Protokoll der Sitzung vom 07.03.2002

Stattdessen kamen viele allgemeine Beschwörungsformeln – als wäre hier ein Guru des positiven Denkens am Werk. Ich rufe einige in Erinnerung, Herr Böger, damit auch durch Sie ein Ruck geht:

Mit Mut für Berlin. Wir werden es schaffen. Wir werden es schaffen, wenn wir es schaffen wollen. Viele müssen mitmachen. Hauptstadt ist ein Auftrag. Jammern hilft nicht weiter.

Und so weiter und so fort.

Was die Bürgerinnen und Bürger wissen wollen, worauf sie einen Anspruch haben, das sind klare, nachprüfbare Ziel – sowohl die Ziele des Regierens als auch die Wege dorthin. Diese müssen erkennbar sein und ausformuliert werden.

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Vor allen Dingen müssen Worte und Taten übereinstimmen. Zum Beispiel bei der Priorität bei der Bildung. Es geht nicht, dass ich in eine Regierungserklärung schreibe:

Ich stehe zum hochwertigen Kita- und Schulangebot und der überragenden Rolle von Wissenschaft und Forschung.

und gleichzeitig auch über diese Bereiche mit der Planierraupe der pauschalen Haushaltskürzungen hinweggehe. Das geht nicht. Die Menschen in dieser Stadt, die schulpflichtige Kinder haben, wissen, wie die Schulsituation ist. Dann können Sie über die Ausführung „Stadt des Wissens“ tatsächlich nur in ein Hohngelächter ausbrechen. Mehr als 90 Prozent sind laut Allensbach unzufrieden mit der Situation in der Berliner Schule. Das bedeutet leider auch im Ländervergleich den letzten Platz. Was soll denn dann ein solch hohles Bekenntnis?

Was soll die Erklärungen in Wowereits Rede zur Kulturmetropole oder zum Modernisierungsbedarf der Justiz – das war alles enthalten –, wenn gleichzeitig die Streichungsbefehle des Finanzsenators in den Ressorts eingehen? Erst die Wahlversprechen, dann die Koalitionsvereinbarung und jetzt die Regierungserklärung? Nichts ist das Papier wert, auf dem es gedruckt und geschrieben wurde. Dies nennen wir eine Dreistigkeit ohne Beispiel.

[Beifall bei den Grünen und der CDU]

Bleiben wir bei der Bildung, weil sie tatsächlich prioritär ist und weil die PISA-Studie das deutlich gemacht hat. Insbesondere im Elemantar- und Grundschulbereich sind Verbesserungen dringend notwendig. Die Leistungen reichen weltweit nur ins letzte Drittel. Das wissen wir. Bei einem Viertel fehlen selbst die Mindestvoraussetzungen, um chancenreich um einen Ausbildungsplatz ins Rennen zu gehen. Am alarmierendsten ist allerdings, dass die Bundesrepublik – wie kein anderes vergleichbares Land – in der Schere zwischen sozialer Herkunft und Leistungen dermaßen auseinander geht. Die viel beschworene Chancengleichheit – Herr Müller, Sie sagten es – existiert für viele real nicht. Dem muss man sich bei uns leider stellen.

Wir sagen natürlich auch, dass die Bildung in der Kita beginnt – wo denn sonst? Deswegen sind die Kürzungen, die Rot-Rot in diesem Bereich vornehmen will, nicht zu verantworten. Wenn Sie den Betreuungsschlüssel von 16 auf 21 Kinder erhöhen, wenn Sie die Entlastung für Leitungstätigkeit um 40 Prozent absenken, dann ist das das Gegenteil der versprochenen Stärkung der Kita als Bildungseinrichtung. Dann haben Sie genervte Erzieherinnen und Erzieher, die schon in dieser ersten, für die Bildung prägenden Phase überfordert sind und bei dieser bedeutenden Weichenstellung versagen müssen. Hier fordern wir Sie auf: Kommen Sie zu einer Kurskorrektur! Machen Sie diesen Plan rückgängig!

[Beifall bei den Grünen]

Im Bereich der Schule hat man sich um die Frage der Werteerziehung herumgedrückt. Herr Müller, Sie haben es angesprochen. In der Regierungserklärung hörten wir es nicht – und das in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft.

Etlichen Privatschulen will man den Todesstoß mit der Kürzung der Zuschüsse versetzen. Das, Herr Kollege Wolf, zu dem bürgerschaftlichen Engagement, das Sie hier so sehr beschworen und lautstark eingefordert haben. Hier wird bürgerliches Engagement geradezu bestraft.

[Beifall bei den Grünen und der CDU]

Man wollte die Waldorfschulen ausnehmen, ohne begründen zu können, warum gerade sie. Bei dieser Art der Kürzung ist eine soziale Entmischung bei der weiteren Erhöhung des Schulgelds geradezu zwangsläufig. Dass wissen Sie. Das wollen Sie. Dennoch wollen Sie diesen verhängnisvollen Kurs fortsetzen. Wir fordern Sie erneut auf: Machen Sie – wie bei Benjamin Franklin – einen Rückzieher! Kommen Sie zur Vernunft!

[Beifall bei den Grünen, der CDU und der FDP]

Unsere Antwort auf die PISA-Studie ist unter anderem: von Anfang an gezielter lernen, die Schulen ganztags öffnen, länger gemeinsam lernen, mehr Leistung durch Fördern statt Aussortie

ren, mehr Selbständigkeit und Verantwortung. Dazu bringen wir heute auch eine Menge an Anträgen und Einzelvorschlägen ein, weil es für uns nicht nur ein Wahlversprechen war. Wir wollen, dass die Priorität für die Bildung auch Realität wird.

[Beifall bei den Grünen]

In diesen Bereich der Bildung gehören selbstverständlich auch die Hochschulen. Klaus Wowereit sagt, wie positiv dieser Prozess mit dem Universitätsklinikum Benjamin Franklin abgelaufen sei. Das stellt er in seiner Regierungserklärung heraus: Nunmehr wird ein Expertengremium tagen. –

[Beifall des Abg. Benneter (SPD)]

Als ob ihm das nicht regelrecht aus den Rippen hätte geschnitten werden müssen – Herr Kollege Benneter, auch Sie erinnern sich daran –, was nunmehr als Erfolg des Dialoges mit allen Beteiligten in der Stadt, den man ja will, herangefahren wird. Das ist ja wohl ein Hohn. Dieser Dialog musste Ihnen mühsam – und nicht hier von uns, sondern primär von der Bevölkerung mit Unterschriftensammlungen – geradezu abgetrotzt werden.

[Beifall bei den Grünen, der CDU und der FDP]

Herr Kollege Gysi! Sie haben noch im Sommer auf eine Nachfrage gesagt – ich kann mich daran erinnern –, man müsse draufsatteln bei der Bildung. – Ja, jetzt nicken Sie! Aber in allen Bereichen wird abgesenkt. Sie haben noch im Dezember in einem Interview gesagt: Bildung verteidige ich. Da werde ich relativ hart bleiben. – Nunmehr sollen auch die Hochschulen weitere Millionen zusätzlich zu der Hochschulmedizin einsparen. Es geht an die Kofinanzierung heran, und der zuständige Senator stellt sich hin und sagt, er sei schon glücklich, wenn er nur zum halben Prozentsatz kürzen müsse. So stellen wir uns wahrhaft nicht einen Kämpfer für Wissenschaft und Kultur vor. Er macht ja auch nun gerade hier seinen Abgang.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der CDU und der FDP]

Ein Wort zur Absenkung des Kulturplafonds: Dies sollte nicht geschehen. Die Mittel des „Theaters des Westens“ sollten dort eingestellt werden. So war es vereinbart, und so sollte es sein. Auch davon hört man heute nichts mehr.

Zu allem Überfluss hat der Regierende Bürgermeister nun auch noch die Debatte über die Finanzierung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz aufgemacht. Dies war in der Wirkung geradezu eine Einladung an andere Bundesländer – und wurde auch so aufgefasst –, dort auszusteigen. Statt das Verhältnis zum Bund in Gesprächen und ernsthaften, glaubwürdigen Verhandlungen konstruktiv zu gestalten, geht man auf den Marktplatz und schießt ein klassisches Eigentor. Das ist im Grunde unfassbar.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der CDU und der FDP]

Wir haben nie in Abrede gestellt, dass die Haushaltssituation Berlins katastrophal ist. Das haben wir schon im letzten Sommer gesagt. Wir haben gesagt: Man muss den Gang nach Karlsruhe antreten, man muss ihn jedenfalls androhen. – Aber das wollten andere zu der Zeit überhaupt nicht hören. Wenn das nun gesagt wird und endlich das Jahr 2009 verschwunden ist, in dem man Ausgaben und Einnahmen zur Deckung gebracht haben will, dann waren möglicherweise etliche Brüllereien meines Kollegen Eßer in den Vereinbarungen über die „Ampel“ doch nicht völlig umsonst.

[Heiterkeit bei den Grünen]

Dann sehen wir auch noch – und haben es mit Vergnügen gelesen –, dass man endlich nicht mehr sagt, man müsse zunächst mal den Beschäftigten mit der Peitsche der betriebsbedingten Kündigung drohen und dann werde man sie möglicherweise gefügig haben für Gespräche und einen Solidarpakt. Auch hier hat man in der Regierungserklärung die Formulierung genommen, „um die Kündigungen zu verhindern“. Lange, Herr Kollege Strieder, haben wir darum gerungen, und Sie wollten immer noch den Satz anfügen: Aber dann kommt die betriebsbe

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dingte Kündigung. – Wir können uns erinnern. Wenn Sie insoweit wenigstens lernfähig waren, dann freuen wir uns doch mal. Aber es war ein weiter und langer Weg, bis es endlich einigermaßen sozialverträglich dort steht.

[Beifall bei den Grünen]

Das Angehen der 2-Milliarden-Deckungslücke, Harald Wolf: Dem muss sich jeder stellen. Das ist gar keine Frage. Aber von einer Regierung und von einer Regierungserklärung erwarten wird, dass sie aufgabenkritisch definiert, wo diese Summen zu erbringen sind, dass sie die Umsetzung zeigt, dass sie analysiert, welche Bereiche zu bewahren und welche zu beschneiden sind, und dass sie definiert, worauf der Bürger noch Anspruch haben soll und worauf nicht. Das ist die Erwartung, die wir haben.

[Wolf, Harald (PDS): Das kommt in den Haushaltsdebatten!]

Nach langen Jahren der Diskussion über die Interdependenz zwischen Aufgabenkritik, Verwaltungsmodernisierung und Haushaltssanierung haben wir jetzt wieder ein Sparen und Vorgehen mit dem Rasenmäher. Das ist nach so langer Diskussion und nach so vielen guten Worten darüber, was man sich alles vorgenommen hat, ein Armutszeugnis. Das ist mehr als deprimierend.

[Beifall bei den Grünen]

Die Instanz, wo diese Verzahnung vorgenommen wird, ist die Verwaltungsreform. Bei diesem Senat weiß man heute noch nicht einmal mehr, wer sie eigentlich macht. Herr Dr. Zotl, Sie nicken! Man weiß es wirklich nicht. Da sollte ein Tandem aus der Finanzverwaltung mit Herrn Sarrazin und aus der Senatskanzlei mit dem Regierenden Bürgermeister gebildet werden. Den interessiert dieser Prozess nun nicht die Bohne. Niemand setzt sich nach vorn auf diesem Tandem. Niemand will steuern. Den Senatsbeauftragten versucht man gerade aus dem Land zu mobben, indem man ihm vorschlägt, eine Art Referatsleiter in der Finanzverwaltung zu werden – so der Vorschlag. Da wird er sich aber bedanken. Niemand steuert diesen Prozess. Niemand ist bereit, in die Pedale zu treten. Und ein Tandem, bei dem weder getreten noch gesteuert wird, kippt entweder um oder fährt gegen die Wand. Das ist das traurige Ende des Prozesses der Verwaltungsreform in diesem Land.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Es ist hier schon eine Menge zu den deplazierten Äußerungen – „Selbstbedienungsladen“, „übel riechende Beamte“ – gesagt worden. Was noch nicht gesagt wurde, ist das Neue bei diesem Senat: Das Aussperren von 23 jungen Menschen vom öffentlichen Dienst, wie ich es von Rot-Rot nun wahrlich nicht erwartet hätte. Beim Neujahrsempfang der PDS-Fraktion – ich hatte die Ehre eingeladen zu sein und dort zuzuhören – sagte Walter Jens, dieses Zusammengehen von PDS und SPD gebe die Chance, dass sie den Zentralbegriffen „Sozialismus“ und „Demokratie“ neue Perspektiven eröffnen könnten.

[Vereinzelter Beifall bei der PDS – Heiterkeit bei den Grünen, der CDU und der FDP]

Das ist nun eine höchst eigenwillige Sozialismusinterpretation, wenn ich mich hinstelle und sage – wie es der Finanzsenator tut: Ich stelle höchstens noch Lehrer und Polizisten ein und sonst niemand. Und auch die stelle ich nur ein bei Wohlverhalten. Ansonsten ist Ende der Fahnenstange. – Ansonsten – so der Innensenator – sind sie ja nun gewarnt, wissen, was auf sie zukommt und welchen Dienstherrn sie haben, und können entweder ihre Ausbildung abbrechen oder sonstwas tun. – Dies ist unglaublich! Bei jedem Betrieb, der so etwas täte, ginge Gregor Gysi mit viel Tamtam vor das Werkstor und ließe sich dort als Vertreter und als Rächer der Azubis und Anwärter feiern. Diesmal sperrt er selber aus. Dies ist eine Schande.

[Beifall bei den Grünen und der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Es war nicht nur die frühere Staatssekretärin Frau Koller, die hier Zusagen gemacht hat, sondern der Innensenator selber hat am 18. Januar dieses Jahres dem Hauptpersonal das Folgende

wörtlich gesagt – laut Protokoll, wobei es inzwischen sogar Streit geben soll, ob in der Innenverwaltung unterzeichnete Protokolle noch Gültigkeit haben: „Bei den 23 Sekretär-Anwärterinnen und -Anwärtern, die Ende Februar ihre Prüfung abschließen, werde davon ausgegangen, dass sie von der Innenverwaltung zu Regierungssekretärinnen und -sekretären zur Anstellung ernannt und somit in den Landesdienst übernommen würden.“ – Das noch Mitte Januar. Dann bekamen sie einen Handschlag für die bestandene Prüfung, wurden zum Amtsarzt geschickt und danach auf die Straße und zum Sozialamt. So untergräbt man das Vertrauen junger Menschen in unser Gemeinwesen. So verspielt man aber auch gegenüber der Personalvertretung jeden Restkredit an Glaubwürdigkeit. Das sind wahrlich miserable Ausgangsbedingungen für den Solidarpakt und für das Bündnis, das Sie mit schönen Worten beschrieben haben.

[Beifall bei den Grünen und der CDU – Beifall des Abg. Dr. Jungnickel (FDP)]