Protokoll der Sitzung vom 24.11.2005

Die FDP fordert, dass analog zum Bildungsprogramm der Berliner Kitas ein Hortprogramm für den offenen Ganztagsbetrieb an der Grundschule entwickelt werden soll. Positiv ist dabei, dass die FDP einerseits das Bildungsprogramm für die Kitas lobt, und andererseits – wie sie sagt – mit diesem Antrag nicht bezweckt, die Grundschulen zu bevormunden. Darüber freue ich mich, Frau Senftleben, denn das ist der Zweck des offenen Ganztagsbetriebes. Die einzelne Schule soll sich mit dem Schulprogramm ein Profil geben und sich danach selbstständig Partner für die Begleitung ihres Nachmittagsbetriebes suchen. Außerdem gibt es bereits das Leitbild für die offene Ganztagsschule, das Anregungen für die Rhythmisierung des Schultages, sowie für die Verzahnung von Unterricht und außerunterrichtliche Aktivitäten bietet. Des Weiteren ist bereits die Erarbeitung eines Bildungsprogramms für die offene Ganztagsschule in Auftrag gegeben.

Dieses Leitbild für die offene Ganztagsgrundschule ist Gegenstand des Antrages der Grünen. Sie fordern eine Evaluation bis zum 31. März 2006. Positiv ist auch hier, dass die Grünen unsere Vormaßnahmen weitgehend begrüßen. Sie kritisieren jedoch die Umsetzung. Sicherlich gab es Anfangsschwierigkeiten. Das Schuljahr hat aber allen Unkenrufen zum Trotz gut angefangen.

[Frau Jantzen (Grüne): Na ja!]

Es gibt zudem zahlreiche Maßnahmen, die die Schulen bei der Umsetzung unterstützen. Es ist daher wenig sinnvoll, bereits nach einem halben Jahr eine umfassende Bestandsaufnahme zu verlangen,

[Beifall bei der Linkspartei.PDS]

zumal, Herr Kollege Mutlu, die flexible Schulanfangsphase, auf die Sie ausdrücklich verweisen, erst im Schuljahr 2007/2008 realisiert sein wird.

[Frau Dr. Barth (Linkspartei.PDS): Richtig!]

Im zweiten Antrag fordert die FDP, dass alle Schülerinnen und Schüler an den Unterrichts- und Betreuungszeiten der verlässlichen Halbtagsgrundschule von 7.30 Uhr bis 13.30 Uhr teilnehmen. Diese Teilnahme ist bereits jetzt verbindlich, wenn der Stundenplan einer Klasse so rhythmisiert ist, dass die erste Stunde um 7.30 Uhr beginnt und die letzte Stunde um 13.30 Uhr endet.

[Beifall bei der Linkspartei.PDS]

Der überwiegende Teil der Grundschulen hat diese organisatorische Neugestaltung bereits vollzogen. Allerdings ist die Kritik berechtigt, dass es bei einigen Schulen noch einer Veränderung der schulischen Lehr- und Lernkultur bedarf. Ich gebe aber zu bedenken, dass die neue Zusammenarbeit zwischen Schul- und Hortpädagogik in dieser Form erst in diesem Schuljahr begonnen wurde, und setze große Hoffnung auf die Lernfähigkeit von Schulleitungen und Lehrpersonal. Es gibt viele Hilfestellungen, damit die Grundschullehrerinnen und -lehrer gemeinsam mit den Erzieherinnen und Erziehern an dem Bildungsprozess der

ihnen anvertrauten Kinder arbeiten können. Es ist jedoch nicht zielführend, Kinder zur Teilnahme an Betreuungszeiten zu verpflichten, da dies nicht zur Verbesserung der pädagogischen Qualität des Schulalltags beitragen würde.

[Zuruf der Frau Abg. Jantzen (Grüne)]

Im dritten Antrag fordert die FDP, das Sozial-, Arbeits- und Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler in Textform in den Zeugnissen zu dokumentieren. Diese Forderung, liebe Frau Senftleben, ist bereits erfüllt. Im Schulgesetz § 58 Abs. 7 und § 76 Abs. 2 Nr. 4 steht, dass die Schulkonferenz für die Jahrgangsstufen 3 bis 10 entscheidet, ob und wie das Arbeits- und Sozialverhalten beurteilt wird. In der neuen Grundschulverordnung und der Verordnung zur Sekundarstufe I werden einheitliche Rahmenbedingungen vorgegeben und die von der FDP geforderten Merkmale Lern- und Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit, Selbständigkeit, Verantwortungsbereitschaft und Teamfähigkeit festgelegt. In der AV Zeugnisse vom 24. Oktober 2005 finden sich zudem detaillierte Verhaltensregeln sowie Mustervordrucke. Außerdem wird auf jedem Zeugnis vermerkt, ob eine solche Beurteilung beiliegt oder ob die Schulkonferenz auf eine Beurteilung verzichtet hat. Die Erfahrungen der Schulen mit diesem neuen Instrument sollen zudem spätestens nach zwei Jahren ausgewertet werden.

Der einzige Unterschied zu Brandenburg besteht darin, dass die Beurteilung in unserem Nachbarland verpflichtend ist. Es gehört aber unserer Meinung nach zum Verständnis der Eigenständigkeit der einzelnen Schulen, dass diese selbst darüber entscheiden können.

[Beifall bei der Linkspartei.PDS]

Abgesehen davon, dass es meine grundlegende Überzeugung ist, dass sich nicht allein durch eine schriftliche Beurteilung automatisch das Sozialverhalten ändert, hinkt Ihr Antrag, liebe FDP, der Entwicklung an der Berliner Schule weit hinterher.

Sie sagten eingangs, Frau Senftleben, Sie wollten keine Experimente. Da klingelte etwas in meinem Hirn. Das war doch einmal ein Adenauer-Slogan, der schon ein paar Jahrzehnte zurückliegt. Wenn Sie meinen, es soll nicht mit den Schülerinnen und Schülern experimentiert werden, so bin ich bei Ihnen. Wir, die Koalition, wollen aber Reformen an der Berliner Schule. Lassen Sie die doch erst einmal greifen, bevor Sie anfangen zu meckern. – Ich danke Ihnen!

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS]

Danke schön, Frau Kollegin Dr. Tesch! – Es folgt die CDU. Das Wort hat Frau Kollegin Schultze-Berndt. – Bitte sehr!

Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! „Erdkunde in der Eckkneipe – weil Lehrer fehlen, organisieren Eltern in Reinickendorf Privatunterricht für ihre Kinder“, so schreibt die „Berliner Zeitung“ am 1. November. „Lehrer fehlen überall – trotz schlechter PISA-Ergebnisse wurden 4 600 Pädagogen

deutschlandweit weniger eingestellt als empfohlen“, so der „Tagesspiegel“ vom 17. November. Das sind die wichtigsten Schlagzeilen der letzten Tage. Die Antwort des Senats darauf kann man auch der Zeitung, nämlich der „Bild“ vom 18. November, entnehmen: „Sarrazin geht auf Böger los – Vorwurf: Schulsenator hat 300 Lehrer zuviel eingestellt“.

[Zuruf des Abg. Brauer (Linkspartei.PDS)]

Welche Wahrnehmung hat der Senat eigentlich von dem, was in dieser Stadt passiert? Wann waren Sie das letzte Mal in den Schulen und haben sich vor Ort angeschaut, wie es dort aussieht, Herr Böger?

Die Zahl der erkrankten Lehrer geht weit über das hinaus, was jahresbedingt an Grippeerkrankungen üblich ist.

[Sen Böger: Woher wissen Sie denn das?]

Selbst bei allerbestem Willen und Bemühen kann der Unterrichtsausfall kaum mehr kompensiert werden. Es gibt Grundschulen, in denen zwei von fünf Unterrichtsstunden stattfinden, am nächsten Tag sind es vier von sechs Stunden. Die Kinder werden in der Schule immerhin durch die Erzieher bis 13.30 Uhr betreut. Die Freistunden entstehen durch den Unterrichtsausfall dennoch. Es ist ein Irrglaube, Herr Böger, wenn Sie meinen, die Eltern würden schon nicht merken, dass die Kinder gerade einmal drei Viertel ihres ordentlichen Unterrichts erhalten. Was sind die Konsequenzen? – Die Eltern organisieren den Unterricht selbst – in der Kneipe. Ich denke, wir haben bessere Orte dafür. Andere Eltern beschließen, ihre Kinder so schnell es geht von der Grundschule zu nehmen und möglichst nach der vierten Klasse auf die Oberschule zu geben, weil sie hoffen, dass dort mehr passiert als lediglich eine Betreuung am Vormittag.

Bei diesem massiven Unterrichtsausfall hilft auch keine Statistik, mit der Sie sich, Herr Böger, rühmen, wie zuletzt Ende Oktober, wenn Sie schreiben, der Unterrichtsausfall sei derzeit so niedrig wie in den letzten Jahren nicht – nur noch 2,6 % des Unterrichts falle aus. Das ist zwar wahr, betrifft aber nur den Unterricht, der gänzlich ausfällt. Insgesamt kann 10,1 % des Unterricht nicht ordentlich erteilt werden. Das ist der Anteil, zu dem die Kinder nicht ihren regulären Unterricht erhalten. Eine Vertretungsstunde ist von ihrer Qualität niemals dem normalen fachlichen Unterricht gleichzusetzen. Aus dem Grunde bedeutet der Vertretungsunterricht für die Kinder eine Einbuße an Lernstoff. Kann nicht vertreten werden, werden die Kinder von den Erziehern betreut – verlässliche Halbtagsgrundschulen nennt sich das. Die stellen sicher, dass die Kinder in der Schule von 7.30 Uhr bis 13.30 Uhr betreut sind. Die Eltern können sich darauf verlassen. Aber worauf können sie sich inhaltlich verlassen? – Angesichts der überstürzten Durchführung dieser Reformen durch Rot-Rot zeigt sich, dass inhaltlich durchdachte Konzepte und eine ordentliche Einführungsphase fehlen.

Wir sehen dringenden Handlungsbedarf. Die Lehrer und Erzieher brauchen Zeit für eine Abstimmung der pädagogischen Konzepte und Zielsetzungen. Für die Ausgestaltung einer Mischung von Lern- und Entspannungsphasen müssen genügend geeignete Räume vorhanden sein, denn es ist wohl kaum möglich, tobende oder mit Spielen beschäftigte Kinder neben einem Raum zu betreuen, in dem eine Klassenarbeit geschrieben wird. Erst wenn erkennbar ist, dass schulische Betreuung eine Ergänzung des schulischen Lernens ist, werden die Eltern bereit sein, ihre Kinder freiwillig auch in den Zeiten nach Schulschluss in der Schule zu lassen. Der Zwang, die Kinder bei Vater Staat abzugeben, auch wenn schon Unterrichtsschluss war, die Kinder aber noch betreut werden sollen, erinnert mich stark an den Wunsch der SPD nach der Lufthoheit über die Kinderbetten.

[Sen Böger: Das hat die FDP gefordert!]

Das wundert mich auch, Herr Böger. Wo sind nun aber die Lehrer? Wie kommt es in einigen Schulen zu so horrendem Unterrichtsausfall? – Zum einen erkranken mehr Lehrer als bisher, weil sie schon älter sind und mit den vielen Reformen ausgelastet, wenn nicht gar überlastet sind. Zum anderen dürfen die Lehrkräfte, die krank werden und von denen bereits zu Beginn ihres Fehlens bekannt ist, dass sie nicht wiederkommen werden, weil sie sich in die Frühpensionierung verabschieden, erst nach dreimonatigem Fehlen als dauererkrankt eingestuft werden. Innerhalb dieser drei Monate muss die Schule sich selbst helfen. Und dann gibt es noch den selbst produzierten Unterrichtsausfall. Da werden 18 halbe oder 9 ganze Lehrerstellen sowie 18 halbe Schulleiterstellen in die Schulinspektion gegeben. Man baut eine Evaluationsbürokratie auf – denn wir haben bereits ein Institut zur Qualitätssicherung in der Universität, die Qualitätsagenturen, Schulinspektionen

[Zuruf der Frau Abg. Dr. Tesch (SPD)]

und interne Evaluationen. Immer mehr Apparate werden aufgebaut, um die Schulen in ihrer Qualität zu evaluieren. Warum geht man nicht den einfacheren Weg der partnerschaftlichen Kontrolle vor Ort?

[Ah! von der SPD und den Grünen – Zuruf der Frau Abg. Dr. Tesch (SPD)]

Frau Kollegin! Bitte bedenken Sie das Ende der Redezeit!

Wir begrüßen es, wenn mehr Augenmerk auf das Verhalten der Kinder gerichtet wird, indem man die Kopfnoten einführt. Wir finden es auch richtig, über die Hauptbetreuung, räumlich und konzeptionell, zu sprechen, damit mehr passiert als nur eine Aufbewahrung. Wir wollen auch dringend den Ganztagsbetrieb überprüft sehen.

Die zentrale Problematik für unsere Kinder ist aber der Unterrichtsausfall, der eine gute Schulbildung verhindert. Herr Böger! Herr Sarrazin! Unsere Kinder haben ein Recht auf Bildung, Sie haben ein Recht auf Unterricht in allen Schulen, in allen Bezirken und von Lehrern, nicht

von den Eltern. Sorgen Sie dafür, dass wir genug Lehrkräfte haben, sorgen Sie dafür, dass in Berlin kein Unterricht ausfällt!

[Beifall bei der CDU]

Schönen Dank, Frau Kollegin Schultze-Berndt! – Es folgt die Linkspartei.PDS, und das Wort hat die Kollegin Frau Schaub. – Bitte sehr!

Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine Damen und Herren! Wir behandeln seit einiger Zeit Antragsserien der Oppositionsparteien zum Schulgesetz. Alle Serien haben einen Titel bekommen: Bei der FDP hörten wir „Schule mit Zukunft!“, übrigens alle fünf Anträge mit dem kategorischen Imperativ des Ausrufungszeichens versehen. Bei den Grünen „Alle Begabungen fördern“, fünf Anträge, und zuvor die CDU „Berliner Schulgesetz – mehr Bildungsqualität, weniger ideologische Experimente“, hier gar zehn Anträge. Leider ist Masse nicht gleich Klasse, auch nicht in der bildungspolitischen Diskussion.

[Beifall bei der Linkspartei.PDS und der SPD – Mutlu (Grüne): Das müssen Sie gerade sagen!]

In den uns vorliegenden Anträgen, die heute zur Debatte stehen, sind zwei Linien zu erkennen. Zum einen sind die Anträge auf Probleme bei der Umsetzung des neuen Schulgesetzes gerichtet,

[Frau Jantzen (Grüne): Das ist ja das Hauptproblem!]

betreffen also Prozesse, die bereits laufen, und setzen dabei den einen oder anderen Akzent anders. Selbst wenn ich sie in der Sache teile, finde ich sie in der vorliegenden Weise nicht hilfreich. Zum anderen sollen andere Intentionen in das Gesetz hineingebracht werden. Solche Anträge werden im Dissens zwischen Opposition und Regierungsparteien bleiben und von uns abgelehnt werden.

Ich bin nicht sicher, ob ich die Masse der Anträge bearbeiten kann, ich will es aber doch versuchen.

[Zuruf der Frau Abg. Dr. Tesch (SPD)]

Mit dem FDP-Antrag „Verbindlichkeit für die Grundschule“ wird der Senat aufgefordert, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass für die Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen eins bis vier verbindliche Unterrichts- und Betreuungszeiten zwischen 7.30 Uhr und 13.30 Uhr gelten. Mit Verlaub: Erstens gelten die Rahmenbedingungen, die das festschreiben, bereits seit dem 1. August dieses Jahres und müssen vom Parlament nicht noch einmal beschlossen werden.

[Beifall der Frau Abg. Dr. Tesch (SPD)]

Zweitens ist dies rechtlich geregelt im Schulgesetz und in der Grundschulordnung. Ich erlaube mir, Herr Präsident, aus der Grundschulordnung vom 19. Januar dieses Jahres zu zitieren. Darin steht, dass alle innerhalb der VHG stattfindenden Aktivitäten schulische Veranstaltungen sind, und, zwei Sätze weiter:

Sofern die außerunterrichtlichen Angebote nicht am Beginn oder Ende des Schultages platziert

sind, sind die Schülerinnen und Schüler zur Teilnahme verpflichtet.