Protokoll der Sitzung vom 26.08.2004

An der Politik der Bundesregierung und jetzt auch der Bundesagentur fällt zuallererst auf, dass Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden sollen, und zwar in einem erheblichen finanziellen und quantitativen Umfang. Da sage ich: Es kann durchaus sinnvoll sein, die Leute aus dem Arbeitslosengeld II heraus in eine sinnvolle Beschäftigung zu bringen – woran wir alle arbeiten werden, dass diese Beschäftigung sinnvoll ist und dem Gemeinwesen dient und den Betroffenen etwas bringt. Die Crux ist nur, dass der Betroffene, wenn die Qualität dieser Leistung, dieser Gemeinwesenarbeit, gut ist, eine Chance haben muss, aus dem Arbeitslosengeld-II-Bezug herauszukommen. Er muss die Chance haben, aus dieser gefährlichen Stigmatisierung, der Zuschreibung der Gesellschaft „einmal langzeitarbeitslos, immer langzeitarbeitslos“ herauszukommen. Da würde ich gerne einmal sagen, wie die derzeitige Geschäftspolitik der Bundesagentur in Nürnberg ist. Da hat Frau Klotz etwas ganz anderes suggeriert. Die Nachrichten sind von Dienstag dieser Woche:

Sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse nur in Einzelfällen, keine Kapitalisierung des Arbeitslosengeldes II und möglichst für die Bundesrepublik keine Arbeitsmarktpolitik.

[Beifall bei der PDS]

Da sind wir gleich am nächsten Punkt, bei den für Berlin diagnostizierten 50 000 Nichtleistungsempfängerinnen und -empfängern. Es werden überwiegend Frauen sein. Sie fallen aus jedem Leistungsbezug heraus. Sie haben auch keinen Rechtsanspruch auf Vermittlung oder Beratung. Es ist auch hier Berlin nicht möglich, allen diesen oder auch nur jeder zweiten – es werden ja vor allen Dingen Frauen sein – ein Angebot zu unterbreiten. Ich will hier noch einmal ganz klar sagen: Das ist ein gleichstellungspolitischer Rückschritt noch hinter die Einführung der Sozialhilfe in der Bundesrepublik Deutschland. Wenn – überlegen Sie es sich einen Moment und seien Sie einen Moment realistisch – der Berliner Senat auch nur etwas ähnlich gravierend Verheerendes in der Gleichstellungspolitik – was ich nicht hoffe – beschließen würde, in welchen Phonstärken würden Sie z. B., Frau Klotz, bis zum Bundestag zu hören, dagegen protestieren?

[Beifall bei der PDS]

Dass insbesondere Frauen keinen eigenständigen Existenzsicherungsanspruch realisieren können, ist eine Katastrophe. Sie haben hier – das finde ich sehr mutig – angekündigt, dass sich das ändern wird. Das werden wir genau beobachten. Im Moment ist es Gesetzeslage, im Moment ist es umzusetzen, im Moment werden in Berlin 50 000 Personen, die jetzt noch im Regelleistungsbezug der Arbeitslosenhilfe sind, keine Leistungen erhalten.

Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort der Abgeordnete Herr Lehmann. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über die Zirkusnummer der rot-roten Koalition in Sachen Hartz IV hat mein Vorredner, Herr Dr. Lindner, bereits viel gesagt.

Lassen Sie mich noch eines hinzufügen: Das Gesetz wird so oder so kommen, im Januar 2005 oder im Januar 2006. Die Verantwortlichen der PDS streuen den Berlinerinnen und Berlinern Sand in die Augen. Die PDS betreibt einen nicht mehr zu ertragenden Populismus.

Auf der einen Seite kürzt sie Sozialleistungen, wo immer sie in Deutschland Regierungsverantwortung übernommen hat – das müssen Sie schon zugestehen. Auf der anderen Seite hat die PDS im Europawahlkampf und auch jetzt bei Hartz IV den sozial gerechten Heiligenschein aufgesetzt. Für ein solches Verhalten könnte ich noch drastischere Formulierungen finden, doch die Regeln dieses Hohen Hauses gebieten mir, dies nicht zu tun.

Frau Abgeordnete! Gestatten Sie Zwischenfragen?

Ja, aber ich hoffe, dass das meine Zeit nicht enorm beeinträchtigt.

Würden Sie denn im Gegenzug, wenn ich diese gleichstellungspolitische Kritik teile – und die teile ich dezidiert –, würden Sie dann im Gegenzug vielleicht von Seiten des Berliner Senats von den 300 Millionen eingesparten Landesmitteln extra Landesförderprogramme für insbesondere Frauen, aber auch Männer auflegen, die aus dem Leistungsbezug herausfallen?

Ja, das habe ich ja gesagt. Wir werden kein Angebot für alle 50 000 machen können, das würde nämlich mehr kosten, als wir im Augenblick inklusive Landes- und EU-Mittel für die gesamte Arbeitsmarktpolitik ausgeben. Aber wir werden selbstverständlich versuchen, ein sinnvolles, öffentlich gefördertes Beschäftigungsprogramm für Männer und Frauen zu machen. Die Kompensation wird nicht in dem Umfang stattfinden, wie Leute aus dem Regelbezug herausfallen.

Da sind wir bei einem Vorschlag, zu dem sich eventuell alle Fraktionen des Hauses verstehen können. Wir wissen, dass die Regionalisierung der Arbeitsmarktpolitik auch bei Hartz dringend erforderlich gewesen wäre. Wir stellen jetzt fest, dass von Anfang an die Personalserviceagenturen in Berlin und Brandenburg überhaupt nicht funktionieren. Sie können auch nicht funktionieren, weil es keinen durchlässigen Arbeitsmarkt in dieser Region gibt. Es wird aber sehr viel Geld dafür ausgegeben, dass Beschäftigte für einen möglichen Leiharbeitseinsatz qualifiziert werden. Seien wir doch realistisch und fordern eine Regionalisierung! Schaffen wir diese Personalserviceagenturen ab und bereichern die finanziellen Möglichkeiten einer öffentlich geförderten Beschäftigungspolitik in Berlin und Brandenburg!

[Beifall bei der PDS]

Ich bemerke noch zum Schluss: Ich bin sicher, dass wir uns noch lange und intensiv mit den Auswirkungen der Hartz-Gesetze in Berlin beschäftigen werden. Auch wenn alle organisatorischen Fragen gelöst sind, wird die Frage bleiben: Was passiert in Berlin mit diesem enormen Kaufkraftverlust, mit der sich anschließenden Kaufzurückhaltung, die es bereits gibt, mit dem „Angstsparen“, mit der Realität, die die Menschen nun erkannt haben, dass ihnen nämlich nach einem Jahr Arbeitslosigkeit der soziale Abstieg droht? Sie werden sich jetzt schon entsprechend verhalten. Wir werden eine überaus schwierige Situation für Existenzgründungen für kleine und mittelständische Unternehmen haben. Ich schlage deshalb vor, jetzt in Erkenntnis der Situation und nicht erst in zwei Jahren umzusteuern.

[Beifall bei der PDS]

[Zurufe von der PDS]

[Doering (PDS): Ist auch besser so!]

Jedenfalls werden Sie ein böses Ende erleben, wenn Sie Versprechungen machen, die später niemals eingehalten werden können.

[Beifall des Abg. Ritzmann (FDP) – Doering (PDS): Wir machen keine Versprechungen!]

Frau Knake-Werner und Herr Wolf haben das erkannt und halten sich in dieser Diskussion wohlweislich zurück. Deshalb ist es bitter, wenn der Hauptprotagonist Herr Wolf erst durch den öffentlich-parlamentarischen Druck seinen Urlaub außerhalb der Parlamentsferien unterbricht. Ein Vertreter der selbst ernannten Arbeiterpartei lässt seine Arbeiter kläglich im Stich.

[Doering (PDS): Was ist das, eine Arbeiterpartei?]

Daran merkt man doch, wie wenig er mit dem anfangen kann, wie weit die PDS weg ist vom täglichen Leben.

[Doering (PDS): Der hat den ganzen Sommer gearbeitet!]

Das Motto lautet: Gegen die Reform rebellieren und durch die Hintertür Hartz IV still und leise umsetzen. Links blinken und rechts abbiegen! – Ich sage deshalb: Liebe Mitglieder der PDS, seien Sie Manns genug, aus der Koalition auszusteigen!

[Beifall bei der FDP – Beifall des Abg. Steffel (CDU)]

Die Zusammenlegung der beiden steuerfinanzierten Transfersysteme Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum eigentlichen Arbeitslosengeld II gehört zu den ehrgeizigsten Reformen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Ich möchte in diesem Zusammenhang festhalten: Wir Liberale haben als Erste diese Zusammenlegung gefordert. Wir begrüßen deshalb die Neueinführung

Lehmann

Jetzt kommt die Crux der ganzen Geschichte: Erst wenn die von mir beschriebenen Maßnahmen in Angriff genommen werden, macht Hartz IV wirklich Sinn. Erst dann können Sie die Menschen in den ersten Arbeitsmarkt bringen. Ohne diese Maßnahmen droht Hartz IV zu einem weiteren Verschiebebahnhof zwischen der Bundesagentur, Arbeitsgemeinschaften und den kommunalen Sozialämtern zu verkommen. Wir wollen also einen System

wechsel und keinen weiteren Reparaturbetrieb wie die restlichen Parteien.

Ich werde das Gefühl bei diesem Gesetz nicht los, dass der zweite Arbeitsmarkt weiterhin seine alte Bedeutung beibehalten soll. Das schon allein deshalb, weil Sie durch neue Beschäftigungsprogramme nur Jobs auf dem zweiten Arbeitsmarkt schaffen. Die Grünen-Anträge sind ein gutes Beispiel dafür.

Einerseits muss das Fordern selbstverständlich im Mittelpunkt der Diskussion stehen. Die Zumutbarkeitsregeln sind angemessen. Allerdings sehe ich auch die Gefahr, dass Wohlfahrtsverbände und andere Vereine die Ein-Euro-Jobs zum Anlass nehmen, reguläre Stellen systematisch abzubauen, um so Geld einsparen zu können.

Deshalb sollten Langzeitarbeitslose nur dort in Beschäftigung gebracht werden, wo es keine Konkurrenz zur freien Wirtschaft gibt. Ihr Antrag ist zwar gut gemeint, Frau Klotz, doch will er – wie fast immer bei Ihnen – fast des Guten zu viel. Tja, das erinnert mich dann irgendwie wieder an die PDS.

des Arbeitslosengeldes II. Sie ist notwendig und dringend geboten. Aber leider ist dieses Gesetz mit enormen handwerklichen Mängeln behaftet.

[Doering (PDS): Ach was!]

Das ist auch kein Wunder! Seit 1998 hat es die Bundesregierung nicht geschafft, ein einziges Gesetz auf die Reihe zu bekommen, welches den Erfordernissen der Wirtschaft gerecht geworden wäre. Denken Sie nur an die Ökosteuer und an die Zwangssteuer namens Ausbildungsplatzabgabe, die hier von der SPD immer so vehement gefordert worden ist. Ich kann mich daran sehr gut erinnern.

Wir verstehen Hartz IV als einen Teil einer notwendig angelegten Arbeitsmarktreform. Doch allein mit einem bürokratischen Hindernislauf fordern und fördern, reicht nicht aus. Das Wichtigste jeder Reform muss sein, ein gutes Investitionsklima in Deutschland zu schaffen, um Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt entstehen zu lassen. Dazu bedarf es eines Gesamtpakets. Genau das haben SPD und Grüne in Berlin nicht kapiert.

Ich nenne einige Beispiele: Reform des Kündigungsschutzes. – Der rigide Kündigungsschutz mutiert heutzutage zum Jobkiller.

[Doering (PDS): Rigider Kündigungsschutz? Was ist das? Und wo?]

Weiteres Beispiel: Abschaffung der Flächentarifverträge und mehr betriebliche Bündnisse. – Es ist schier nicht mehr einzusehen, dass für Hamburg die gleichen Regeln gelten sollen wie für Ludwigsburg.

Drittes Beispiel: Alle anderen Gesetze zur Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik müssen auf den Prüfstand und – wo es geht – abgeschafft werden. Die Regulierung des Arbeitsmarktes ist das Haupthindernis und Hauptproblem der deutschen Politik.

[Beifall bei der FDP – Beifall des Abg. Steffel (CDU)]

Viertes Beispiel: Ein niedriges, einfaches und gerechteres Steuersystem.

Fünftens: Die Abschaffung der Bundesagentur für Arbeit.

[Doering (PDS): Genau!]

Weg von der staatlich-zentralistischen Arbeitsverwaltung, hin zur dezentralen und privaten Arbeitsvermittlung.

[Beifall bei der FDP]

[Doering (PDS): Richtig!]

[Doering (PDS): Diese Sorge teilen wir!]