Protocol of the Session on May 4, 2017

Login to download PDF

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Die EU hat ein Problem mit Solidarität. Ich nenne ein Beispiel: Deutschland hat die Solidarität mit Griechenland in der Eurokrise aufgekündigt. Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Erst gestern las ich wieder, die griechische Regierung und die Institutionen hätten sich einmal wieder geeinigt über die Auszahlung einer neuen Tranche von Hilfen für Griechenland. Wie immer stand in dem Artikel, das Bundesfinanzministerium sei skeptisch – nicht etwa über die Rentenkürzung und die Verringerung von Steuerfreibeträgen, die mit diesem Paket erneut verbunden sind – nein, skeptisch, ob es die griechische Regierung ernst meint. Der Höhepunkt dieser Skepsis war Ende letzten Jahres. Die griechische Regierung hatte alle Vorgaben des ESM erfüllt und wollte aus den Haushaltsüberschüssen, die sie trotzdem hatte, ein Weihnachtsgeld an die Ärmsten in Griechenland zahlen.

[Zuruf von Holger Krestel (FDP)]

Frau Merkel und Herr Schäuble haben ein Affentheater gemacht und gedroht, alle weiteren Hilfen für Griechenland zu streichen. Das muss man sich einmal überlegen: Wie kommt das denn bei den Menschen in Europa an, diese Art von Politik, dass über die kleinsten Gesten derart geschimpft wird, obwohl die Vorgaben zu Primärsaldo und Wachstum des BIP alle erfüllt waren? – Das ist die Austeritätspolitik, die es zu kritisieren gilt, die wir überwinden wollen und über die Sie natürlich nicht reden wollen.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN – Zuruf von Kurt Wansner (CDU)]

Der Süden Europas hat in den letzten Jahren nichts anderes als Sozialabbau kennengelernt. Auch in Deutschland haben wir den größten Niedriglohnsektor in Europa und millionenfache prekäre Beschäftigung. Die soziale Säule, über die wir auch in unserem Antrag reden und die wir dringend brauchen in der EU, ist im März letzten Jahres auf den Weg gebracht worden. Es lief ein Konsultationsverfahren, und ich bin froh, dass sich der neue Berliner Senat unmittelbar nach Amtsantritt noch an der Konsultation beteiligt hat. Als wichtige Metropole in der Mitte Europas müssen wir die Erfahrungen mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit und ihren sozialen Folgen unbedingt einbringen. Wir müssen darauf drängen, mehr als einige

Prinzipien festzuhalten und folgenlose Empfehlungen aufzustellen. Wir brauchen verbindliche Regelungen für Renten, Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung, also das, was wir hier als ein bewährtes System der sozialen Sicherheit schätzen. Wir brauchen dabei nicht weniger Einfluss von Gewerkschaften und Betriebsräten, sondern mehr,

[Ronald Gläser (AfD): Noch mehr?]

und dafür werden wir uns einsetzen.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Die Intransparenz der EU ist nicht erst in den Verhandlungen zu TTIP und CETA deutlich geworden. Die Ergebnisse dieser Verhandlungen sind bekannt, die Positionierung der rot-rot-grünen Koalition in Berlin dazu auch.

Ein Stichwort zum Wort „Demokratie“: Viele sagen, die EU ist undemokratisch. Ich finde, auch dazu kann man nicht schweigen. In der EU interessiert man sich weder für nationale Parlamente noch für das Europäische Parlament. Ein Beispiel dafür: Als Erdoğan begann, die Türkei von einer Demokratie zu einer Despotie und zu einer Diktatur zu entwickeln, hat das Europäische Parlament beschlossen, die Beitrittsverhandlungen auszusetzen. Was sagt die Kanzlerin? – Nein, wir verhandeln weiter. Vielleicht machen wir kein neues Kapitel auf. – Es interessiert sie einfach nicht. Das bekommen die Europäerinnen und Europäer doch mit. Ich finde, dieses Beispiel spricht dafür, dass Parlamente ignoriert werden. Das ist kein Zeichen von Demokratie. Ich weiß, das ist harter Tobak für viele – unsozial, undemokratisch, inhuman, unökologisch, intransparent. Dies alles gilt es zu ändern, und dafür werden wir als Linke in der rot-rotgrünen Koalition streiten.

Wir wollen, dass die EU bleibt. Deshalb müssen wir sie den Regierungen und dem großen Geld wegnehmen und den Menschen in Europa zurückgeben. Dazu gehören ein Parlament mit einem europäischen Wahlrecht, weniger Einfluss der nationalen Regierungen und ein Ausbau der europäischen Volksgesetzgebung wie zum Beispiel der europäischen Bürgerinitiative.

Lassen Sie mich zum Schluss meiner Rede zwei Sätze an die Französinnen und Franzosen in unserer Stadt richten, die am Sonntag aufgerufen sind, in einer Stichwahl über die Nachfolge von François Hollande zu entscheiden!

[Kurt Wansner (CDU): Darauf können sie verzichten!]

Das lassen Sie einmal die Leute selbst entscheiden! – Ich werde das auf Französisch tun: L’avenir est devant nous, pas d’arrière. Si nous voulons avoir la chance de changer l’Union Européenne, nous ensemble – plus social, plus juste, plus démocratique, plus écologique, plus humaine –, je vous en prie: Donnez-nous cette chance et votez contre la candidate du FN – vous pouvez dire fasciste – ni blanc, ni nul, ni abstention!

[Holger Krestel (FDP): Haben Sie Werbung geschaltet? – Gunnar Lindemann (AfD): Wir sind in Deutschland!]

Und für diejenigen, die es nicht verstanden haben: Die Zukunft liegt vor uns, nicht hinter uns.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Wenn wir die Chance haben wollen, die Europäische Union zu ändern, wir alle zusammen – sozialer, gerechter, demokratischer, ökologischer, menschlicher –, dann bitte ich Sie: Geben Sie uns diese Chance, und wählen Sie gegen die Kandidatin des Front National – man kann auch die faschistische Kandidatin sagen –

[Gunnar Lindemann (AfD): Lieber Gott! Wahlwerbung hier im Parlament!]

nicht ungültig, nicht Enthaltung, sondern wählen Sie! – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Für die CDU-Fraktion hat jetzt der Kollege Jupe das Wort.

Ich werde meine Rede etwas nüchterner halten, weder in anderen Sprachen noch mit einem emotionalen Unterton. – Ich möchte zunächst feststellen, die Bezugnahme zu dieser Entschließung, die Sie vorgelegt haben, heißt: „60 Jahre Römische Verträge – Berlin baut weiter mit“, und dazu reden wir hier heute. Wir sind kein Ersatzparlament. Es ist das Europäische Parlament, das Initiativen einbringt. Sie haben es als Antragsteller selbst im letzten Absatz Ihres Antrages erwähnt. Wir sind kein Ersatzparlament, das alle möglichen Vorschläge zur Realisierung zu bringen hat. Ich finde, dass Ihre Entschließung mit Ihrer Bezugnahme, die Sie hineingeschrieben haben, nämlich „60 Jahre römische Verträge – Berlin baut weiter mit“, relativ spät kommt. Das richtige Datum wäre mindestens Ende März, Anfang April gewesen. Wir haben jetzt sechs Wochen später.

[Beifall bei der CDU – Beifall von Sebastian Czaja (FDP)]

Zum Inhalt darf ich Ihnen Folgendes sagen, und ich hole dabei etwas weiter aus: Es gibt drei Begriffe in Ihrem Entschließungstext, die ich untersuchen möchte und die wir in unserem Änderungsantrag auch berücksichtigt haben. Der erste und wesentliche Begriff ist „Frieden“. Der zweite Begriff, der mir aufgefallen ist in der Aussage, die Sie damit treffen, ist „Anfeindung“. Der dritte Begriff ist „Austeritätspolitik“.

Ich fange zunächst mit „Frieden“ an und möchte Folgendes ausführen: Neil MacGregor, der englische Gründungsdirektor des Humboldt-Forums im neuen Berliner

Stadtschloss hat im Schlusskapitel seines Buches „Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ die deutsche Erinnerungskultur hinsichtlich der Ereignisse im 20. Jahrhundert beschrieben. Er geht dabei von den als Kunstwerk berühmt gewordenen Erinnerungsstücken der Künstler Ernst Barlach und Käthe Kollwitz, Stichworte: Schwebender Engel, die Pietà, aus. Diese Kunstwerke beziehen sich auf das Leid, das mit den Weltkriegen im 20. Jahrhundert verbunden war, im Ersten Weltkrieg, im Zweiten Weltkrieg, den das Dritte Reich provozierte und der eine unbeschreibliche Zerstörung über ganz Europa gebracht hat.

Diese leidvollen Kriegserfahrungen des 20. Jahrhunderts sind es, die uns Europäer bewogen haben, nach Kriegsende einen Schlussstrich zu ziehen und von nun an für ein nunmehr gemeinsames Europa einzustehen. Menschen der verschiedenen Nationalstaaten – um nur einige zu nennen: Jean Monet, De Gasperi, Paul Spaak, Konrad Adenauer – wollten heraus aus einer Entwicklung, die wegen unterschiedlicher Interessenlagen, zuweilen aus Streitlust und dem Streit um einzuschlagende politische Wege, Tod, Leid und Zerstörung über die Völker und Kontinente gebracht hat. Das Datum, das hieran erinnert, ist der Tag des Abschlusses der Verträge von Rom am 25. März 1957, dessen wir am 25. März 2017 gedachten. Meine Partei, die maßgeblich am Zustandekommen der Römischen Verträge unter Bundeskanzler Konrad Adenauer mitgewirkt hatte, hat aus diesem Grunde öffentlich des Datums 25. März 1957 gedacht und im Einzelnen Folgendes erklärt:

Die Gründung der Europäischen Union, die als europäische Wirtschaftsgemeinschaft begann, hat eine kaum zu übertreffende Dimension erreicht. Gepeinigt von den Erfahrungen zweier Weltkriege im 20. Jahrhundert, die sich ganz überwiegend auf europäischem Boden abspielten, war es richtig, dass sich europäische Staaten zu einer Gemeinschaft zusammenschlossen. Aus der Zahl der sechs Gründungsmitglieder ist inzwischen eine ganze Gruppe von 27 Mitgliedstaaten geworden, die dem europäischen Gedanken verbunden sind.

Nicht nur im wirtschaftlichen Bereich, sondern auch im Hinblick auf die Freiheit zum geistigen Austausch der Menschen untereinander und in der grenzüberschreitenden Kommunikation ist der Gedanke, der die europäischen Mitgliedstaaten in der Europäischen Union verbindet, für uns alle immanent geworden.

Herauszustellen ist insbesondere, dass es gelungen ist, Frieden zwischen den 27 Staaten der Europäischen Union zu bewahren und mit einer Vielzahl von Initiativen fortzuentwickeln. In diesem Bewusstsein begrüßen wir ausdrücklich das Gedächtnis an den 60. Jahrestag der Römischen Verträge am 25. März 2017 und fordern, auf dem

(Carsten Schatz)

eingeschlagenen Weg einer europäischen Einigung weiterzugehen.

So unsere Erklärung.

Der zentrale Gedanke, um den vor Abschluss der Römischen Verträge im Jahre 1957 gerungen wurde, war also der Wunsch nach Frieden – und das muss meiner Meinung nach in einem Entschließungstext auch zum Ausdruck kommen –, der in der Folgezeit nicht immer einfach zu halten war, der aber gleichwohl über viele Jahrzehnte und nun schon über mehrere Generationen hinweg bis heute andauert. Das ist aus unserer Sicht das große Thema auch unserer Zeit heute, worüber Sie jedoch in Ihrem Entschließungstext kaum ein Wort verlieren, jedenfalls nicht in dem Maße, wie wir es für angemessen und erforderlich halten. Sie sprechen von einem Friedensprojekt. Die europäische Idee ist jedoch nicht einfach ein Projekt neben vielen anderen. Wir benennen alle möglichen Vorstellungen über Realisierung von politischen Wegen heutzutage als Projekt. Es ist aber mehr als ein Friedensprojekt. Es ist der Friede, der seit 60 Jahren herrscht und der tagtäglich erarbeitet wird.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP – Beifall von Antje Kapek (GRÜNE)]

EU-Europa bedeutet das ununterbrochene Bemühen der Mitgliedstaaten um ein friedliches Miteinander und um gewaltfreie Lösungen im politischen Alltag. EU-Europa ist der Zwang zur Besonnenheit in der Kommunikation der Mitgliedstaaten untereinander, und es ist ständiger Anlass, sich konstruktiv mit den Standpunkten und Werten der europäischen Partner auseinanderzusetzen. Blickt man auf die Zeit der Verhandlungen vor den Römischen Verträgen und dann auf die Folgejahre, die den Streit um das Mehrheitsprinzip brachten, Stichwort Vetopolitik, bis hin zum Vertrag von Lissabon, in dem mittlerweile eingespielten politischen Wirken des Europäischen Rates, des Ministerrates, des Europäischen Parlaments, der Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofes, so zeigt sich, dass es gelang, auch den Frieden nach innen einzuhalten. Das zum Ausdruck zu bringen, halten wir für fundamental. Insofern verweise ich auf das, was wir in unseren Änderungsantrag hineingeschrieben haben.

Zwei weitere kleine Bemerkungen, Stichwort Anfeindungen: Auch wir verurteilen einen Populismus, der niedrige Instinkte wecken will, auf kritikwürdige Propaganda und Schwarz-Weiß-Malerei aus ist und sich ausschließlich emotional äußert. Sie Ihrerseits mögen dieses zwar als Tribut an die heutigen Abläufe einiger politischer Debatten formuliert haben, wir meinen aber, dass die Einschränkung von Anfeindungen gegen ein gemeinsames Europa auf den Populismus zu wenig ist. Wir halten es für falsch. Wir müssen uns gegen alle Anfeindungen wenden, seien sie verbal, seien sie gewalttätig. Ich finde,

da muss der Text, den Sie vorgelegt haben, verändert werden. Wir haben dazu wahrscheinlich Gelegenheit.

[Beifall bei der CDU]

Letzte Bemerkung: Sie verlangen wortwörtlich, den alleinigen Fokus auf die Austeritätspolitik zu beenden. Da machen Sie es sich zu leicht. Ich bin der Überzeugung, dass es nicht richtig ist, eine solche Entschließung mit Fragen des politischen Alltags zu verbinden. Sie wissen genau wie ich, dass über Austeritätspolitik, über Wirtschaftspolitik, über Finanzpolitik im nationalen und europäischen Rahmen gestritten wird. Es gibt keinen alleinigen Fokus auf eine sogenannte Austeritätspolitik. Die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik ist bestimmt vom Grundsatz, nicht über die Verhältnisse zu leben, und dem kann ich nur zustimmen. Dies ist auch im Sinne von Ludwig Erhard, wenn ich an den Begriff des Maßhaltens denke. Es muss doch von allen EU-Mitgliedern gefordert werden können, dass die gemeinsamen Regeln der Haushaltsführung und damit auch die Regeln der Haushaltsdefizite eingehalten werden. Wir haben uns dafür schon im Vorhinein Regeln gegeben, sodass jeder weiß, worauf er sich einlässt. Insofern ist dieser Satz in Ihrer Entschließung falsch, den alleinigen Fokus auf die Austeritätspolitik zu beenden. Es ist doch nicht zu viel verlangt, dass Verschuldungen, die maßlos zu werden drohen, unbedingt zurückgeführt werden. Wir halten es auch für sinnvoll, eine Politik zu betreiben, wie es meine Partei verlangt, die die Vergemeinschaftung von Schulden auf der Ebene der Staaten der Europäischen Union zurückweist.

[Beifall bei der CDU]

Das, was Sie dazu in Ihre Entschließung hineinschreiben, halte ich nicht für real. Nur mit einer sparsamen und verantwortungsvollen Haushaltspolitik werden wir schließlich weitere Vorhaben wie die von Ihnen erwähnte soziale Säule ins Leben rufen können. Wir haben in unserem Änderungsantrag auch noch einen Fonds, den sogenannten EFSI-Fonds, erwähnt. Wenn wir schon über Wirtschaftspolitik auf europäischer Ebene miteinander sprechen, dann sollten wir auch die Notwendigkeit von strategischen Investitionen berücksichtigen. Ich halte das alles insoweit für notwendig, als das eine nicht ohne das andere geht. Wenn Sie eine sogenannte soziale Säule aufbauen wollen – das ist ein Bild –, brauchen Sie dafür die Mittel. Die müssen dafür auch die gesamte Infrastruktur, die wir in Europa haben, unterstützen. Das wollen wir mit unserem Abänderungstext erreichen. – Danke schön!

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Vielen Dank, Herr Kollege! – Für die SPD-Fraktion jetzt Herr Kollege Zimmermann.

(Claudio Jupe)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestern Abend hat der Kultur- und Europasenator im Märkischen Museum die Ausstellung „Berlin 1937. Im Schatten von morgen“ eröffnet. Sie zeigt die Stadt am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, die nur wenige Jahre später in Schutt und Asche lag. Mit beispiellosen Verbrechen hat NaziDeutschland Zerstörungen und Verwüstungen über Europa gebracht und damit auch die alte nationalstaatliche Ordnung Europas beerdigt. Die Lehre aus Krieg und Holocaust bildete den Gründungskonsens des vereinten Europas, nämlich die dauerhafte Sicherung des Friedens durch Zusammenschluss der Staaten. Leider haben wir heute angesichts zunehmender nationalistischer Tendenzen Anlass genug, an dieses erste und wichtigste Motiv für die europäische Integration zu erinnern und auch in diesem Haus die überragende Bedeutung der europäischen Friedensordnung zu würdigen.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN – Beifall von Sibylle Meister (FDP)]