Protokoll der Sitzung vom 11.11.2004

[Beifall bei der FDP, der SPD, der PDS und den Grünen]

Viele politische Verantwortungsträger haben diese Erkenntnis ignoriert. Ich beziehe das auf alle Parteien. Deshalb tritt erst im nächsten Jahr ein neues, modernes Zuwanderungsgesetz in Kraft. Gleiches gilt übrigens auch für das Staatsangehörigkeitsgesetz, das im Jahr 2000 das Ursprungsgesetz aus dem Jahr 1913 abgelöst hat. Auch hier wurden viele gesellschaftliche Entwicklungen schlicht verschlafen.

Ich hatte bereits in meiner Begründung erwähnt, dass das neue Zuwanderungsgesetz insgesamt ein guter Kompromiss ist, mit dem alle demokratischen Parteien gut leben können. Dabei muss gesehen werden, dass Zuwanderungs- und Staatsangehörigkeitsgesetz zwei Seiten einer Medaille darstellen. Die Steuerung der Zuwanderung ist eine einzigartige Zukunftsaufgabe, der wir uns alle nicht entziehen dürfen. Unabdingbar sind die Bausteine der stärkeren Ausrichtung der Zuwanderung am eigenen Interesse unseres Landes, die Wahrung der humanitären Verpflichtungen Deutschlands und der Verbesserung der Integrationsbemühungen. Auf den letzten Punkt gehe ich nachher noch gesondert ein.

Zuwanderung muss langfristig und vorausschauend aktiv gestaltet werden. Im Klartext heißt das: Ohne die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung in Deutschland und Berlin wird uns dies nicht gelingen. Die Politik darf sich hierbei nicht auf eine Beobachterrolle beschränken. Sie hat im Gegenteil die Pflicht, die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen, indem sie auch unbequeme Wahrheiten nicht verschweigt, tatsächlich bestehende Probleme und Sorgen ernst nimmt und Vorurteile abbaut.

Welches sind unsere Interessen an einem Zuwanderungsgesetz? – Zuwanderung kann das Wirtschaftswachstum und die Wohlstandsentwicklung in Berlin festigen und fördern, indem sie den in vielen Branchen bestehenden Arbeitskräftemangel ausgleicht.

[Beifall bei der FDP]

Zuwanderung verschärft das Arbeitslosenproblem nicht, sondern trägt zu einer Lösung bei – heute wie in der Zukunft. Wenn beispielsweise von unseren türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Rede ist, tritt zumeist die hohe Arbeitslosenquote oder der mangelnde Stand der Integration in den Vordergrund. Dabei wird immer wieder verkannt, dass es mittlerweile 6 000 türkische Betriebe gibt, die 27 000 Menschen beschäftigen und ca. 2,5 Milliarden     , + 

[Beifall bei der FDP und der PDS]

Meine Fraktion wollte aus diesem Grund einen deutschtürkischen Wirtschaftstag im Abgeordnetenhaus ins Le

Frau Sen Dr. Knake-Werner

ben rufen. Leider scheiterte dieser Vorschlag an der mangelnden Flexibilität der anderen Parteien.

[Mutlu (Grüne): Sie meinen den Präsidenten!]

Zuwanderung kann darüber hinaus helfen, das demographische Problem einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung zu lösen, indem sie den Alterungsprozess der Gesellschaft und damit die kommenden Belastungen für die sozialen Sicherungssysteme zumindest abmildert. Diesen Befund wird wohl niemand ernsthaft bestreiten.

Die verstärkte Zulassung von Zuwanderung aus wirtschaftlichem Eigeninteresse ist weder Grund noch darf sie Anlass sein, die Menschen aus dem Auge zu verlieren, die auf Schutz und Hilfe angewiesen sind. Dabei müssen Zuwanderung und Asyl strikt getrennt werden. Das wird zu einer weiteren Entlastung der Asylverfahren führen, weil sich ein Zuwanderungswilliger nicht in ein aussichtsloses Asylverfahren begeben wird.

Nicht ohne Grund hat die FDP-Fraktion die Überschrift der Großen Anfrage „Zuwanderungsgesetz und Integration“ genannt. Für uns Liberale ist die Integration der Schlüsselbegriff einer vernünftigen und vorausschauenden Zuwanderungspolitik.

[Beifall bei der FDP]

Für die aufnehmende Gesellschaft und für die Zuwanderer selbst ist es eine Herausforderung, die beiden Seiten viele Mühen und Anstrengungen abverlangt. Ziel einer erfolgreichen Integrationspolitik kann langfristig nur sein, zu einem selbstverständlichen Miteinander zu kommen. Für die Migrantinnen und Migranten bedeutet das aber auch, dass die Integrationsangebote angenommen werden und sie ihre eigene Integration unter Wahrung ihrer eigenen Identität in die Gesellschaft aktiv mit einbringen. Was für Hartz IV das Fördern und Fordern ist, gilt in gleicher Weise für das Zuwanderungsgesetz. Wir begrüßen es daher, dass das neue Recht einen Rechtsanspruch auf einen Integrationskurs für ausländische Neuzuwanderer aus Drittstaaten vorsieht, deren Aufenthalt auf Dauer angelegt ist. Umgekehrt begrüßen wir es ebenfalls, wenn eine Verpflichtung zur Teilnahme an Deutschkursen und Orientierungskursen über die bundesdeutsche Rechtsordnung besteht. Erfolgt eine ordnungsgemäße Teilnahme nicht, so ist dies bei der Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu berücksichtigen.

[Beifall bei der FDP]

Die Einführung des Anspruchsmodells einerseits und die aufenthaltsrechtliche Sanktionierung nicht ordnungsgemäßer Kursteilnahme bei Neuzuwanderern bezeichne ich als Fördern und Fordern. Wir wissen aus leidlicher Erfahrung: Wer die Sprache nicht spricht, hat grundsätzlich geringe Chancen, einen Arbeitsplatz zu bekommen. Wer keinen Arbeitsplatz bekommt, hat dementsprechend geringere Chancen, sich erfolgreich zu integrieren.

Dabei dürfen wir nicht den Fehler machen, zu meinen, mit dem neuen Zuwanderungsrecht sei die heile Welt ausgebrochen. Gerade die jüngsten Entwicklungen in

Holland verdeutlichen uns den mühevollen Prozess der Integration. Die niederländische Gesellschaft befindet sich nach den Morden an Pim Fortuyn und Theo van Gogh, die ihnen nun zum Teil den Spiegel einer naiven Sichtweise der Integrationspolitik vor Augen halten, in einem Umdenkungsprozess. Wir müssen deshalb in Zukunft Rückschritte immer einplanen.

Wir sollten das Zuwanderungsrecht ebenfalls zum Anlass nehmen, darüber nachzudenken, was mit den Menschen passiert, die schon lange in Berlin leben, aber nur geduldet sind. Ich finde es inhuman, Menschen so lange in einem ungewissen Stadium zu belassen. Viele sind schon längst integriert. Viele Kinder und Jugendliche befinden sich darunter. Sie müssen die Chance eines dauernden Bleiberechts erhalten. Wir brauchen eine unbürokratische Regelung zum Bleiberecht. Ich appelliere gerade an die CDU, ihren Einfluss auf der Bundesebene geltend zu machen, damit es schnell zu einer Lösung kommt.

[Beifall bei der FDP und der PDS – Beifall des Abg. Mutlu (Grüne)]

Nach meinem Kenntnisstand sind sich sonst alle anderen Parteien darüber einig.

Mit dem Zuwanderungsrecht verbinde ich ebenfalls die Hoffnung, dass die Ausländerbehörde zu einer Dienstleistungsbehörde umgewandelt wird. Jeder, der einmal diese Behörde hautnah erlebt hat, weiß, dass es angenehmere Orte in Berlin gibt. Die Ausländerbehörde darf keine negativen Schlagzeilen mehr machen.

[Beifall bei der PDS]

Ich habe so meine Zweifel, dass die Ausländerbehörde reibungslos die Zuweisung und Überwachung der Integrationskurse und vor allem die Zusammenarbeit mit den Agenturen für Arbeit bei den Niederlassungserlaubnissen bewältigen kann.

[Mutlu (Grüne): Nicht mit den Leuten da!]

Die Ausländerbehörde braucht dadurch wahrscheinlich in einer gewissen Zeit mehr Personal. Hartz IV hat jedoch gezeigt, dass der Stellenpool nicht funktioniert. Hier werden vielleicht ähnliche Probleme auf uns zukommen wie bei den Arbeitsgemeinschaften bzw. Jobcentern.

Ferner können wir es uns nicht leisten, neben der verfehlten Weiterbildungspolitik eine weitere Integrationsindustrie zu züchten, die wiederum von staatlichen Fördergeldern abhängig ist. Der Senat muss in diesem Zusammenhang darauf achten, Fehler der Vergangenheit zu unterlassen.

Die Integration von Migrantinnen und Migranten stellt für uns alle eine große Herausforderung dar. Integration ist aber mehr als ein Deutschkurs oder Orientierungskurs. Mit der Integration verbinde ich auch eine vernünftige Bildungspolitik und eine gute Wirtschaftspolitik. Vielleicht ist ein sicherer Arbeitsplatz sogar das beste Mittel, sich in eine Gesellschaft zu integrieren.

[Beifall bei der FDP – Beifall der Frau Abg. Simon (PDS)]

Wir dürfen allerdings keinesfalls den Fehler machen, Neuzuwanderer gegen die alteingesessenen Migrantinnen und Migranten auszuspielen. Der Senat muss diese Erkenntnis auch in den kommenden Haushalten zum Ausdruck bringen. – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP]

Danke schön! – Für die SPD-Fraktion hat nun der Abgeordnete Kleineidam das Wort. – Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man als Redner nach einigen Vorrednern spricht, ist man in der Gefahr, Wiederholungen zu begehen. Es ist bereits viel Richtiges zum Paradigmenwechsel gesagt worden, den dieses Gesetz darstellt. Ich will mich auf einen Satz beschränken: Die SPD-Fraktion begrüßt das Zustandekommen des Gesetzes. Wir hätten uns auch mehr gewünscht, aber wir sind in Deutschland einen entscheidenden Schritt weitergekommen, was die Migrationspolitik angeht.

[Beifall bei der SPD]

Wir haben mit diesem Gesetz den Grundstein für eine realitätsbezogene Migrationspolitik gelegt bekommen. Es gibt erstmalig eine gesetzliche Grundlage für Integrationskurse. Es gibt den gesetzlichen Auftrag zur Entwicklung eines Integrationsprogramms für die Bundesrepublik Deutschland. Das hatten wir so noch nicht.

Die FDP hat hier eine sehr ausführliche Große Anfrage mit 31 Fragen vorgelegt. Ich beschränke mich schlaglichtartig auf einige Aspekte, die mich etwas verwundert haben. Herr Kollege Lehmann, Sie haben eben noch einmal von der Integrationsindustrie gesprochen, die es zu verhindern gelte. Das ist mir nicht verständlich. Bisher habe ich die FDP in diesem Hause so verstanden, dass sie dafür geworben hat, Verwaltungstätigkeiten durch Private ausführen zu lassen, wo das sinnvoll ist. Nun plötzlich kommt die Frage: Wie will der Senat eine Integrationsindustrie, die von Mitteln der öffentlichen Hand abhängig ist, verhindern? – Dass es eine finanzielle Verpflichtung der öffentlichen Hand gibt, Integrationskurse zu garantieren, dürfte unstrittig sein. Warum sollen das nicht Private machen? – Das ist ein solcher Wechsel zu sonstigen FDPPositionen, den müssen Sie mir schon erklären.

Ich halte es auch für problematisch, von einer „Integrationsindustrie“ zu sprechen. Die Begriff „Industrie“ erweckt eher Assoziationen wie maschinelle Fertigung, unpersönliches Handeln und Kälte. Das ist ein Bild, das überhaupt nicht dem entspricht, was wir in Berlin haben. Wir haben zahlreiche Vereine und Institutionen, Gruppen und Einzelpersonen, die engagiert für die Integration in Berlin arbeiten. In diesem Zusammenhang möchte ich den Begriff „Industrie“ nicht gebraucht wissen. Das wird diesen Menschen nicht gerecht.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Ich teile ausdrücklich auch Ihre Einschätzung, Herr Kollege Lehmann, wenn Sie von der Aufnahmebereitschaft dieser Gesellschaft sprechen. So richtig es ist, dass wir jetzt eine gute gesetzliche Grundlage haben, so problematisch ist die gesellschaftspolitische Diskussion, die wir in den letzten Monaten erlebt haben. Sie haben selbst die bedauerlichen und schrecklichen Ereignisse in den Niederlanden angesprochen. Ich habe den Eindruck, der mich mit großer Sorge erfüllt, dass wir zunehmend eine öffentliche Diskussion bekommen, wo der Begriff Toleranz mit Naivität gleichgesetzt wird. Ich stehe dazu, Toleranz ist Grundlage für das friedliche Zusammenleben von Menschen. Dabei bleibe ich auch. Wer diese Toleranz als Naivität diskreditiert, der gefährdet die Integration in dieser Stadt. Das heißt nicht, dass ich alles akzeptiere. Natürlich müssen Probleme benannt und gelöst werden, wo es sie gibt. Wo Gewalttaten entstehen, muss der Staat ihnen mit aller Härte und Entschlossenheit entgegentreten. Aber wenn wir in der Integrationspolitik dem Begriff der Toleranz verlassen, dann fehlt das gesellschaftliche Klima, das wir brauchen, um die Möglichkeiten dieses Gesetzes auszunutzen.

[Beifall der Frau Abg. Radziwill (SPD)]

Wir müssen aufpassen, dass wir die Muslime in dieser Stadt nicht in eine Ecke stellen, wohin sie nicht gehören. Ich halte es für unerträglich, dass, wenn irgendwo auf dieser Welt ein terroristischer Anschlag passiert, alle in Berlin lebenden Muslime genötigt werden, sich davon zu distanzieren. Es ist auch noch niemand auf die Idee gekommen, die evangelische oder katholische Kirche aufzufordern, sich zu distanzieren, wenn in Nordirland schlimme Gewalttaten passiert sind. Da wird eine Verbindung hergestellt, die ich wirklich für unverantwortlich halte. Ich kann nur alle wichtigen Institutionen in diesem Land Berlin herzlich bitten, dabei mit der Wortwahl ganz vorsichtig zu sein.

[Beifall bei der SPD, der PDS und der FDP]

Eine letzte Bemerkung möchte ich noch einmal zu Ihrer Anfrage machen. Sie haben indirekt eine These aufgestellt, indem Sie gefragt haben, ob der real existierende Sozialstaat der letzten Jahre die wohlfahrtsstaatliche Einbettung, die ökonomische Integration von Zuwanderern erschwert haben kann. Das erscheint mir eine sehr problematische Frage zu sein. Gerade in Berlin, wo viele Migranten auf Grund der Lage am Arbeitsmarkt keine berufliche Tätigkeit aufnehmen durften – es war ihnen untersagt, Sie kennen alle die Probleme – wirkt eine solche These eher wie eine Verhöhnung der Menschen, als dass sie zur Problemlösung beiträgt. Wir müssen die Möglichkeiten dieses Gesetzes nutzen. Wir sind aber insgesamt als Politiker in dieser Stadt aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, dass sich das gesellschaftliche Klima in dieser Stadt dahin entwickelt, die Chancen dieses Gesetzes tatsächlich zu nutzen. Ich bitte Sie herzlich, die weiteren Diskussionen zur Umsetzung dieses Gesetzes in diesem Haus zu führen. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Danke schön! – Für die CDU-Fraktion hat das Wort der Abgeordnete Herr Wansner. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Senatorin! Wenn Sie in Ihrer Rede gemeint haben, dass Konservative in irgendeinem Bereich Menschen zur Anpassung in Deutschland drängen wollen, meinen Sie möglicherweise Ihre Partei. Wenn Sie meine Partei meinen, so wollen wir, dass Menschen ausländischer Herkunft in diesem Land mit ihrem Verstand leben, aber immer mit ihrem Herzen in ihrer Heimat bleiben. Nur so kann Integration gelingen.

Die Union wollte immer ein Zuwanderungsgesetz, das die Zuwanderung nach Deutschland im nationalen Interesse steuert und begrenzt. Dazu gehören Regelungen in den Bereichen Arbeitsmigration und Zuwanderung aus humanitären Gründen. Außerdem muss die Integration der hier lebenden Ausländer deutlich verbessert werden. Angesichts vielfältiger krimineller und terroristischer Bedrohungen müsste ein Zuwanderungsgesetz darüber hinaus, Herr Innensenator, Deutschland sicherer machen. Die jetzt getroffenen politischen Abmachungen zeigen, dass die jahrelange Arbeit und unser zähes Verhandeln von der CDU/CSU im Bundesrat und Bundestag richtig waren.