Protokoll der Sitzung vom 23.06.2016

(Antje Kapek)

Das ist die Hauptstadt dieser Republik. Das ist die Hauptstadt, die ein weltoffenes, ein zukunftsorientiertes Deutschland repräsentiert. Das ist das Berlin, auf das die ganze Welt schaut und das ein Sehnsuchtsort für alle ist, die Vielfalt und Freiheit lieben.

Es war eine gute Entscheidung, dass Berlin vor 25 Jahren Hauptstadt und später Regierungssitz geworden ist. In diesen 25 Jahren hat Berlin verschiedene Entwicklungsphasen durchgemacht. Zuerst waren wir die Hauptstadt der Armut. Die Subventionen fielen weg. Die Währungsunion löschte die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft aus. Die Privatisierungspolitik der Treuhand zerstörte die Substanz der Wirtschaft in traditionsreichen Berliner Industriezentren wie Oberschöneweide und Stralau. Auch im Westen Berlins wurden nach dem Wegfall der Berlinzulage zahlreiche Industriearbeitsplätze vernichtet. Insgesamt fielen in Berlin in den Nachwendejahren mehr als 200 000 Arbeitsplätze in der Industrie weg. Die Arbeitslosigkeit schnellte in die Höhe, und aus den Hoffnungen der Wiedervereinigung wurden für viele Menschen Ängste und sozialer Abstieg. Wir dürfen die Verliererinnen und Verlierer des Wandels nicht vergessen.

Auch heute gilt es, die Schattenseiten von Veränderungen zu bedenken. Vor 25 Jahren war ich 14 Jahre alt und noch weit davon entfernt, politische Verantwortung zu tragen. Wenn ich heute zurückblicke, dann tue ich das mit der Distanz einer neuen Generation. Aus der Sicht von heute muss man viele Entscheidungen der Anfangsjahre kritisch bewerten: die hohe Neuverschuldung, den Bankenskandal, den massenhaften Verkauf von Wohnungen, die Privatisierung der Wasserbetriebe und der GASAG. Auf der anderen Seite stehen aber auch Errungenschaften aus dieser Zeit: die Wiederherstellung der Verkehrsinfrastruktur für die ganze Stadt, die schnelle Angleichung der Gehälter im öffentlichen Dienst, die Bezirksreform. Es war eine schwierige Ausgangslage. Es wurden damals Fehler gemacht. Aber es wurde auch unendlich viel geleistet, um die innere Einheit Berlins zu wahren.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Meine Generation baut auf das auf, was unsere Vorgängerinnen und Vorgänger geschaffen haben. Deshalb gelten mein Respekt und Dank den damaligen Abgeordneten und allen, die politische Verantwortung im Land und in den Bezirken trugen.

Nach der Hauptstadt der Armut wurde Berlin immer mehr zur Hauptstadt der Coolness. Klaus Wowereit fasste das mit dem Spruch „Arm, aber sexy“ zusammen.

[Thomas Birk (GRÜNE): Hauptstadt der Kinderarmut!]

Aus den Schwächen Berlins wurden plötzlich Stärken. Günstige Mieten zogen Künstler und später Start-ups in die Stadt. Die Freiräume in Berlin waren spürbar. Die

Kulturlandschaft wurde trotz harter Konsolidierung gepflegt.

[Stefan Gelbhaar (GRÜNE): Hat Müller alles schon erzählt!]

Die Entscheidung, drei Volluniversitäten zu unterhalten, machte Berlin zur beliebtesten Studentenstadt Deutschlands. Die Strategie der Vernetzung von Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung brachte neue Perspektiven. Mit Adlershof gelang ein Vorzeigestandort für Technologie und Forschung. Die Politik jener Jahre war beharrlich und manchmal schwierig, aber sie war erfolgreich.

Deshalb sind wir zu einer wachsenden und boomenden Stadt geworden. Nicht nur unsere Wirtschaft wächst, sondern jedes Jahr kommen 40 000 Menschen nach Berlin. Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie noch nie nach der Wende. Das Lohnniveau verbessert sich, wenn auch nicht in allen Bereichen.

[Sabine Bangert (GRÜNE): Hauptstadt der prekären Beschäftigungsverhältnisse!]

Der Tourismus ist eine starke Säule unserer Wirtschaft geworden. Berlin ist eine Stadt für Messen und Veranstaltungen. Das produzierende Gewerbe hat sich auf niedrigem Niveau erholt. Berlin ist Heimat einer lebendigen Start-up-Szene. Die wachsende Stadt, das ist eine neue Phase in der Entwicklung Berlins. Wieder verändert sich unsere Stadt in atemberaubendem Tempo, aber ich rate auch zur Nachdenklichkeit. Wir dürfen nicht nur die Vorteile des Wandels feiern, wir müssen auch die Schattenseiten sehen. Nur dann können wir Probleme beheben und für eine höhere Akzeptanz werben.

Die Mieten sind gestiegen, sodass die Mittelschicht in Berlin von höheren Gehältern zu wenig profitiert. Viele Menschen wurden und werden aus den Innenstadtbezirken an die Ränder der Stadt verdrängt. Viele der neuen Jobs im Tourismus- und im Dienstleistungssektor sind schlecht bezahlt und prekär. Nach 25 Jahren als Hauptstadt stellen sich zu viele Menschen die Frage: Kann ich morgen und übermorgen noch sicher leben, in sozialer Sicherheit, aber auch in einer friedlichen Gesellschaft?

Die politische Generation vor 25 Jahren hatte die Aufgabe, die Spaltung von Ost und West zu überwinden. Nach Jahrzehnten der Teilung und des Gegeneinanders mussten in Europa Feindbilder überwunden werden. Heute hat unsere Generation neue Aufgaben. Es geht darum, die Spaltung unserer Gesellschaft zu verhindern.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU – Beifall von Canan Bayram (GRÜNE)]

Es gibt ein aufgeheiztes Klima. Es gibt ein gespaltenes politisches Klima, nicht nur, aber auch in Berlin. Viele falsche Tabubrecher sind unterwegs. Sie suchen sich ständig neue Sündenböcke. Erst waren die Griechen, dann die Journalisten, dann die Flüchtlinge, dann die

Muslime und jetzt sind offenbar Menschen mit dunkler Hautfarbe das Ziel ihrer Hetze. Mittlerweile zeigt sich ganz klar: Es geht ihnen nicht darum, falsche gesellschaftliche Tabus zu brechen; es geht ihnen darum, Rassismus wieder hoffähig zu machen. Darum geht es ihnen!

[Beifall bei der SPD]

Viele Bürgerinnen und Bürger sorgen sich um den inneren Frieden in unserer Stadt. Deshalb sage ich: Ja, wir müssen das Gespräch mit allen in der Bevölkerung suchen, auch und gerade mit Anhängern der AfD, aber wir dürfen ihnen nicht nach dem Mund reden. Wir müssen Haltung bewahren und deutlich machen: Berlin ist nicht durch Abschottung stark geworden, Berlin ist durch Offenheit stark geworden!

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU und den GRÜNEN – Beifall von Heiko Herberg (PIRATEN)]

Wir sind eine Metropole im Herzen Europas – nicht nur im geografischen Sinne. Das Projekt der europäischen Einigung ist untrennbar mit Berlin verbunden. Wie keine andere Metropole haben wir unter der Spaltung Europas, die unsere Stadt in zwei Teile trennte, gelitten. Und wie kein anderer Ort symbolisiert das wiedervereinte Berlin das neue Europa. Deshalb lässt es uns nicht kalt, wenn die Bürger Großbritanniens heute darüber abstimmen, ob dieses Europa stärker wird oder geschwächt wird. Auch wenn Europa und die EU unpopulär sind, müssen wir immer wieder deutlich machen, dass Europa Fortschritt bedeutet und dass Nationalismus ins Verderben führt.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU und den GRÜNEN – Beifall von Heiko Herberg (PIRATEN)]

Unsere Stadt kann ein Labor und ein Vorbild für ein versöhnliches, friedliches Miteinander sein. Denn bei uns hat sich eine Gesellschaft geformt, die nicht durch Religion oder Herkunft zusammengehalten wird, sondern durch die Werte der Toleranz, der Vielfalt und der Freiheit. Diese Unterschiedlichkeit macht uns stark. Wir müssen lernen, uns in unserer Vielfalt gegenseitig auszuhalten, denn Berlin ist in den Augen vieler Menschen nicht nur eine Stadt, sondern ein Versprechen. Das Versprechen lautet, dass Berlin eine Heimat für alle sein kann, die sich hier zu Hause fühlen und etwas aufbauen wollen, eine Heimat der Mutigen.

Wenn es unserer politischen Generation gelingen soll, dieses Versprechen Berlins einzulösen, dann müssen wir weiter an den Rahmenbedingungen für eine soziale Stadt arbeiten. Nach wie vor hängt die Zukunft der jungen Menschen zu sehr von der wirtschaftlichen Situation ab, in die sie hineingeboren wurden. Jedes dritte Kind in Berlin ist arm. Ich weiß genau, was das für ein Kind bedeutet. Reichtum wird vererbt, Armut aber auch. Deshalb müssen wir als politisch Verantwortliche weiterhin

alles dafür tun, dass die Schere zwischen arm und reich wieder geschlossen wird.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben die Vision, Berlin zur familienfreundlichsten Metropole Europas zu machen. In den letzten Jahren haben wir 20 000 neue Kitaplätze geschaffen, denn die Kita ist der Ort, wo Bildung beginnen muss – spätestens da. Berlin ist mittlerweile die einzige Metropole in Westeuropa, die ausreichend bezahlbare Kitaplätze anbietet. Wir werden die Kitagebühren vollständig abschaffen, um junge Familien zu entlasten. Wir werden die Qualität der Kitas und die Betreuung für die allerkleinsten Kinder verbessern, und perspektivisch schaffen wir auch die Hortgebühren ab.

[Beifall bei der SPD]

Wir haben bereits 1 Milliarde Euro in die Schulsanierung investiert. Und ich bin froh über die Zusage des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller, in den nächsten Jahren alle Schulen anzufassen, denn Bildung bleibt die Schlüsselfrage für ein gerechtes Berlin. In manchen Gegenden, zum Beispiel in der Heerstraße Nord oder in Gegenden in Marzahn-Hellersdorf, glauben 70 Prozent der Jugendlichen nicht an ihren eigenen sozialen Aufstieg. Das macht mich traurig und wütend zugleich.

[Zurufe von den GRÜNEN]

Ich finde, alle Kinder Berlins haben eine Chance verdient.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD – Katrin Schmidberger (GRÜNE): Macht mal!]

Mit dem Brennpunkt-Schulprogramm haben wir den Anspruch formuliert, kein Kind, keinen Jugendlichen zurückzulassen.

[Beifall bei der SPD]

Wir wollen ein Berlin, dass sich die breite Mitte der Gesellschaft leisten kann. Wohnen darf nicht arm machen. In Hauptstädten wie London und Paris wurden Normalverdiener aus der Stadt vertrieben. Der wirtschaftliche Boom hat nicht zu mehr Wohlstand, sondern die allermeisten Menschen zu mehr Unsicherheit und sozialem Abstieg geführt. Das ist der Scheideweg, an dem Berlin steht.

Die erste Generation politischer Verantwortungsträger nach der Wende musste die Wunden der Teilung schließen. Die zweite Generation musste reformieren und konsolidieren. Unsere Generation muss die soziale Spaltung Berlins verhindern. Die soziale Frage ist die stadtpolitische Kernfrage für die Zukunft unserer Stadt.

[Beifall bei der SPD]

Dafür brauchen wir ein Bündnis aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte, die bereit sind, diese Spaltung

zu überwinden. Das Gegenmodell zur Verdrängung der Mittelschichten – wie in London oder Paris – ist Wien. In Wien wurde über ein Jahrhundert lang der Bestand an öffentlichen Wohnungen aufgestockt. In Berlin haben wir in den letzten fünf Jahren den Bestand an öffentlichen Wohnungen um fast 30 000 Wohnungen erhöht.

[Zuruf von den GRÜNEN: Immer noch nicht genug!]

Wohnen ist für mich als Sozialdemokrat keine Ware, die man dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen darf. Deshalb wollen wir mehr Wohnungsbau, und wir wollen bezahlbaren Wohnraum statt Luxuswohnungen.

[Beifall bei der SPD]

Das ist eine entscheidende Frage für die Entwicklung Berlins in den nächsten Jahrzehnten.

Unsere Metropole hat dazu beigetragen, dass Deutschland heute mehr Weltoffenheit und Freundlichkeit ausstrahlt. Unsere Stadt steht für Vielfalt und für Freiheit. Sie steht für ein Deutschland, das der Welt zugewandt ist. 25 Jahre Hauptstadt, das ist ein Grund, stolz zu sein, denn die Hauptstadt Berlin hat sich ihrer Verantwortung würdig erwiesen. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Vielen Dank, Herr Kollege! – Für Die Linke hat jetzt Herr Dr. Lederer das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einmal mehr habe ich den Eindruck, dass es bestimmte Debatten gibt, die man besser am Beginn einer Legislaturperiode als an ihrem Ende führen sollte.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]