Während Sie in Ihrer ersten Regierungserklärung noch den Mentalitätswechsel beschworen, Herr Wowereit, und in der zweiten die innere Einheit der Stadt, fehlt jetzt die Idee, der Anspruch dieser Regierung. Man muss ja auch gar nicht nach Baden-Württemberg schauen, was alles möglich ist. Geografisch näher und vielleicht auch Ihnen näher liegt Hamburg. Dort regiert Olaf Scholz. Ich möchte ihn kurz zitieren. Er sagte in seiner Regierungserklärung:
Und auch heute sind es wieder die Städte, in denen sich entscheidet, wie die Welt des 21. Jahrhunderts aussieht. Sie sind Motoren der Veränderung, Inkubatoren des Neuen, stets im Werden. … Städte, insbesondere große Städte, beinhalten immer auch das Versprechen für eine bessere Zukunft.
Herr Wowereit! Wo sind eigentlich Ihre Ideen, wo ist Ihr Mut zur Veränderung, wo ist Ihr Blick auf das Neue, was ist Ihr Versprechen auf eine bessere Zukunft nach über zehn Jahren als Regierender Bürgermeister in dieser Stadt?
Ein Senat kann sich meiner Meinung nach nicht darauf beschränken, das abzuarbeiten, was zwei Koalitionspartner miteinander vereinbart haben, das, was man aufgeschrieben hat. Ein Senat muss sich den Notwendigkeiten stellen, muss sich den Herausforderungen stellen, die real existieren, auch denjenigen, die auf ihn zukommen. Wie verhält sich dieser Senat in der Wirtschafts- und Finanzkrise? Wie geht Berlin als Metropole mit seiner ökologischen Verantwortung um? Das Wort „Klimaschutz“ kam nur einmal bei Ihnen vor. Wie wollen Sie sozialen Spaltungen entgegenarbeiten, dafür sorgen, dass Berlin tatsächlich eine Stadt für alle, die hier leben, wird, eine Stadt, in der alle Menschen ihren Platz finden und ihre Potenziale entfalten können? Eine Stadt, in der die Mieten bezahlbar bleiben, sodass sie mit den Einkommen der Berlinerinnen und Berliner auch Schritt halten? Welche
Perspektiven bietet Berlin den jungen Menschen, die hierherkommen oder hier aufwachsen? Mit welchen Ideen schafft es Berlin, wirtschaftlich voranzukommen? Denn die schlechte Nachricht bleibt ja, dass wir auch unter Rot-Schwarz die rote Laterne bei der Arbeitslosigkeit haben.
Und die Berliner Wirtschaft wird sich weiterentwickeln, keine Frage. Allerdings, fürchten wir, wird die Berliner Wirtschaft hinter ihren Möglichkeiten bleiben, wenn die Politik nicht mitzieht. Es fehlen die Impulse, die Initiativen. Die Entwicklung von Tegel ist eine Chance, aber Sie nutzen diese Chance nicht. Die Entwicklung von Tempelhof steht in den Sternen. Sie haben das alles nur als Beschwörungsformel vorgetragen, aber bis heute keinerlei konkrete Ideen vorgetragen.
Das ist das Strickmuster dieser Regierung: kleine Maschen, große Löcher. Das einzig Konkrete ist die Einführung der sogenannten Brötchentaste, ansonsten Fehlanzeige im Wirtschaftsprogramm. Verbindliche Schritte zur Einführung der Green Economy, die in Deutschland die meisten Arbeitsplätze schafft: auch Fehlanzeige. Da sind zwar die meisten Energie- und Automobilkonzerne weiter als Sie, 42 000 Arbeitsplätze in Berlin, die man verdoppeln könnte, aber dazu kein Wort von Ihnen.
Elektromobilität steht ganz oben auf Ihrer Liste. Auch wir sehen die Chancen von Elektromobilität auf Arbeitsplätze, auf klimafreundliche Mobilität hier in der Stadt, mit Car-Sharing, Elektroautos, Elektrorädern usw. Aber nutzen Sie diese wirtschaftlichen Chancen auch? Das Konzept kennt kaum einer in der Stadt. Wo ist diese Gesamtlösung, die im Schaufenster präsentiert werden soll, wie Sie es gesagt haben? Der Bewerbungsschluss 15. Januar drängt. So richtig kennt niemand das Konzept. BadenWürttemberg unterstützt die eigene Bewerbung mit einer riesigen Landesinitiative. Meine Frage lautet: Was tut eigentlich Berlin? Es werden nur drei bis fünf der erwarteten Anträge überhaupt genehmigt. Und sich darauf zu verlassen, dass Berlin qua Hauptstadt dabei vorkommt, wäre grob fahrlässig. So kann man nur hoffen, dass das Engagement und der Erfolg stärker aus den Verbänden, aus der Wirtschaft getragen ist als von Ihnen, denn nur so wird das tatsächlich etwas werden. Frau von Obernitz, Sie können sich warm anziehen, denn wenn das platzt mit der Bewerbung, dann erinnern Sie sich sicherlich daran: Für das Gute und Schöne ist der Regierende Bürgermeister, für das Scheitern der Koalitionspartner zuständig.
Aber vielleicht muss man das ja aus Ihrer Sicht auch alles gar nicht machen: keine modernen Technologien, keine Elektromobilität. Wenn man Sie so hört, könnte man denken, dass Sie ernsthaft meinen, es würde reichen, einen Flughafen zu eröffnen und drei Kilometer Auto
bahn zu bauen, und damit sei die Wirtschaftspolitik erledigt. Wie Sie den Flughafen in Schönefeld allerdings politisch durchsetzen, das finde ich schon beschämend. Es lässt einen den Kopf schütteln, dass das Gutachten des Umweltbundesamts auf Druck des Verkehrsministeriums nicht veröffentlicht werden durfte. Sollte sich diese Vermutung bestätigen, ist das nicht nur ein Skandal, sondern die Fortsetzung von Intransparenz, Geheimhaltungstaktik und Unehrlichkeit um die Flugrouten beim Flughafen, an der Sie als Landesregierung auch beteiligt gewesen sind.
Während Sie hier schon fröhlich die Eröffnungsparty des Flughafens planen, verkennen Sie, dass Sie mit Ihrem Politikstil die Akzeptanz des Flughafens beschädigen. Und wenn Sie sich heute hier hinstellen und sagen: Die Mehrheit will den Flughafen, und die Minderheit, die betroffen ist und protestiert, sollte einfach gefälligst Ruhe geben –, dann ist das ungehörig und ein Politikstil von vorgestern.
Natürlich muss der Flughafen wirtschaftlich sein und die wirtschaftliche Entwicklung in der Stadt unterstützen. Aber für uns als Politikerinnen muss doch auch gelten: Der Lärmschutz für die Menschen muss Vorrang vor der Gewinnmaximierung des Flughafens haben. Dafür sollten Sie sich einsetzen. Das schulden Sie den Menschen, aber gut. Der alte Klaus Wowereit ist wieder da.
Was ist das für eine Wirtschaftspolitik, wenn zwar der Weiterbau der A 100 vorangetrieben wird, aber gleichzeitig die Substanz der Berliner Straßen gefährdet ist? Der Instandhaltungsrückstau beträgt knapp 300 Millionen Euro, das hat Ihre Verwaltung aufgeschrieben, Herr Müller. Wie soll das alles instand gesetzt werden? Heute schon ist die A 100 die am stärksten befahrene deutsche Autobahn, wie die letzte Verkehrszählung gezeigt hat. Eine weitere Zunahme um 30 000 Fahrzeuge durch den Weiterbau – dann stehen alle im Dauerstau auf der A 100. Ist das Ihr Weiterausbau? Das ist Dauerstau! – Na dann gute Fahrt!, kann man Ihnen nur wünschen.
Und ganz gleich, ob diese Autobahn kommt oder nicht – so einfach kann man es sich nicht machen. Die Frage nach der Infrastruktur einer Großstadt und welche Investitionen man braucht, um voranzukommen mit einer Großstadt – das entscheidet sich an der Geldfrage, wenn man das Geld hat, wofür man es schon ausgegeben hat –, diese Frage stellen Sie sich offensichtlich nicht. Die Investitionen in die Energiewende, in die energetische Sanierung der Gebäude, die wir brauchen, um neue Technologien zu entwickeln, Arbeitsplätze fürs Handwerk zu schaffen und ökologisch voranzukommen.
Investitionen in Wissenschaft und Forschung, die Vorrang haben sollten! Aber wieder wird bei dieser Koalition die Charité infrage gestellt. Schlichtweg zu sagen, das Problem soll der Bund uns abnehmen mit der Fusion mit dem Max-Delbrück-Centrum – da machen Sie es sich zu einfach. Auch Berlin muss für seinen Leuchtturm Charité einstehen.
Was ist mit Investitionen in neue Mobilitätskonzepte, in moderne Energienetze, in Datenautobahnen? Doch statt an smarte Netze und virtuelle Kraftwerke denken Sie bei Infrastruktur immer nur an den Betonmischer, Herr Wowereit!
Sie haben es heute wieder gesagt, so sehen Sie die Dinge: Die Wirtschaft ist für die Innovationen und die Politik für den Beton zuständig. Da sind sogar die Chefetagen von Energiekonzernen grüner als Sie. Da passt es nur ins Bild, dass Klimaschutz einmal vorkam, das Wort Energiewende zweimal und dass wir uns im Ländervergleich bei den erneuerbaren Energien auf dem hinteren Platz befinden, Herr Wowereit. Die Einleitung der Energiewende würde die regionale Wertschöpfung erhöhen, denn Energieeffizienzanlagen und Wärmedämmung werden von Berliner Handwerksbetrieben angebracht und ersetzen Rohstoffimporte.
Die Einleitung der Energiewende in Berlin würde uns unabhängiger machen von Öl und steigenden Energiepreisen. Und auch das ist eine soziale Frage. Das ist gerade für einkommensschwache Haushalte besonders wichtig, die ansonsten einen immer höher werdenden Teil ihres Einkommens für steigende Energiepreise und Betriebskosten aufwenden müssen. Doch Rot-Schwarz behandelt den Klimaschutz als ein weiches Thema, zu dem man ein paar warme Worte findet und vielleicht ein Gesetz machen kann, das wirkungslos bleibt. So wird das nichts, Herr Wowereit!
Sie haben kaum ein Wort darüber verloren, wie Sie mit diesen großen Herausforderungen umgehen wollen. Und da stellt sich die Frage: Kann Regieren ohne jede Zukunftsperspektive eigentlich gutes Regieren sein? – Den Beweis sind Sie heute schuldig geblieben.
Und wenn Sie schon nicht so viel von Zukunftsideen halten – das kann man nach zehn Jahren ja auch verstehen, dass Ermüdungserscheinungen eintreten –, dann zeigen Sie wenigstens in ganz lebenspraktischen Bereichen, dass Sie regieren können!
Seit Jahren müssen die Berlinerinnen und Berliner damit leben, dass die S-Bahn unpünktlich ist, Züge ausfallen, ganze Stadtteile nicht bedient werden. Es gibt Postkarten
mit dem Spruch: Die vier Feinde der Berliner S-Bahn: Winter, Frühjahr, Herbst und Sommer. – Dass diese Karten geschicktes Be-Berlin-Marketing sind, wage ich zu bezweifeln.
Und als letztens ein Totalausfall die Berliner S-Bahn für Stunden lahmlegte, fiel Ihnen, Herr Regierender Bürgermeister, nichts Besseres ein, als zu sagen: Das kann ja mal vorkommen. – Da war er wieder, der Glatteis-Klaus, dem es egal zu sein scheint, dass die Berlinerinnen und Berliner nicht zur Arbeit kommen, weil die S-Bahn mal wieder nicht fährt. Von wegen „Berlin verstehen“!
Im Wahlkampf noch voll Fahrt wie ein Duracell-Männchen, jetzt sind Sie wieder im Energiesparmodus. Ein Beitrag zum Klimaschutz ist das ja nicht.
Welche Lösung haben Sie eigentlich für das anhaltende S-Bahn-Chaos? – Ich spare mir, jetzt das etwas längere Nichts aus Ihrer Regierungserklärung zu zitieren: Bei der Entscheidung über den Betrieb sind die Rechtssicherheit, die Interessen von diesem, jenem, die Kosten, die Betriebs- und die Rechte Berlins usw. zu berücksichtigen. – Was bedeutet das denn? Sie haben heute gesagt, die Bahn will nicht verkaufen. Was für eine Überraschung! Die SPD hat wohl jetzt ein Problem, weil sie ja den Kauf so gern wollte. Obwohl Sie mit der Neuerwerbung dann gar nichts anfangen könnten, weil die Ausschreibungsrichtlinien das gar nicht erlauben! Die CDU hat ein Problem, weil sie an die Bahn direkt vergeben möchte. Den Weg der Direktvergabe hat der Bundesgerichtshof Ihnen aber versperrt. Und die Zeit läuft uns allen davon. Ab 2017 brauchen wir eine neue Lösung für die S-Bahn. Und wir wissen alle, wir brauchen fünf Jahre. Ich würde sagen: Kommen Sie aus Ihren ideologischen Gräben heraus, schenken Sie den Leuten reinen Wein ein, und legen Sie endlich Ihre Pläne auf den Tisch und blocken nicht immer in der Frage; das hilft keinem mehr weiter!
Nachdem Sie jahrelang die größte soziale Frage in der Stadt verschlafen haben, war es heute auch unsortiert, wenn ich das sagen darf, Herr Regierender Bürgermeister!
Zum einen finden Sie es richtig, dass die Mieten steigen, weil das gut für die Stadt sei. Andererseits haben Sie sich mit Vehemenz an anderer Stelle Ihrer Rede dafür eingesetzt, dass man die Mietentwicklung eindämmen muss in der Stadt. Ich weiß nicht so richtig, was jetzt Ihre eigene Ansicht dazu ist. Ich kann Ihnen nur sagen: Solange die Mieten steigen und die Einkommen der Berlinerinnen damit nicht Schritt halten, ist das nicht gut für Berlin, sondern schlecht für die Mieterinnen und Mieter in dieser Stadt.
Für Sie ist Neubau das entscheidende Instrument, um den Mietanstieg zu bremsen und bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. So weit ist sich die Koalition noch einig. Das Problem ist aber, dass Neubau zurzeit teuer ist und die Frage sich stellt: Wie können wir durch Neubau Mieten erzielen, die bezahlbar sind, auch für einkommensschwache Berlinerinnen und Berliner? Hier fangen Ihre Probleme an. Die CDU setzt auf private Investoren und auf eine wie auch immer geartete Förderung. Ich will das böse W-Wort wie Wohnungsförderung oder gar Anschlussförderung ja nicht in den Mund nehmen. Das sollte uns aus Erfahrung erspart bleiben. Die SPD dagegen will den Wohnungsbestand bei den Wohnungsbaugesellschaften erhöhen. Herr Müller! Ich habe mit großem Interesse Ihr Interview kürzlich gelesen. Den Taschenspielertrick, dass Sie schlicht die 20 000 Wohnungen der BIH, die uns ja gehört, in die Wohnungsbaugesellschaften überführen wollen, werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Was bleibt übrig? – Ankündigungspolitik und sonst wenig. Es sollen zwar Wohnungen gebaut werden, und wir brauchen auch welche – ja, da haben Sie recht. Aber von wem sie gebaut werden, wie und wo sie gebaut werden, das steht alles in den Sternen.
Wo Sie direkt handeln könnten, tun Sie nichts, um den Druck vom Wohnungsmarkt wegzunehmen. Alle konkreten Instrumente, die Sie zur Anwendung bringen könnten, wollen Sie noch ewig prüfen, wie Sie so ziemlich viel prüfen wollen in Ihrem Koalitionsvertrag. Das heißt z. B., dass ein Verbot der Zweckentfremdung noch lange auf sich warten lassen und dadurch der Wohnraum immer knapper wird, weil immer mehr Wohnungen zu Gewerbe- und Ferienwohnungen umgewandelt werden. Eine neue Liegenschaftspolitik oder ernst zu nehmende Vorstöße auf Bundesebene werden ebenfalls verschoben. Wie lange wollen Sie sich eigentlich noch Zeit lassen? Merken Sie nicht, dass uns die Zeit in dieser Frage davongaloppiert? Oder darf man Sie bald auch schon mit „Frau Junge-Reyer“ ansprechen, die das ja auch alles immer nur in die Länge gezogen hat?
Sie wollten den Schulfrieden hier in der Stadt und haben wochenlang niemanden gefunden, der für Frieden sorgen wollte. Die Schulen ächzen unter den Reformen der letzten Jahre. Doch wo bleibt die Unterstützung für die Schulen? Ihre Regierungserklärung enthält viele Allgemeinplätze und Selbstverständlichkeiten und bleibt bei den wirklichen Problemen wie Lehrermangel oder auch bei der großen Frage der Inklusion eine Antwort schuldig. Soll das nur ein Randthema bleiben, oder wird das Thema von Ihnen ernsthaft angegangen? Wir erleben hier keine neuen Akzente in der Bildungspolitik, sondern die Politik
Seit geraumer Zeit weiß der Senat, dass in Berlin Kitaplätze fehlen. Es fehlen bis 2015 fast 23 000 Kitaplätze in der Stadt. Gleichzeitig versprechen Sie in Ihrem Koalitionsvertrag, dass das Kitaparadies demnächst in Berlin einziehen wird. Jedes Kind soll einen Platz bekommen. Es soll genügend Personal bereitstehen. Die Beitragsfreiheit selbstverständlich, flexible Betreuungszeiten und natürlich eine hohe Qualität! Da fragt man sich schon, wie Sie eigentlich dahin kommen wollen. Davon sind wir nämlich weit entfernt. Die Unterlegung haben wir auch noch nicht gesehen. Auch hier wird geprüft und gewartet und in die Länge gezogen. Anstatt sich jetzt in das Wolkenkuckucksheim der Kitapolitik zurückzuziehen, sollte Rot-Schwarz endlich die Ärmel hochkrempeln und hier an die Arbeit gehen.