Protokoll der Sitzung vom 03.03.2016

(Oliver Friederici)

Entschuldigung, Herr Kollege, dass ich unterbreche! – Noch mal einen Hinweis an die Fotografen auf der Pressetribüne: Das Fotografieren der Unterlagen der Abgeordneten ist hier untersagt. Ich sage das jetzt noch mal klar an und bitte Sie, damit aufzuhören. – Vielen Dank! – Herr Kollege Baum, setzen Sie fort!

Bei solchen Entwicklungen ist es eben nicht verwunderlich, wenn hier die Initiative ergriffen wird, um genau solche Entwicklungen zu korrigieren. Daher fordere ich Sie auf, Herr Geisel, dass Sie sich intensiv mit den Zielen des Volksentscheids beschäftigen. Bitte überlegen Sie aber nicht, warum dieses oder jenes nicht geht, sondern treten Sie in den Dialog, begründen Sie bestimmte andere Ansichten, die Sie möglicherweise haben! Möglicherweise kommt man dann auch gemeinsam zu neuen Erkenntnissen.

Genau das passiert nämlich auch beim Fahrradvolksentscheid. Die Initiatoren sind in den Dialog getreten, auch z. B. mit dem FUSS e. V. Genauso kann es nämlich vorangehen, dass man gemeinsam zu sinnvollen Veränderungen kommt, die dann von einer breiten Unterstützung getragen werden und auch verfolgt werden.

Es gibt aber hier im Haus durchaus Veränderungen. Man denke nur daran, wie ich belächelt wurde, als ich 2012 das erste Mal von Radschnellwegen hier im Hause sprach. Letztes Jahr in den Haushaltsberatungen im Hauptausschuss gab es einen einstimmigen Beschluss von allen Fraktionen, dass eine Machbarkeitsstudie beauftragt wird, wie dies an drei beispielhaften Routen in Berlin umgesetzt werden kann. Der Radverkehrsvolksentscheid kann genau solch eine Entwicklung unterstützen und vorantreiben.

[Beifall bei den PIRATEN – Zuruf von Stefan Gelbhaar (GRÜNE)]

Zum Thema „Verantwortung in den Bezirken“ – da muss auch viel passieren –: An anderer Stelle funktioniert es ja auch, dass eine große Koalition durchaus zeigt, dass sie die Möglichkeiten hat und auch weiß, wie es geht, wenn man bestimmte Regelungen in den Bezirken sieht oder sieht, wo Bezirke überfordert sind, und dann eben korrigierend eingreift. Ich nenne nur mal das Thema Bürgerämter, eine originäre Aufgabe der Bezirke, wo es derzeit Probleme gibt, wo sie Unterstützung benötigen, und der Senat in der Lage ist, mit dieser großen Koalition dort korrigierend einzugreifen und zu sagen: Wir stellen hier Möglichkeiten und Mittel zur Verfügung, damit sich diese Situation verbessert, natürlich auch getrieben im Hinblick auf die Wahlen dieses Jahr, sodass diese dann auch sinnvoll stattfinden können. Genau das ist eben auch beim Thema Radpolitik möglich, man muss es nur wollen.

[Beifall bei den PIRATEN – Beifall von Stefan Gelbhaar (GRÜNE)]

Eine Mobilitätsform, die von 2001 bis 2014 über 50 Prozent gewachsen ist, ist eben nicht so einfach abzuspeisen, wie es derzeit von Ihnen rüberkommt, Herr Geisel! Ich denke, da gibt es noch viele Möglichkeiten, miteinander ins Gespräch zu kommen. Möglicherweise kommt man bei der einen oder anderen Forderung zu der Erkenntnis, wie man diese gemeinsam am sinnvollsten umsetzen kann. Ich würde mich freuen, wenn das gelingt. Sie merken, es gibt ein originäres und inzwischen sehr stark und ausführlich ausformuliertes Interesse, genau hier zu Veränderungen zu kommen. Deswegen fordere ich Sie auf, Herr Geisel, treten Sie in den Dialog mit den Initiatoren des Fahrradvolksentscheids ein!

[Beifall bei den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Vielen Dank! – Für den Senat hat jetzt Herr Senator Geisel das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Baum! Ich möchte Ihr Bild von den offenen Augen gerne aufgreifen. Wer mit offenen Augen durch Berlin geht, sieht, wie viel sich gerade in den letzten Jahren verändert hat. Der Anteil des Fahrradverkehrs ist dramatisch gestiegen. Wer sich die Situation in Erinnerung ruft, wie sie beispielsweise im Jahr 2000 war, und das mit der Situation heute vergleicht, der sieht, dazwischen liegen Welten. Und das ist kein Zufall.

Ja, das Mobilitätsverhalten hat sich verändert, Fahrradfahren ist wesentlich wichtiger geworden, aber dass der Anteil in der Stadt so stark gestiegen ist, hat auch etwas damit zu tun, dass seit 2000 200 km neue Radfahranlagen und Schutzstreifen an den Hauptverkehrsstraßen der Stadt gebaut worden sind. Davon sind allein 100 km in den letzten fünf Jahren entstanden. Hinzu kommt die Sanierung von 100 km weiterer Fahrradanlagen in den letzten Jahren. Es sind 27 000 Fahrradabstellanlagen an den Bahnhöfen des ÖPNV entstanden. Ich könnte die Liste hier noch fortsetzen. Also die Stadt verändert sich, Mobilität in der Stadt verändert sich.

Ich war in der vergangenen Woche in Amsterdam, um mich dort über den Ausbau der Fahrradstadt Amsterdam zu informieren. Was fällt auf? – Zunächst mal fällt auf das wesentlich entspanntere Verhalten, die wesentlich entspanntere Sicht der Amsterdamer auf Berlin, also diese miesepetrige Sicht der Opposition auf unsere Stadt wird dort nicht geteilt.

[Martin Delius (PIRATEN): Sie sind Antiberliner!]

Das Originalzitat meiner Kollegin aus Amsterdam war: Fahrradfahren in Berlin macht doch Spaß. – Das mag die Sicht von außen sein.

[Zurufe von den GRÜNEN und den PIRATEN – Lachen von Joachim Esser (GRÜNE)]

Es gab durchaus weitere Erkenntnisse, die dort zu gewinnen sind, beispielsweise können wir wesentlich mehr beim Fahrradparken tun. Brauchen wir weitere Fahrradparkhäuser in der Stadt? Staatssekretär Gaebler hat am Wochenende gerade eine Fahrradabstellanlage am SBahnhof Pankow eröffnet. In diesem Jahr werden wir noch weitere Fahrradparkhäuser vor allem in SteglitzZehlendorf bekommen, aber da kann man tatsächlich mehr machen. In Amsterdam ist zu sehen, wie das geht. Da können und müssen wir mehr tun.

Aber Amsterdam ist in der Tat eine richtige Fahrradstadt. Ich will Ihnen einen Eindruck schildern, den ich hatte, als ich aus dem Gebäude auf den Bürgersteig trat. Unmittelbar davor befinden sich diese Fahrradstreifen.

[Zurufe von der LINKEN]

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich ein bisschen um Ruhe bitten dürfte – dem ist hier auch schwer zu folgen.

[Zurufe von den GRÜNEN und der LINKEN]

Da in Amsterdam sehr viele Menschen Fahrrad fahren, sind da Unmengen von Fahrradfahrern unterwegs. Und ich habe gedacht, ein Glück, dass ich noch recht beweglich bin, ein Glück, dass ich noch gut sehen kann, ein Glück, dass ich nicht beispielsweise schwerhörig bin oder nicht gut schauen kann. Was passiert eigentlich mit älteren Menschen? Was passiert eigentlich mit Menschen, die mit dem Rollator unterwegs sind? – Die Kollegen aus Amsterdam sagen in der Tat: Bei Barrierefreiheit ist in Amsterdam noch viel zu tun. Die Fahrradstadt Amsterdam gibt darauf keine Antwort.

[Beifall von Ole Kreins (SPD) – Marion Platta (LINKE): Berlin auch nicht! – Zurufe von den GRÜNEN]

Wenn man sich genauer damit beschäftigt, stellt man auch fest, warum. Beispielsweise ist die größte Altersgruppe in Amsterdam im Alter zwischen 20 und 34 Jahren. In Berlin ist die größte Altersgruppe zwischen 40 und 59 Jahren. Also Amsterdam ist eine volle Generation jünger als wir.

[Joachim Esser (GRÜNE): Das wird sich auch nicht ändern!]

Die Frage, wie wir mit dem demografischen Wandel in Berlin umgehen, was eigentlich mit der Mobilität von älteren Menschen ist, stellt sich so gravierend in Amsterdam noch nicht, bei uns aber schon.

Es wird auch der Unterschied der Dimensionen deutlich. Amsterdam hat etwa ein Viertel der Größe von Berlin. 800 000 Einwohner, Fläche 25 Prozent, also etwa so groß wie drei Berliner Bezirke.

[Carola Bluhm (LINKE): Ich verstehe den Zusammenhang nicht!]

Da haben Sie natürlich auch andere Entfernungen zu überwinden. Also dort ist die klare Ansage: Menschen entscheiden sich für das Fahrradfahren, wenn die Wege so zwischen 5 und 7 km Entfernung haben. Das ist eine andere Situation als in Berlin. Das heißt, wenn wir über Fahrradgerechtigkeit in der Stadt reden, reden wir in Berlin über fahrradgerechte Stadtteile.

[Lachen von Jutta Matuschek (LINKE)]

Fahrradgerechte Stadt in der Gesamtausdehnung Berlins ist eine ganz andere Herausforderung. Und dann wird auch deutlich, dass das Fahrrad in Amsterdam tatsächlich die Alternative zum Auto ist, weil der öffentliche Personennahverkehr längst nicht so leistungsfähig ist wie in Berlin. Also Fahrradstadt Amsterdam ist notwendig, weil der öffentliche Personennahverkehr nicht so ausgebaut ist, nicht so getaktet ist wie in Berlin, nicht so schnell ist wie in Berlin und lange nicht so umfassend zur Verfügung steht wie in unserer Stadt.

[Zuruf von Steffen Zillich (LINKE)]

Und deshalb sind auch diese Aufrechnungen, wie viele Euro pro Einwohnerin/Einwohner ausgegeben werden, überhaupt nicht schlüssig. Denn wenn Sie es ausschließlich darauf reduzieren, wieviel für Fahrradfahren ausgegeben wird, aber nicht einberechnen, wieviel wir Berlinerinnen und Berliner für den öffentlichen Personennahverkehr ausgeben, dann entsteht ein völlig schiefes Bild.

[Beifall bei der SPD – Zuruf von Ajibola Olalowo (GRÜNE)]

Ich halte fest: Amsterdam ist eine Fahrradstadt, aber keine Stadt des öffentlichen Personennahverkehrs. Wir haben in Berlin einen integrierten Verkehrsansatz. Das heißt, die Kombination aus den verschiedenen Mobilitätsarten ist wichtig.

[Alexander Spies (PIRATEN): Schön wär’s!]

Interessant war übrigens auch die Diskussion zu den Zeiträumen. In welchen Zeiträumen hat sich die Stadt Amsterdam in eine Fahrradstadt verwandelt? – Die Diskussion ging dort Mitte bis Ende der Siebzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts los. Dort wird eingeschätzt, dass der Diskussionsprozess etwa 30 Jahre gebraucht hat. Berlin braucht nicht so lange. Wir müssen ja nicht alles neu erfinden,

(Senator Andreas Geisel)

[Stefan Gelbhaar (GRÜNE): Das erscheint mir anders!]

aber man hält fest: Die Umverteilung des öffentlichen Raums braucht Zeit.

Ich will das anhand eines Beispiels erläutern. Im Moment ist eine heftige Diskussion zur Begegnungszone in der Maaßenstraße und zu unseren Plänen, eine weitere Begegnungszone in der Bergmannstraße einzurichten, im Gange. Verstehen Sie das nicht falsch! Ich glaube, es ist notwendig, diese Begegnungszonen zu schaffen und den öffentlichen Raum umzuverteilen. Aber wenn wir uns anschauen, welche Diskussion schon diese relativ kurzen Strecken hervorrufen und in welcher Heftigkeit dort mit den Anwohnerinnen und Anwohnern diskutiert wird, wird deutlich, dass man das nicht per Gesetz für die ganze Stadt verordnen kann. Wir müssen eine intensive Diskussion führen. Wir müssen die Menschen überzeugen, mit uns auf diesen Weg zu gehen.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Zur Begegnungszone in der Maaßenstraße: Dort wird von den Anwohnern und Gewerbetreibenden das Argument verwendet, es säßen zu wenige Menschen draußen, es gäbe keine Öffentlichkeit im öffentlichen Raum mehr. Das ist angesichts der Zeiträume, über die wir diskutieren – Januar, Februar –, an den Haaren herbeigezogen. Wir sollten uns mehr Zeit lassen. Das ist gerade im Hinblick auf den Radverkehr wichtig, denn auch der ist witterungs- und jahreszeitenabhängig. Die Kritik an der baulichen Ausgestaltung der Begegnungszone in der Maaßenstraße ist durchaus berechtigt. Aber ich sage auch deutlich: Wir haben das provisorisch ausgestaltet, damit wir lernen und Veränderungen vornehmen können. Das alles sind Dinge, die Zeit zum Diskutieren brauchen.

Diese Zeit wollen sich aber die Initiatoren des Volksbegehrens nicht nehmen. Deshalb kritisiere ich die Ansätze des Volksbegehrens an dieser Stelle sehr deutlich. Das Ziel, an allen Hauptverkehrsstraßen Berlins Radspuren und -wege einzurichten und dafür eine Fahrspur für den Autoverkehr wegfallen zu lassen, ist wohlfeil. Es bedeutet im Umkehrschluss aber den Wegfall von etwa 60 000 Autostellplätzen in der Stadt. Wir sind uns einig: Das Mobilitätsverhalten in Berlin verändert sich. Es ist notwendig, den öffentlichen Raum umzuverteilen, aber ich bin der Überzeugung, dass nicht jeder Parkplatz und jede Ladezone an Hauptverkehrsstraßen überflüssig ist. Sie sind notwendig, wenn wir kleine Gewerbetreibende in den Hauptverkehrsstraßen Berlins weiterhin fördern wollen.

[Stefan Gelbhaar (GRÜNE): Quatsch!]

Diese Veränderungen müssen individuell ausgehandelt werden. Sie können nicht per Gesetz verordnet werden. Die Grünen haben ihre Erfahrung mit dem Veggie-Day gemacht. Da hat sich in der Vergangenheit viel verändert.

Es ist aber deutlich geworden, dass der Ansatz, erwachsenen Menschen etwas politisch zu verordnen, von dem man selbst überzeugt ist, und mit Verboten zu arbeiten, falsch ist.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Der gleiche Fehler wird jetzt aber wieder gemacht. Ich bin der Auffassung, wir können nicht mit Verboten argumentieren, sondern wir müssen überzeugen und diskutieren. Wir können das nicht festlegen und die Menschen zwingen, sondern wir müssen die Menschen über Angebote mitnehmen.

[Zuruf von Stefan Gelbhaar (GRÜNE)]