Protokoll der Sitzung vom 10.02.2005

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 63. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, unsere Gäste auf den Zuschauertribünen, unsere Zuhörer sowie die Medienvertreter recht herzlich.

Zu Beginn habe ich Geschäftliches mitzuteilen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zieht folgende Anträge zurück: „Haushaltskonsolidierung durch Beschäftigungsangebote für Sozialhilfeempfängerinnen“ – Drucksache 15/300 – sowie „Beschäftigung von Sozialhilfeempfangenden verbessern“ – Drucksache 15/301 –. Die Fraktion der FPD erklärt ihren Antrag „Erstellung eines Gutachtens zur Feststellung von Wert und Risiko der Bankgesellschaft durch unabhängige Sachverständige“ – Drucksache 15/1638 – für erledigt.

Am Montag sind vier Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:

1. Antrag der Fraktion der SPD und der PDS zum Thema: „Gemeinsam gegen Rechtsextremismus – Politik und Gesellschaft sind gefordert“,

2. Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Der soziale Niedergang ganzer Bevölkerungsteile durch die Rekordarbeitslosigkeit, aber keine wirtschaftlichen Perspektiven durch den Senat“,

3. Antrag der Fraktion der Grünen zum Thema: „BVG auf umwelt- und sozialpolitischer Geisterfahrt: ständig steigende Fahrpreise, reduzierte Fahrleistung, aber Spitzengehälter für die Chefetage“,

4. Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „Rot-rotgrüne Bankrotteure in Senat und Bundesregierung: Nachkriegsrekord an Arbeitslosigkeit und Verschuldung in Berlin und Deutschland!“.

Im Ältestenrat konnten wir uns auf ein gemeinsames Thema nicht verständigen. Ich rufe daher zur Begründung der Aktualität auf und gebe bekannt, dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf ihre Begründung verzichtet. Sie zieht ihren Antrag zurück und spricht sich für das Thema von SPD und PDS aus. Für die Regierungsfraktionen hat Frau Abgeordnete Seelig von der Fraktion der PDS das Wort. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist nicht wünschenswert, dass das Thema Rechtsextremismus lediglich von drei Parteien als das aktuelle für unser Parlament angesehen wird. Es geht nicht um einen allgemeinen Austausch von Befindlichkeiten oder Belanglosigkeiten, sondern um ein deutliches Signal dieses Hauses, dass wir uns allem entgegenstellen, was den Schrecken des Nationalsozialismus verharmlost, revisionistisch relativiert oder sogar Naziideologien verherrlicht.

[Beifall bei der PDS, der SPD und den Grünen]

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Und wir wollen auch darum ringen, ob nicht eine Gemeinsamkeit aller Demokraten möglich ist, noch einmal zu bekräftigen, dass die fabrikmäßige Ermordung der Juden Europas ein so singuläres Ereignis gewesen ist, dass sich jede, aber auch wirklich jede Art von Relativierung und auch nur der Anschein von Leidensaufrechnung von selbst verbieten. Leider ist auch das aktuell.

Ich hätte mir ein Votum aller für diese Aktuelle Stunde gewünscht, aber ich hoffe, dass die Debatte letztlich dazu führt, zu erkennen, dass alle wichtigen Themen, die uns in dieser Stadt umtreiben, nicht nichts sind, aber dort in den Hintergrund treten, wo die Gesellschaft – wenn auch von einer Minderheit – in ihrem Grundkonsens angegriffen wird, dem Grundkonsens, der da heißt: Nie wieder!

[Beifall bei der SPD und der PDS – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Für die CDU-Fraktion übernimmt die Begründung der Abgeordnete Wegner. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der 2. Februar dieses Jahres war ein schwarzer Tag für Deutschland. In der Geschichte un

Tag für Tag brechen 1 000 Jobs in Deutschland weg, gehen 100 Betriebe in die Insolvenz – schlimm für die Betroffenen, aber auch schlimm für die Haushalte: Steu

ern fehlen, die Sozialkassen sind leer. Es ist ein Teufelskreis, der uns alle nur zu einem Ergebnis zwingen kann: Konsequent alle Möglichkeiten für die Schaffung von Arbeitsplätzen nutzen. Hoffen auf den von Schröder und Clement versprochenen Aufschwung hilft nicht.

Anstatt eine aktive Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik zu betreiben, verwaltet der Senat nur noch die Arbeitslosigkeit. Jüngstes Beispiel für die desaströse Lage waren die Meldungen über die Standortaufgabe der KindlBrauerei und des Halbleiterherstellers Infineon. Hinzu kommt der Stellenabbau bei Foto-Wegert und Siemens.

Was nun hat der Senat unternommen? – Eine aktive Wirtschaftspolitik ist nicht erkennbar, und nur zuhören, Herr Wirtschaftssenator, reicht eben leider nicht aus. Dass man es besser machen kann, zeigen andere Bundesländer. Bleiben wir ruhig in den neuen Ländern und schauen uns Sachsen an. Sachsen war 2004 zum zweiten Mal hintereinander das wachstumsstärkste Bundesland. Das Bruttoinlandsprodukt stieg um 2,3 % gegenüber dem Vorjahr. Bundesweit stieg das Bruttoinlandsprodukt um 1,7 %. Das ist natürlich nicht ausreichend und auch viel zu wenig, aber Berlin hat es tatsächlich geschafft, Mecklenburg-Vorpommern abzulösen, und belegt nunmehr den letzten Platz des Wachstumsrankings in ganz Deutschland.

seres Landes musste noch nie eine Arbeitslosenzahl in einer so dramatischen Höhe verkündet werden. 5 Millionen Menschen sind in Deutschland offiziell ohne eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Das sind 5 Millionen Menschen und Familien, die es zum Teil schwer haben, ihre Kinder wohl behütet aufwachsen zu sehen, ältere Menschen ohne ein gesundes Selbstwertgefühl, weil sie sich nicht mehr gebraucht fühlen, junge Menschen, die den Sinn in dem, was von ihnen erwartet wird, nämlich Leistungsbereitschaft und Engagement, nicht sehen. Das sind Menschen, denen jede Perspektive fehlt und die zu einem großen Teil ohne jede Hoffnung auf den Hauch eine Chance sind.

Über 327 000 Menschen davon leben in Berlin. Der Arbeitssenator Wolf verkündete Anfang Februar die höchste Arbeitslosenquote seit der Wiedervereinigung in Höhe von 19,4 % für unsere Stadt. Für uns sind das 327 000 sehr gute und überzeugende Gründe für die Durchführung einer Aktuellen Stunde zum Thema „Rekordarbeitslosigkeit“ und um über die fehlenden Perspektiven seitens des rot-roten Senats zu sprechen.

[Beifall bei der CDU]

Herr Senator, wenn Sie sagen, diese Januarstatistik ist zwar alarmierend, aber auch ehrlich, dann klingt das wie eine Entschuldigung. Eine Entschuldigung hilft den Arbeitssuchenden aber nicht weiter. Die vielen Menschen wollen von uns eine Perspektive. Sie wollen einen Ausweg aus der Verzweifelung und der Hoffnungslosigkeit. Deshalb müssen wir hier reden, diskutieren, auch streiten und zu einem Ergebnis kommen, um dann unmittelbar im Anschluss zu handeln.

Ist Ihnen bewusst, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass Berlin, diese wunderbare, hoffnungsvolle, schrille und imposante Stadt, viele Menschen, die die Stadt zu dem machen, was sie ist, verschenkt? – 60 000 Familien haben in den letzten Jahren das Glück in einer anderen Umgebung gesucht. Der Familienatlas 2005, den die „Zeit“ und das Bundesfamilienministerium in Auftrag gegeben hatten, führte auch in der Begründung an, dass die hohe Arbeitslosigkeit ein Grund ist. Eine solche Entwicklung ist Besorgnis erregend. Wenn es auch für manche seinen Reiz haben mag, in einer Stadt von Singles zu leben, machen doch gerade Familien mit Kindern einen gewichtigen Teil einer abwechslungsreichen und lebenswerten Metropole aus.

[Beifall bei der CDU – Beifall des Abg. Lehmann (FDP)]

Wir haben keine Zeit mehr. Wir müssen gewiss darüber diskutieren, wie Politik, wie Gesellschaft den leider existenten Rechtsextremismus begegnen. Das ist keine Frage. Aber lassen Sie uns nicht den zweiten vor dem ersten Schritt machen. Dabei kommt man allzu schnell ins Stolpern.

Es ist ja richtig, Herr Wirtschaftssenator: Die rot-grüne Bundesregierung ist mit ihrer Arbeitsmarktpolitik gescheitert. Aber sämtliche Verantwortung auf andere abzuschieben, ohne selbst zu handeln, ist auch nicht besser.

[Beifall bei der CDU]

In unserer Stadt stieg die Wirtschaftsleistung um gerade einmal 0,4 %. Selbst den Schnitt der neuen Länder zieht Berlin mit nach unten. Herr Wirtschaftssenator, reißen Sie endlich das Steuer herum. Im Fokus der Politik muss an erster Stelle die Schaffung von Arbeitsplätzen stehen.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Nur durch mehr Arbeit werden wir den Menschen eine Perspektive und wieder Hoffnung geben können, und das muss die erste Aufgabe der Politik sein. – Herzlichen Dank!

[Beifall bei der CDU]

Danke schön! – Für die FDP begründet das Thema für die Aktuelle Stunde der Abgeordnete Herr Lindner. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren! 5 Millionen Arbeitslose in Deutschland, 650 000 Arbeitslose in Berlin, das allein müsste jedem von uns Anlass sein, hier aktuell darüber zu diskutieren. Dass Sie dies nicht machen wollen, liegt vielleicht daran, dass wir im Unterschied zum Ende der 20er Jahre keine endlosen Schlangen vor Suppenküchen haben, keinen Geruch von Revolution, keine Massenflucht zu radi

Der eine populistisch, der andere unseriös! – Und was macht der rot-rote Senat? – Herr Wolf schläft, und wenn er nicht schläft, schläfert er andere mit seinen Reden ein.

Das haben neulich Frau Paus und ich wieder genießen dürfen. Wowereit schläft auch, und zwar vor allem nachts jetzt wesentlich länger, wie wir lesen dürfen. Früher war er wenigstens nachts aktiv.

Herr Abgeordneter! Ich weise noch einmal darauf hin: Es ist zwar sehr belustigend, die Schlafgewohnheiten – –

kalen Kräften – das muss man im Übrigen auch in Bayern zur Kenntnis nehmen.

Der Grund dafür liegt in einem gewaltigen Sozialstaat und in der Schwarzarbeit, die die Folgen dieser Massenarbeitslosigkeit abfedern – das Schwarzarbeitsvolumen beträgt 370 Milliarden €. Die Folgen davon sind allerdings nicht minder: Hohe Kosten des Sozialstaates, entgangene Steuern und Abgaben verhindern Investitionen in die Zukunft, verhindern Investitionen vor allem in Bildung und Infrastruktur – ein Teufelskreis, eine Abwärtsspirale wird dabei in Gang gesetzt. Wir sind gefordert, dem Einhalt zu gebieten und darüber aktuell zu diskutieren, welche Maßnahmen erforderlich sind. Vor allem ist wichtig: mutiges Anpacken.

[Beifall bei der FDP]

Was macht die rot-grüne Bundesregierung, was macht der rot-rote Senat? – Als Erstes wird die Deutsche Bank beschimpft. Frau Ypsilanti ruft zu einem Boykott der Deutschen Bank auf. Da werden sich die Mitarbeiter der Deutschen Bank herzlich bei der SPD bedanken. Der große Generalsekretär der SPD hält die Deutsche Bank für „undeutsch“. Ich glaube, es wäre besser gewesen, ihr hättet ihn hier in der fünften Reihe behalten, dann wäre seine Unfähigkeit nur uns und nicht auch national bekannt geworden.

[Beifall bei der FDP und der CDU]

Wann begreifen Sie endlich, dass es nicht eine Frage der nationalen Gesinnung ist, wenn investiert wird, oder nicht davon abhängig ist, welchen Namen ein Unternehmen hat oder wo der Sitz der Gesellschaft ist? – Maßgebend ist – ganz unabhängig vom Namen, von der Nationalität des Vorstandsvorsitzenden –, ob man Gewinn und vor allem, wo man Gewinn machen kann. Da ist es Tatsache, dass eine Reihe von großen Unternehmen, die in Deutschland sitzen, ihren Gewinn im Ausland machen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie die Gewinne wieder in Deutschland machen können, vor allem auch in Berlin machen können. Dann investieren sie auch, und dann entstehen auch wieder Arbeitsplätze.

[Beifall bei der FDP]

Dann gibt es noch Herrn Clement. Herr Clement setzt sich zu Frau Christiansen und unterbreitet völlig unausgegorene Vorschläge zur Unternehmensbesteuerung, teilweise völlig vernünftige: Gewerbesteuerabschaffung, Unternehmensbesteuerung auf 25 % absenken. Das sind alles alte FDP-Forderungen. Aber in seiner eigenen Partei und bei seinem eigenen Koalitionspartner findet sich nicht ein Hauch von Abgestimmtheit oder Zustimmung. Es ist alles dementiert worden: Das ist unseriös. Der eine ist populistisch – –

Herr Abgeordneter, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie nicht zur Aktualität reden.

Danke! Ich rede zur Aktualität – genauso wie der Kollege vor mir. – Herzlichen Dank!

[Heiterkeit bei der SPD und der PDS]