelle Antworten auf komplizierte Fragen und Patentrezepte gewünscht sind. So wird auch in dieser Debatte gesagt, die private Arbeitsvermittlung sei die Problemlöserin. Dazu sage ich ganz klar: Es gibt einen Reformbedarf bei der Bundesanstalt für Arbeit und auch beim Landesarbeitsamt Berlin-Brandenburg. Das sieht man allein schon daran, dass nur 2 von 6 regionalen Arbeitsämtern nach dem Modellprojekt „Arbeitsamt 2000“ arbeiten. Ich finde, das sagt schon eine ganze Menge. Fachleute haben in der Vergangenheit schon darauf hingewiesen, dass es hier Reformbedarf gibt. Das aber zu einem Skandal aufzubauen, finde ich der Sache nicht angemessen.

Frau Grosse hat schon darauf hingewiesen: 5 100 Institutionen arbeiten in der privaten Arbeitsvermittlung seit 1998 verstärkt. Das neue Job-Aqtiv-Gesetz stärkt die Vermittlung von Arbeitslosen oder demnächst von Arbeitslosigkeit Gefährdeten, setzt die Prävention an die erste Stelle und schafft da einen Schwerpunkt des neuen Gesetzes. Die bundespolitischen Rahmenbedingungen, mit denen wir uns auseinander zu setzen haben, sind also auch eine Stärkung der Arbeitsvermittlung. Trotzdem wird auch die private Arbeitsvermittlung fehlende Ausbildungs- und Arbeitsplätze nicht züchten können, insbesondere nicht für Langzeitarbeitslose, für Arbeitlose mit Handicaps, für solche mit geringen oder nicht mehr anerkannten Qualifikationen. [Beifall der Frau Abg. Grosse (SPD)]

Vielleicht kennen Sie auch die Zahlen: Ende des letzten Jahres gab es 6 650 gemeldete offene Stellen im Landesarbeitsamtsbezirk Berlin. Da frage ich mal die FDP, weil Sie so auf der Trägerschaft insistiert haben: Der Jobpoint funktioniert sehr gut. Das ist in Einkaufszentralen ganz niederschwellig ein Angebot, das angenommen wird. Wissen Sie, in welcher Trägerschaft das besteht? Wenn das gut funktioniert, wenn das angenommen wird, wenn dort Verwaltung, Arbeitsuchende und Anbieter von Arbeitsplätzen unkompliziert zusammenkommen und erfolgreich Verträge abschließen, ist dann die Trägerschaft die entscheidende Frage? – Da Sie es nicht wissen, sage ich: Es ist offensichtlich nicht die entscheidende Frage.

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Noch einmal zu den Rahmenbedingungen, die das Job-AqtivGesetz setzt. Da ist mir aufgefallen, dass es eine sehr problematische für Berlin gibt, die sich offensichtlich noch nicht herumgesprochen hat: Das neue Job-Aqtiv-Gesetz regelt seit dem 1. Januar 2002, dass alle, die für 1 bis 3 Jahre eine Förderung in Form von ABM oder SAM bekommen haben und diese abgeschlossen ist, erst einmal drei Jahre warten dürfen. Eine 3-jährige Wartefrist steht in diesem Bundesgesetz, und das wird auch die Verhältnisse in Berlin aufmischen. Ich glaube, dass viele Träger und Projekte, die all die Jahre Planungssicherheit gefordert haben, dies so nicht gemeint haben.

Nun zu Herrn Kurth. Im neuen Job-Aqtiv-Gesetz steht auch die Jobrotation. Dazu möchte ich etwas sagen, weil es aus meiner Sicht dabei auf die Ausführungsvorschriften ankommt und nicht allein auf den Gesetzestext, und auch auf die Beschäftigung schaffende Infrastrukturförderung, ehemals Vergabe-ABM. Da sollen Unternehmen des ersten Arbeitsmarktes Arbeitslose einstellen, und dafür bekommen sie eine öffentliche Förderung, wenn sie wiederum Aufgaben umsetzen, die das Land Berlin

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ansonsten nicht erledigen könnte – Verweis auf die Haushaltslage, Kitasanierung, Schulsanierung usw. – Die entscheidende Frage ist also nicht, ob es eine Verdrängung ist, sondern es ist ein Angebot für den ersten Arbeitsmarkt. Interessant ist auch die Frage, warum es in Brandenburg funktioniert hat und in Berlin nicht. Das heißt also, die Umsetzung des Job-Aqtiv-Gesetzes braucht eine ganze Menge Kreativität.

Ein anderes Beispiel ist die Jobrotation. In vielen europäischen Ländern funktioniert das sehr gut und erweist sich als Instrument, das Arbeitslose, kleine und mittelständische Unternehmen und auch die Arbeitsverwaltung zusammenbringt. Warum funktioniert es in Berlin nicht? Stellen Sie sich ein kleines Unternehmen in Berlin vor, das am Markt kämpft und droht, sich nicht durchzusetzen. Können Sie sich vorstellen, dass ein kleines Unternehmen das neue Bundesgesetz mit einer 16-seitigen Ausführungsbestimmung als einen Rettungsring erkennt und sieht, dass es damit seine Marktkraft stärken kann, dass es damit seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter qualifizieren kann, ausreichend lange und gut, und für diese Zeit einen Arbeitslosen einstellen kann? – Nein! Sie stellen sich nicht dieser 16-seitigen Ausführungsbestimmung, dieser Absicherungstendenz, die da die Bundesanstalt für Arbeit hat, und sie vertrauen auch den Verwaltungen nicht, dass sie es für sie beratend regeln. Es kommt also nicht zu Stande. Das heißt, dass sehr viel Kreativität und sehr viel Intelligenz notwendig ist, Überzeugungsarbeit nicht zu vergessen, um tatsächlich Jobrotation zu einem wirklich guten Instrument zu machen und da mehrere Gewinnerinnen und Gewinner zu beteiligen.

Das sind die bundespolitischen Implikationen. Aber in Berlin gibt es auch eine ganze Menge Neues.

Es ist zum Beispiel neu, dass wir uns dafür ausgesprochen haben, die bezirklichen Beschäftigungsbündnisse, die jetzt Bündnisse für Wirtschaft und Arbeit heißen, zu mehr Eigenverantwortung zu befähigen. Hier sind sehr gute Aktionsprogramme in vielen Bezirken und Regionen entstanden, hier ist die Möglichkeit wahrgenommen worden, sich über die Entwicklungsperspektiven der Region Gedanken zu machen und das auch in Einzelschritte von Förderung und Nichtförderung zu übersetzen. Wir werden hier einen Schwerpunkt und die Priorität setzen, diesen Bündnissen zu helfen, in Gang zu kommen, sich in der Region trotz der katastrophalen Bedingungen der Haushaltssituation verdient zu machen.