Protokoll der Sitzung vom 28.01.2010

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Die Ursachen für Armut sind nicht in Lebensformen, Nationalitäten oder Herkunft zu suchen, sondern in fehlender individueller Absicherung und struktureller Diskriminierung. Viele Menschen mit Migrationshintergrund – eigentlich müssten das hier alle wissen – sind strukturell diskriminiert. Sie haben schlechtere Chancen in vielen Lebensbereichen, auch in Ausbildung und Beruf. Das gilt auch für den Bereich der Hochqualifizierten.

[Kurt Wansner (CDU): Aber nur durch Ihre Politik!]

Es ist so, Herr Wansner, dass ein Herr Müller eher eingestellt wird als eine Frau Mimoğlu.

[Dr. Gabriele Hiller (Linksfraktion): Und als Herr Wansner!]

Berlin ist eine Einwanderungsstadt, sie ist bunt und vielfältig. Herr Wansner, das wird Sie besonders interessieren, unsere Integrationspolitik betrachtet genau diese Vielfalt als eine Bereicherung und als eine Chance für diese Stadt.

[Beifall bei der Linksfraktion – Kurt Wansner (CDU): Seit wann das denn?]

Ein wesentliches Ziel von uns ist es, gleiche Chancen, Rechte und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Deshalb und dafür haben wir etliche Maßnahmen eingeleitet, die diesem Ziel dienen. Ich nenne nur die interkulturelle Öffnung der Verwaltung und die Kampagne „Berlin braucht dich!“.

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Ich finde aber auch, ein Blick auf die sogenannten instabilen Familienverhältnisse lohnt. Was bedeutet eigentlich Scheidung? – Scheidung bedeutet ein finanzielles Risiko und zwar in erster Linie für Frauen.

[Zuruf von der CDU: Das glaube ich nicht!]

Das muss auch nicht wundern, wenn seit Jahrzehnten die Ehe und das Familienernährermodell in der Steuerpolitik gefördert wird, und das, obwohl es schon lange nicht mehr die gesellschaftliche Realität abbildet. Kinder gelten als Armutsrisiko. Das trifft besonders Alleinerziehende – auch hier in erster Linie Frauen –, aber auch alle anderen Eltern mit geringen Einkommen. Daran hat auch das Elterngeld von Frau von der Leyen nichts geändert. Es dient nämlich in erster Linie den Besserverdienenden. Arbeitslose haben davon nichts.

Wir brauchen eine Grundsicherung für Kinder und wir brauchen als einen ersten Schritt armutsfeste Regelsätze für Kinder arbeitsloser Eltern. Das würde nämlich dazu beitragen, Kinderarmut abzubauen.

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Insgesamt – auch das müssten die meisten wissen – sind die Regelsätze beim Arbeitslosengeld II nicht armutsfest und deshalb müssen sie erhöht werden. Das sind alles bundespolitische Themen. Ich bin gespannt, wie SchwarzGelb sich dieser Probleme annimmt. Eines weiß ich, Steuergeschenke für Reiche, Verschärfung der Sanktionen für Langzeitarbeitslose und Einschnitte in das soziale Netz sind auf jeden Fall nicht der richtige Weg.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Betrachten wir weitere Armutsrisiken: Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung. Vor fünf Jahren waren Sie, alle wie Sie hier saßen, abgesehen von meiner Fraktion, große Verfechter der Hartz-IV-Gesetze. Heute können wir alle deren gesellschaftliche Auswirkungen betrachten. Arbeitslose müssen zu fast jedem Preis arbeiten, prekäre Beschäftigung hat enorm zugenommen, ebenso wie Armut trotz Erwerbsarbeit. Davon sind in Berlin viele Menschen betroffen. Hier leben viele Arbeitslose und viele Menschen, die trotz Arbeit auf Transferleistungen angewiesen sind. Deshalb ist die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes längst überfällig.

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Rot-Rot setzt sich ein für gute Arbeit und gegen Armut und Ausgrenzung. Mit der Einführung des ÖBS, der hier einmal mehr kritisiert worden ist, haben wir den Be

schäftigten einen Stundenlohn von 7,50 Euro gegeben, mindestens. Das entspricht der gewerkschaftlichen Forderung der Höhe eines Mindestlohns. Wir könnten auch diesen ÖBS ausweiten, wenn die rot-gelbe Bundesregierung

[Zuruf von der SPD: Schwarz-gelbe!]

Entschuldigung, schwarz-gelbe – sich verabschieden würde von den Ein-Euro-Jobs.

[Beifall bei der Linksfraktion]

In diesem Zusammenhang wäre es übrigens auch möglich, effektivere, günstigere und sinnvollere Finanzierungsinstrumente für den ÖBS zu schaffen als die, die wir jetzt haben. Auch mit der Einführung des Vergabegesetzes wird Rot-Rot den Stundenlohn von mindestens 7,50 Euro ausweiten, die Vergabe von öffentlichen Aufträgen an diese Mindestbezahlung binden.

Es war der rot-rote Senat, der gemeinsam mit Verdi gegen die Dumpinglöhne der christlichen Gewerkschaften in der Zeitarbeitsbranche vorgegangen ist – und zwar erfolgreich.

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Aber wir können auch noch einen Blick auf die Wirtschaftspolitik von Rot-Rot werfen, denn die Arbeitsplatzsituation hängt immer von der wirtschaftlichen Situation ab. Die ist in Berlin historisch bedingt schwierig. Eine andere Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung hat Berlin schon im Frühjahr ein überdurchschnittliches Innovationsklima bescheinigt. Die jetzt vorgelegte Studie kommt zum Ergebnis, dass in Berlin die lange Stagnationsphase überwunden ist und fünf Bundesländer beim Wirtschaftswachstum überholt worden sind.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Betrachtet man die aufgelisteten Wirkungsindikatoren, die der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik zugeordnet werden – also die Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik, öffentliche Beschäftigung, die Selbstständigenquote –, dann liegt das sogenannte Aktivitätsniveau auch über dem Durchschnitt. Zu Forschung und Wissenschaft hat Frau Radziwill bereits etwas gesagt: Platz 1. Auch bei der Zunahme der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung haben wir andere Länder zurückgelassen.

Gleichwohl ist das alles kein Grund, sich zurückzulehnen, denn trotz dieser relativ guten Ergebnisse braucht Berlin weiter Betriebe, die Arbeitsplätze anbieten. Daran wird Rot-Rot weiter arbeiten.

Berlin lebt auch davon, dass es eine lebendige und attraktive Stadt ist, die pulsiert und sich ständig weiterentwickelt, und zwar mit sozialem Augenmaß und immer um sozialen Ausgleich bemüht.

Zum Schluss stelle ich fest: Rot-Rot macht nicht arm,

[Björn Jotzo (FDP): Ist arm!]

ganz im Gegenteil, aber Schwarz-Gelb tut alles, um diesen Kampf gegen Armut und Ausgrenzung zu erschweren. Dafür werden Sie hoffentlich die Quittung erhalten!

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Breitenbach! – Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Herr Abgeordnete Lehmann das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Ich war zunächst überrascht, dass sich die Koalition bei der Festlegung des heutigen Themas für den Vorschlag der CDU entschieden hat,

[Dr. Klaus Lederer (Linksfraktion): Wir scheuen nichts! – Weitere Zurufe von der SPD und der Linksfraktion]

müssen wir doch da über eine desaströse Entwicklung sprechen, für die der rot-rote Senat verantwortlich ist.

[Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Aber was wäre die Alternative gewesen? – Der Vorschlag der Koalition hätte noch einmal verdeutlicht, wie die Justizverwaltung überfordert ist und wie sehr der rot-rote Senat die Polizei ausgetrocknet hat.

[Beifall bei der FDP]

Die S-Bahn ist sowieso ein aktuelles Thema. A 100 – Uneinigkeit im eigenen Lager!

[Dr. Gabriele Hiller (Linksfraktion): Sprechen Sie mal zum Thema, die Begründung ist vorbei!]

Ich komme schon noch dazu, nur keine Bange! –

[Dr. Gabriele Hiller (Linksfraktion): Wir haben ja Zeit!]

Also befassen wir uns heute damit, wie der rot-rote Senat und die ihn tragende Koalition Berlin zum zweifelhaften Ruf der deutschen Armutshauptstadt verholfen haben und nun auch noch dabei sind, diese Armut in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen und in einigen Stadtteilen zu verfestigen.

[Beifall bei der FDP]

Es ist bezeichnend, dass fast zeitgleich mit der Bertelsmann-Studie die Studie „Soziale Stadtentwicklung“ von Prof. Häußermann erschienen ist. Beide Berichte bestätigen, was viele andere Studien bereits belegt haben. Ich erspare es uns, die Zahlen und Indikatoren für die schlechte Lage aufzuzählen. Das ist alles hinlänglich bekannt und dazu in höchstem Maße frustrierend. Dafür trägt der rot-rote Senat seit 2002 die Verantwortung, und Sie, meine Damen und Herren von der SPD, sollten sich fragen, was Sie in den nunmehr 21 Jahren, die Sie ununterbrochen im Berliner Senat vertreten sind, gegen die Entstehung dieser Situation getan haben.

[Beifall bei der FDP]

Immer wenn solche Berichte die schlechte soziale Lage beleuchten, ist der Aufschrei groß, und es werden neue Maßnahmen und Programme angekündigt. Leider muss man dann beim nächsten Bericht feststellen, dass diese vollmundig angekündigten und darüber hinaus sehr teuren Maßnahmen und Programme nichts genützt haben. Das ist der Rhythmus, wie ihn diese Stadt seit Jahren kennt.