Protokoll der Sitzung vom 15.09.2005

[Over (Linkspartei.PDS): Aber mit 16 Jahren in Abschiebehaft!]

Ich frage Sie daher: Welche objektiven Anknüpfungspunkte oder Erkenntnisse liegen Ihnen vor, die es rechtfertigen würden, bei den Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen von den anderen gesetzlichen Regelungen abzuweichen?

[Hoff (Linkspartei.PDS): Hat Herr Zotl doch gerade erzählt!]

Ich unterstelle Ihnen, Sie haben sich überhaupt keine Gedanken gemacht – bestenfalls. Oder Sie verhalten sich so, wie man es von schwachen Politikern in den modernen Demokratien erwartet – gefällig. Die CDU-Fraktion und ich wollen zwischen Gefälligkeiten einerseits und Rechten und Pflichten andererseits unterscheiden.

Mit dieser Verfassungsänderung wird der rot-rote Senat auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich um die Jugendlichen dieser Stadt nicht gekümmert hat und gerade in diesem Bereich Streichungen vorgenommen hat – allein seit dem Jahre 2001 in einer Größenordnung von mindestens 161 Millionen €. Sprechen Sie mit den sportinteressierten Jugendlichen, arbeitslosen Jugendlichen, Schülern, Auszubildenden. Die haben andere Sorgen, sie haben andere Probleme als die, die Sie per Wahlrechtsänderung zu lösen glauben.

[Doering (Linkspartei.PDS): Ja, dann sollen sie mitreden dürfen!]

Übrigens: Über das Ergebnis bei den Jugendlichen mache ich mir keine Gedanken.

[Doering (Linkspartei.PDS): Das stimmt!]

Die Junge Union ist seit mehr als 30 Jahren die mit Abstand stärkste Jugendorganisation in unserem Land. Darunter sind im Übrigen gerade viele Kinder von AltGrünen, Alt-Linken, Alt-68ern.

[Zurufe der Abgn. Brauer (Linkspartei.PDS) und Krüger (Linkspartei.PDS)]

Ich schließe daraus, dass viele davon – jedenfalls politisch – auf ihre eigenen Kinder abschreckend gewirkt haben müssen. Das wiederum verstehen wir nur zu gut.

[Beifall bei der CDU]

Vielen Dank, Herr Kollege Braun! – Es folgt die Fraktion der SPD, und der Herr Kollege Zimmermann hat das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist seit jeher Ziel der Sozialdemokratischen Partei, politische Teilhaberechte auszubauen. Was wir heute machen, ist ein weiterer Schritt zur Verstärkung der politischen Teilhabe in der Gesellschaft.

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS]

Wir haben in diesem Jahr – Herr Zotl hat darauf hingewiesen – bereits die Mitwirkungsrechte auf der Bezirksebene ausgebaut, indem wir Volksbegehren, Volksentscheid und andere Instrumente eingeführt haben. Heute unternehmen wir den nächsten Schritt und senken das Wahlalter für die Bezirksverordnetenversammlungen auf 16 Jahre, weil wir wollen, dass die Jugendlichen in Berlin mehr politische Rechte erhalten. Es geht darum, die Rolle der Jugendlichen als Mitgestalter in der Gesellschaft zu stärken. Schon die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 hat mehr Partizipation von Kindern und Jugendlichen in der Gesellschaft gefordert. Die Demokratie darf sie nicht ausschließen. Vielmehr müssen wir mehr tun, um sie an staatsbürgerliche Rechte und Pflichten im demokratischen Staat heranzuführen.

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS]

Die Shell-Studie von 2002 hat festgestellt, dass im Verlauf von 10 Jahren das Interesse von Jugendlichen an politischen Fragen rapide gesunken ist, und zwar von 57 % in 1991 auf 34 % im Jahre 2002. Dies drückt sich auch in einer sinkenden Wahlbeteiligung von Erstwählerinnen und Erstwählern aus. Das aktive Wahlrecht ab dem Alter von 16 Jahren ist ein Mittel neben anderen, um die Jugendlichen zu motivieren, sich zu engagieren und ihre Belange zu vertreten. Wir wollen, dass Jugendliche ihre Interessen stärker als bisher in die Politik einbringen können.

[Beifall bei der SPD, der Linkspartei.PDS und den Grünen]

Wir freuen uns auch, dass wir gemeinsam mit der Linkspartei.PDS, den Grünen und der FDP die nötige Zweidrittelmehrheit für die Verfassungsänderung erreicht haben. Wir hätten auch gern die CDU mit im Boot gehabt, aber wir haben ja eben noch mal gehört, dass ganz prinzipielle Erwägungen bei der CDU dagegen gesprochen haben.

Ich will auf eines der von Ihnen vorgetragenen Argument eingehen, nämlich die Koppelung des Wahlrechts an die Volljährigkeit. Dieses Argument, dass nur wählen darf, wer volljährig ist, überzeugt uns überhaupt nicht. Bereits im Jahr 1970 hat die sozialliberale Koalition im Bund das Wahlalter von 21 auf 18 Jahren herabgesenkt. Volljährig wurde man erst mit 21 Jahren. Die Herabsenkung des Volljährigkeitsalters auf 18 kam erst 1975. Schon damals hat der Bundestag dieses Junktim verneint. Volljährigkeit und Wahlmündigkeit fielen über fünf Jahre lang auseinander. Meines Wissens hat niemand daran Schaden genommen, ganz im Gegenteil: Es war die notwendige Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen hin zu einer selbständigeren und selbstbewussten Jugend. 35 Jahre danach stellen wir fest, dass die Entwicklung nicht stehen geblieben ist. Die Generation der jetzt 16- und 17-Jährigen ist erneut weiter als ihre Elterngeneration im selben Alter war. Bereits 1996 schrieb die „Zeit“: „Jugendliche werden heute zwei Jahre früher erwachsen.“ Vielleicht war das tatsächlich 1996 schon so, aber ganz

sicher ist es zehn Jahre später, 2005, angesichts einer Entwicklung im Kommunikationsbereich, angesichts der digitalen Revolution, angesichts der Tatsache, dass die meisten Jugendlichen mit Computer und Internet aufgewachsen sind, so. Es gibt viele Beispiele, die in Studien festgehalten wurden, die belegen, dass die Jugendlichen heute ein ganz anderes Kommunikationsverhalten an den Tag legen, als es vielleicht vor 15 oder 20 Jahren der Fall war. Deswegen meinen wir, dass es jetzt an der Zeit ist, diesen Schritt zu gehen.

Nun werden auch wir nicht glauben, dass diese Entwicklung immer so weiter geht, wir werden sicherlich in Zukunft nicht „Wahlalter Null“ fordern, das kann ich schon versichern, aber wir müssen damals wie heute auf gesellschaftliche Realitäten reagieren, wie es übrigens auch schon andere Bundesländer getan haben. Ich erinnere an Nordrhein-Westfalen, an Sachsen-Anhalt, an Niedersachsen, an Mecklenburg-Vorpommern. Wir befinden uns da in guter Gesellschaft. Ich bin sicher, dass dies nicht der letzte Schritt sein wird, die politischen Teilhaberechte in dieser Stadt auszubauen. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD, der Linkspartei.PDS, den Grünen und der FDP]

Danke schön, Herr Kollege Zimmermann! – Für Bündnis 90/Die Grünen erhält Frau Kollegin Martins das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Es ist heute ein guter Tag für diese Abstimmung, denn die Lage ist politisch aufgeheizt. So wird es wenigstens auch wahrgenommen. Dass die PDS das Thema zur Priorität erklärt hat, finde ich richtig, weil es eine wesentliche Sache ist, wenn wir hier die Verfassung ändern. Deshalb sage ich, in diesen Zeiten sollte man nicht gefällig sein, sondern Demokratie verstärken, Herr Braun.

[Beifall bei den Grünen, der SPD, der Linkspartei.PDS und der FDP]

Die vier Parteien rechnen sich nicht mehr Stimmen aus. Wir sagen auch nicht, jeder Jungwähler müsse jetzt uns wählen, sondern es muss ein breiter Konsens in der Gesellschaft sein, dass man etwas verändert. Darauf hat man sich verständigt. Dass Ihre Partei diesen Weg nicht gehen will, dafür können wir nichts. Wenn Sie mich jetzt fragen: Ist das Jeannette Martins’ Abschiedsrede?, dann sage ich: Nein, ich habe damals mit Frau Künast 1997 den ersten Antrag zur Absenkung des Wahlalters auf 14 eingebracht. Deshalb sage ich für meine Fraktion: Dies ist ein erster Schritt. Wir finden es auch richtig, dass Landtagswahlen und Bundestagswahlen von 16-Jährigen durchgeführt werden. Auch dafür werden wir uns weiterhin einsetzen.

[Beifall bei den Grünen]

Die Ausführungen der CDU sind nicht richtig. Das Wahlrecht ist an keine Rechte und Pflichten gebunden. Das werde ich auch nach acht Jahren nicht müde zu sa

gen. Es gibt doch auch keine Koppelung des Wahlrechts für Frauen bei der CDU.

[Beifall der Frau Abg. Flesch (SPD)]

Oder müssen bei Ihnen die Frauen dann an den Herd? Es gibt einfach keine Koppelung.

[Hoffmann (CDU): Nur grüne Frauen! – Heiterkeit bei der CDU]

Nein. Die grünen Frauen können auch so ganz gut kochen. –

[Over (Linkspartei.PDS): Das haben die nicht verstanden!]

Es geht um ein demokratisches Prinzip und die Frage, wie viel Menschen wir beteiligen wollen. Da sagen wir: so viel wie möglich. Es geht um demokratische Prinzipien und nicht um irgendwelche Reifeprüfungen, Intelligenzprüfungen. Herr Lorenz hat einmal gesagt, die Jugendlichen seien jetzt „frühreifer“.

[Mutlu (Grüne): Dann würde ja die CDU durchfallen!]

Das sind alles keine Kriterien. Es geht darum, dass Kinder und Jugendliche partizipieren sollen.

Ab wann kann man das tun? – Man hat jetzt einen großen Konsens bei wenigstens 16 Jahren. Ich finde, das ist doch ein positiver Schritt. Viele von Ihnen, die jetzt Direktkandidaten sind – nicht alle auf aussichtsreichen Plätzen, das ist schon klar –, werden zugeben, dass wir ganz stolz sind, wenn in den Schulen diese Jugendwahlen gemacht werden, und wir freuen uns, wenn einmal die eine, einmal die andere Partei führt. Wir sind auch alle ganz stolz darauf, wenn die Kandidaten gesprochen haben und alle Jugendlichen sich entscheiden. Wir müssen feststellen, die Jugendlichen wissen sehr wohl, worum es geht. Demzufolge kann man schon sagen, dass es richtig ist, auch Jugendliche einzubeziehen.

Ich kann meinen Vorrednern nur zustimmen. Viele Entscheidungen, die wir – insbesondere auf der kommunalen Ebene – heute treffen, sind wesentlich einschneidender für Jugendliche als für manchen wahlberechtigten Rentner. Deshalb sollten wir dafür sein. Ich bitte noch einmal, dass solche Abgeordneten wie Herr Rabbach, die bisweilen gesagt haben, so schlecht fänden sie es nicht, heute noch einmal in sich gehen und sagen: Es gibt auch einen anderen Flügel der CDU.

[Dr. Heide (CDU): Er ist gerade nicht da!]

Ich begrüße es, dass es heute eine breite Front gibt, die den Schritt geht, die Verfassung zu ändern. Wir werden beim nächsten Wahlkampf nicht die große Jungwählerkampagne machen, weil ab 16 gewählt werden kann. Die Jugendlichen sind schlau genug zu entscheiden, wer das Richtige in ihren Bezirken macht. Wir sollten deshalb als Parteien um die besten Argumente kämpfen. Ich freue mich dann auf den nächsten Wahlkampf!

[Beifall bei den Grünen, der SPD und der Linkspartei.PDS]

Danke schön, Frau Kollegin Martins! – Für die Freien Demokraten erhält Herr Kollege Ritzmann das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Absenkung des Wahlalters für Jugendliche auf 16 Jahre bei der Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung handelt es sich um ein Angebot. Es ist ein Angebot für 62 000 Jugendliche, die im nächsten Jahr, 2006, die Möglichkeit haben sollen, mitzuwählen bei der Aufstellung der Bezirksverordnetenversammlung. Klar ist, dass das kein Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit ist, aber es ist ein Ansatz, besonders bei bereits jetzt politisch interessierten Jugendlichen das Interesse zu verstärken, und bei Jugendlichen, die bisher noch nicht besonders interessiert sind, vielleicht auch.

Zwei Gründe sprechen aus meiner Sicht dafür. Der erste ist heute schon ein paar Mal genannt worden. Jugendforscher – man muss auch versuchen, objektive Gründe heranzuziehen, Herr Braun – sagen, dass die Jugendlichen heute reifer sind als vor 20, 30 Jahren, dass sie besser darin sind, politische Informationen zu verarbeiten und auf Grund dieser Informationen Entscheidungen zu treffen. Sie sind nicht besser als der Rest der Bevölkerung. Sie sind nicht besser als 90-Jährige oder 35-Jährige, aber sind eben auch nicht mehr schlechter. Das ist die Konsequenz daraus. Die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre trägt dem Rechnung.

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der SPD, der Linkspartei.PDS und den Grünen]

Der zweite Punkt ist ebenfalls ein objektiver Grund, weil es auch hier wieder nicht darum geht, dass Berlin die Mondfahrt entwickelt, wir also Spitzenreiter einer Bewegung sind, sondern fünf Bundesländer das bereits vor einigen Jahren eingeführt haben. Nordrhein-Westfalen, das größte Land in dieser Republik, hat 1998 das Wahlrecht geändert und bei Kommunalwahlen auf 16 Jahre abgesenkt. Stellen Sie sich vor, die Wahlbeteiligung der 16- und 17-Jährigen dort ist höher als die der 20- bis 30Jährigen. Das heißt, es funktioniert. Stellen Sie sich vor, liebe Kollegen von der CDU, die CDU, die damals dagegen war und angetreten ist mit Herrn Rüttgers, das rückgängig zu machen, sagt heute: Das ist eine Bereicherung unserer Demokratie, das wollen wir beibehalten. – Es gibt dort keine Bestrebungen mehr, das Wahlalter nach oben zu setzen. Also ist auch das ein objektiver Grund dafür.

Was spricht denn eigentlich dagegen? Wo ist denn das Risiko für uns? – Das einzige Risiko, das ich sehe, ist, dass kaum jemand von den 16-, 17-Jährigen zur Wahl geht. Das ist es aber auch. Ansonsten können wir nur gewinnen, wenn wir das Angebot auf Jugendliche, auf 16-, 17-Jährige ausweiten. Jeder Jugendliche, den wir mehr für Politik und damit für Demokratie interessieren, ist ein Gewinn. Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung zu dieser Verfassungsänderung.

[Beifall bei der FDP, der Linkspartei.PDS und den Grünen]