Protokoll der Sitzung vom 11.12.2008

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Zimmermann! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Frau Abgeordnete Pop das Wort. – Bitte!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass die europäische Integration kein Selbstläufer ist, ist uns allen nun spätestens seit den gescheiterten Referenden über den Lissabon-Vertrag klargeworden. Rational sind diese Entscheidungen vielleicht nicht unbedingt zu erklären, warum gerade Irland oder Österreich, die beide durchaus von der EU profitiert haben, dagegen gestimmt haben. Das sind eher diffuse Gefühle und auch Ängste. Die Politik muss beides ernst nehmen. Dass das Spielen mit den diffusen Ängsten nicht unsere Sache ist, haben wir hier im Haus, im Gegensatz zu anderen, anlässlich der Berliner Abstimmung über den EU-Reformvertrag deutlich gemacht. Diese Ängste muss man jedoch ernst nehmen. Insbesondere fürchten die Menschen in Europa, dass die voranschreitende Globalisierung das über die Jahrzehnte erfolgreiche europäische Sozialmodell aushöhlt. Die Antwort darauf kann aber nicht lauten: weniger Europa. Das haben wir hier auch schon gehört. Da drängt es sich durchaus auf, Frau Michels, wenn Sie sagen: Na ja, da wollten wir mal einen Antrag schreiben, um zu zeigen, dass wir nicht so antieuropäisch sind! –, dass dieser Antrag nur ein Feigenblatt ist. Das finde ich sehr schade,

[Beifall bei den Grünen und der CDU – Mirco Dragowski (FDP): Genau!]

denn die richtige Antwort lautet – das sagen wir Grüne ganz grundsätzlich –: Wir brauchen mehr Europa und auch ein Mehr an sozialem Europa,

[Martina Michels (Linksfraktion): Genau! Das ist genau unser Antrag!]

damit auch die neuen Beitrittsländer von europäischen Sozialstandards wie von dem EU-Reformvertrag profitieren. Die drei großen Krisen, die wir heute erleben – die Finanz- und Klimakrise und die globale Armut –, brauchen eine starke und handlungsfähige EU und keine EU, die schwächelt. Gerade in der jetzigen Finanzkrise hat Eu

ropa die Chance, Vorbild auf supranationaler Ebene zu sein, und zwar im Dienst des sozialen Ausgleichs, der wirtschaftlichen Stabilität und der ökologischen Nachhaltigkeit. Das können wir nicht allein. Dafür brauchen wir Europa.

[Beifall bei den Grünen]

Aber jetzt zeigt sich auch, dass ein soziales Europa wichtiger denn je ist. In der Binnenmarktgesetzgebung der EU ist die soziale Dimension in den letzten Jahren häufig zu kurz gekommen. Wir erinnern uns alle schmerzlich an das Rüffert-Urteil des Europäischen Gerichtshofs gegen Tariftreuevorschriften. Wir meinen, dass die EU die Kraft aufbringen muss, sich zu einem sozialen Binnenmarkt zu entwickeln. Europa ist aus unserer Sicht kein Projekt von Wirtschaftseliten, sondern muss ein soziales Europa aller Bürgerinnen und Bürger werden.

Deswegen wird das Ansinnen des Koalitionsantrags, das EU-Sozialpaket nachzubessern, mitgetragen. Es ist höchste Zeit, sozialen Schutz und soziale Grundrechte europaweit zu verankern. Der von Ihnen abgelehnte EUReformvertrag von Lissabon ist dabei ein guter Anfang, denn er stellt durchaus klar, dass der Binnenmarkt nicht das Ziel, sondern das Mittel zum Zweck ist. Auch wir wollen Nachbesserungen an dem vorgelegten Sozialpaket. Ich zitiere aus einem Kommentar der „Tagesschau“ – die ist ja recht unverfänglich –, der es auf den Punkt bringt. Das Sozialpaket sei danach „ein nett gemeinter, aber hilfloser Versuch“. Zu sehr wirkt das Paket der Kommission wie ein symbolischer Schnellschuss nach dem Nein der Iren zum EU-Reformvertrag.

Zu den einzelnen Punkten: Auch wir finden, dass, wenn Unternehmen und Finanzakteure europäisch handeln, die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer europäisch und grenzüberschreitend gesichert werden müssen. Für uns bedeutet das eine Gleichsetzung von Tarifverträgen mit gesetzlichen Mindestlöhnen in der Entsenderichtlinie. Jeder Mensch hat ein Recht auf Gleichbehandlung mit inländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Wir wollen auch, dass Betriebsräte europäisch agieren können und die Marge, ab der ein Euro-Betriebsrat gegründet werden kann, auf 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter herabgesetzt wird.

Darüber hinaus enthält das Sozialpaket wenig neue Ideen. Es bündelt zwar Vorhaben, beispielsweise in der Gesundheitspolitik, die schon lange auf der Tagesordnung der Kommission stehen, aber der große Wurf ist das nicht. Da schließen wir uns der Koalition an. Die Nachbesserungen sind wichtig. Wir tragen den Antrag mit unserem Änderungsantrag mit, in dem wir fordern, dass soziale Mindeststandards nicht auf der Strecke bleiben dürfen. – Vielen Dank!

[Beifall bei den Grünen]

Vielen Dank, Frau Pop! – Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Abgeordnete Dragowski das Wort. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir werden dem Antrag nicht zustimmen, sondern ihn – wie bereits im Ausschuss – ablehnen, und das ist auch richtig so.

[Uwe Doering (Linksfraktion): Das ist konsequent von Ihnen!]

Wir haben verstanden, dass es in Europa um den Binnenmarkt geht und nicht um die Durchlöcherung der EUGrundfreiheiten, die Sie mit Ihrem sehr leichten Antrag durchzusetzen versuchen.

Frau Kollegin Michels! Wenn Sie von einer aktiven Rolle sprechen, die die rot-rote Koalition spiele, oder Sie, Herr Kollege Zimmermann, vorwerfen, man würde Pflichten verweigern, dann muss ich darauf hinweisen, dass Ihre europapolitische Performance hier im Haus sehr dürftig ist.

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der CDU – Martina Michels (Linksfraktion): Wir haben den Antrag vorgelegt!]

Jetzt machen Sie einmal einen Antrag zum EUSozialpaket, aber schauen wir auf die Unerledigtenliste, dann steht dort häufig CDU oder FDP, auch die Grünen, aber Rot-Rot finde ich dort kaum. Das können wir aber noch an anderer Stelle vertiefen.

Mich interessieren noch folgende Punkte: Sie sagen zum Beispiel in Ihrem Antrag, die konservativ-liberale Mehrheit in der EU folge dem falschen Programm. Herr Kollege Zimmermann! Sie haben im Ausschuss gesagt: Harmonisierung ja, aber nicht gegen wichtige Kompetenzen der Mitgliedsstaaten! – Wir müssen hier klarstellen: Was Sie als das falsche Programm bezeichnen, nennen wir Europarecht.

[Beifall bei der FDP]

Wir haben in Europa eine klare Teilung. Der Binnenmarkt und die Grundfreiheiten sind die zentralen Bestandteile der europäischen Union, und die Hoheit für die Sozialpolitik liegt nun einmal, und zwar zu Recht, bei den Mitgliedsstaaten. Der EuGH folgt bei der von Ihnen genannten Entscheidung seiner Rechtsprechung, die der Verwirklichung des Binnenmarktzieles dient. Dass Ihnen dann möglicherweise Worte wie Wettbewerb weh tun, können wir nachvollziehen, aber festzuhalten ist: Ohne klare Wettbewerbsregeln, ohne europaweiten Wettbewerb können Sie den Binnenmarkt gleich beerdigen.

[Beifall bei der FDP]

Wir müssen auch klarstellen, dass sich jeder Mitgliedsstaat seine sozialen Standards setzen kann. Wir haben in Deutschland meiner Meinung nach kein Defizit, und

schon gar keins aus liberaler Sicht. Ich kann Sie aber verstehen: Wenn Sie Punkte in Deutschland nicht durchsetzen können, beispielsweise den flächendeckenden Mindestlohn, dann rufen Sie nach einer Mindestlohnregelung auf europäischer Ebene. Ich warte darauf, dass Sie einen europaweiten Mindestlohn fordern.

[Martina Michels (Linksfraktion): Ja, den fordern wir!]

Wunderbar! Das halte ich fest. Das ist interessant. Ich bin gespannt, wie die SPD dazu steht.

Festhalten muss man auch, dass wir in Europa ein unterschiedliches Lohngefüge haben und gerade die mittel- und osteuropäischen Staaten in einigen Bereichen noch entwicklungsfähig sind, aber sie brauchen insbesondere im Bereich der Wirtschaft Entwicklung. Wenn wir ihnen europäische Standards oktroyieren, die sie sich selbst noch gar nicht setzen würden, dann nehmen wir den mittel- und osteuropäischen Staaten ihre Chance zu wachsen. Dann haben wir in Europa ein viel größeres Strukturproblem. Ich kann nicht erkennen, was an der von Ihnen gewünschten Überarbeitung des EU-Sozialpakets sozial ist, wenn ich mir die neuen Beitrittsstaaten der EU anschaue.

[Beifall bei der FDP – Beifall von Oliver Scholz (CDU)]

Frau Kollegin Michels! Im Ausschuss haben Sie gesagt, das Sozialpaket mache deutlich, dass die Kommission den Arbeitgeberinteressen weiterhin Vorrang vor der Arbeitnehmerrechten einräume. Reden wir über Arbeitnehmerrechte! Wie sozial Sie von Rot-Rot es meinen, sehen wir bei der Behandlung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Sie, Herr Senator Wolf, sagen, Sie seien klar für die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Das stimmt zwar, aber es ist nur die halbe Wahrheit, denn Sie koppeln Ihre Bedingungen an einen Mindestlohn, und Sie wissen, dass wir diesen Mindestlohn bundesweit nicht bekommen werden. Sie sind im Bundesrat mit dieser Forderung gescheitert. Wenn Sie jetzt noch daran festhalten und sagen: Arbeitnehmerfreizügigkeit nur, wenn es auch den Mindestlohn gibt! –, dann hat diese Haltung nichts europäisches. Das ist ganz klarer nationaler Protektionismus und hat nichts mit den Arbeitnehmerrechten der neuen Europäerinnen und Europäer zu tun, die sich eine Möglichkeit erhoffen, in den Mitgliedsstaaten der EU zu arbeiten.

[Beifall bei der FDP]

Denken Sie weiter! Diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer würden sicher gerne hier arbeiten und in unsere Sozialkassen einzahlen. Damit hätten Sie in Berlin noch mehr Masse für Ihren öffentlichen Beschäftigungssektor und Ähnliches. Ich fordere Sie auf, Ihre Linie zu überdenken. Beim Thema Mindestlohn sind die Messen gesungen. Ihr Antrag bringt uns in Europa nicht weiter. Diesen Hintertürmechanismus in der Sozialpolitik haben wir durchschaut und werden ihn nicht unterstützen. Kommen Sie zu einer Europapolitik, die den Berlinerinnen und Berlinern hilft. Dann sind wir dabei. Aber so geht es nicht, liebe Kollegen!

[Beifall bei der FDP – Beifall von Oliver Scholz (CDU)]

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Dragowski! – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Der Ausschuss empfiehlt mehrheitlich – gegen die Stimmen von CDU und FDP – die Annahme des Antrags mit Änderungen. Wer gemäß den Drucksachen 16/1840 und 16/1939 beschließen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Gegenprobe! – Das sind die CDU- und FDPFraktion. Enthaltungen sehe ich nicht. Damit sind die Anträge angenommen.

Wir kommen zurück zu

lfd. Nr. 4 b:

Beschlussempfehlung

Vollzugsbeauftragten für den Strafvollzug einsetzen!

Beschlussempfehlung Recht Drs 16/1891 Antrag der CDU, der Grünen und der FDP Drs 16/1609

Ich verlese das Ergebnis der namentlichen Abstimmung zur Drucksache 16/1609:

Abgegebene Stimmen: 135

Ja-Stimmen:

Nein-Stimmen:

Der Antrag Drucksache 16/1609 ist damit abgelehnt.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Ich rufe die Priorität der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unter dem Tagesordnungspunkt 42 auf. Das ist die

lfd. Nr. 4 d:

Mietsteigerungen bei Neuvermietungen begrenzen