Protokoll der Sitzung vom 23.05.2019

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Man überlegt ja manchmal, ob man auf den Beitrag eines Vorredners eingehen soll oder nicht. Bei einer Aktuellen Stunde bin ich normalerweise geneigt, dass ich mich an die großen Linien halte und nicht darauf eingehe. Aber ich hätte nicht gedacht, dass der Beitrag, bis jetzt, der am meisten an der Realität vorbeigeht und am meisten auch Wahlkampfrede war, leider Ihrer war, Herr Wolf, und das finde ich dann durchaus bedauerlich, wie Sie sich hier gerade positioniert haben.

[Beifall bei der FDP, der CDU und der AfD – Zuruf von Frank-Christian Hansel (AfD) – Holger Krestel (FDP): Dem fehlt die Aktuelle Kamera!]

Ich sage das auch direkt vor dem Hintergrund, dass gerade von den 70 Jahren Grundgesetz eben ein Teil des Landes 40 Jahre das Grundgesetz nicht hatte, und dieser Teil ist von einer Partei vertreten worden, deren Nachfolge Sie angetreten haben, und zwar nicht nur moralisch, auch im rechtlichen Sinne. Und dann würde ich an Ihrer Stelle nicht so dicke Backen machen, Herr Wolf, wirklich nicht.

[Beifall bei der FDP, der CDU und der AfD – Zuruf von Tobias Schulze (LINKE)]

Letzte Bemerkung dazu: Wohin der Umgang mit Eigentum in der DDR geführt hat, konnte jeder 1989 sehen. Das war Ruinen schaffen ohne Waffen. Das war keine Politik der Zukunft, was Sie da geleistet haben.

[Beifall bei der FDP, der CDU und der AfD – Zuruf von Udo Wolf (LINKE) – Kurt Wansner (CDU): Herr Schneider! Sie können ruhig mal klatschen!]

Nun aber doch zum Jubilar, der heute 70 Jahre alt wird: Wenn man im Familienkreis jemanden hat, der das 70. Lebensjahr vollendet, dann hat er oder sie in der Regel das Berufsleben hinter sich gelassen, ist schon leicht ergraut und genießt den Ruhestand. Die verbleibende Lebenszeit wird meist für schöne Dinge, etwa lange und ausgedehnte Reisen genutzt. Wenn nun das Grundgesetz 70 Jahre alt wird, so kann man analog feststellen, dass es schon eine betagte Dame oder ein betagter Herr ist, aber dennoch mitten im Leben stehend und auch noch optimistisch darin, eine lange Zukunft vor sich zu sehen.

[Zuruf von Mario Czaja (CDU)]

In der Tat, das Grundgesetz steht stellvertretend für die längste Epoche von Frieden und Freiheit in der deutschen Geschichte, wie gerade schon erwähnt, 70 Jahre in der alten Bundesrepublik, immerhin 30 Jahre auch in den neuen Bundesländern, durchaus ein Erfolgsmodell. So schlicht und einfach das Grundgesetz auch daherkommt, so prägnant regelt es die Grundlagen unseres Staatswesens, die Werte unseres Zusammenlebens, und für den gesetzlichen Rahmen, in dem wir uns im Sinne eines gedeihlichen Miteinanders bewegen können, gibt es auch viele entsprechende Anmerkungen. Das kann man nicht hoch genug einschätzen. Dennoch muss auch die Frage erlaubt sein, darf diskutiert werden, ob es in dieser Form noch 100 Prozent zeitgemäß ist oder an der einen oder anderen Stelle Veränderungsbedarf besteht. Das eignet sich nicht für eine Parlamentsdebatte, aber wir sollten uns daran erinnern, dass sich eine Gesellschaft auch weiterentwickelt und mit der Zeit gehen muss.

Das Grundgesetz war ein vorläufiges Projekt bis zur Schaffung der deutschen Einheit. Danach sollte es durch eine ausgearbeitete gesamtdeutsche Verfassung ersetzt werden. Das ist leider bis heute nicht passiert,

[Carola Bluhm (LINKE): Ei, jei, jei!]

und es ist auch bedauerlich, dass nie ernsthaft eine Diskussion darüber geführt wurde, denn etwas Gutes besser zu machen, ist immer einen Versuch wert. Wir dürfen nicht vergessen, auch auf europäischer Ebene gibt es mittlerweile zahlreiche Rahmenbedingungen für ein gedeihliches Zusammenleben, genannt sei die EU-Grundrechtecharta. Da bestimmte Dinge zu harmonisieren und anzupassen, ist sicherlich auch den Versuch wert. Da kann man durchaus ein sehr gutes Grundgesetz noch besser machen und daran in Zukunft entsprechend arbeiten.

[Beifall bei der FDP]

Ich will auch ein Beispiel dafür geben. Es gibt mittlerweile eine Reihe von Rechtsfragen, wo sich die Rechtsprechung auf europäischer und deutscher Ebene wi

(Udo Wolf)

derspricht, wo zum Beispiel nationale Gerichte in Deutschland etwas anderes urteilen als auf EU-Ebene. Ich erinnere an den Fall, wo ein katholischer Chefarzt dagegen geklagt hat, dass ihm gekündigt wurde, weil er zum zweiten Mal verheiratet war. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Verweis aufs Grundgesetz, auf den hohen Stellenwert der Religion dort, entschieden: Ja, das Recht der Kirche geht vor, sie darf grundsätzlich kündigen. – Der Europäische Gerichtshof sah es genau umgekehrt und hat gesagt: Das Grundgesetz stellt an der Stelle eine verbotene Diskriminierung dar. – Und jetzt gilt natürlich der europäische Richterspruch. Das muss irgendwann entsprechend angepasst und harmonisiert werden.

Ich will auch darauf hinweisen – und da darf ich jetzt mal die ARD-Rechtsredaktion zitieren, die mit ihren Beiträgen in den letzten Tagen das Grundgesetz ausführlich durchleuchtet und beleuchtet hat – ich zitiere:

Ob das Grundgesetz noch weitere 70 Jahre erlebt, hängt natürlich auch davon ab, wie es sich zu zentralen Fragen der Zukunft positioniert. Zur Digitalisierung sagte die ursprüngliche Fassung von 1949 verständlicherweise nichts. Dann aber entwickelten die Verfassungsrichter 1983 beim Volkszählungsurteil aus den bestehenden Normen das Grundrecht auf informelle Selbstbestimmung. 2008 folgte das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. Mit Datenschutz und Computergrundrecht ist möglicherweise ein gutes Grundgerüst für eine Kontrolle der Macht in der digitalisierten Gesellschaft geschaffen. Immer häufiger wird sich die Frage stellen, wie viel Freiheit noch bleibt, wenn Algorithmen die Regeln bestimmen und das Ganze für die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr durchschaubar ist.

Daran schließt sich natürlich die Frage an, wie wir diese Dinge regeln wollen, die 1949 noch nicht voraussehbar waren. In der Tat, wenn wir heute über das vereinte Europa reden – und Europa ist ja mit dem Grundgesetz untrennbar verbunden –, dann müssen wir natürlich sagen, dass gerade auch Europa ein Erfolgsmodell ist, das in den letzten Jahrzehnten seinesgleichen sucht.

Das vereinte Europa ist wirklich etwas Außergewöhnliches. Wer die Gelegenheit hatte, so wie ich, die letzten Tage auf Ausschussreise in Frankreich zu verbringen, mit einigen anderen hier aus dem Hause, hat wirklich gesehen, dass gerade auch das Bekenntnis zu Europa bei den Franzosen, die merken, dass, wenn wir es nicht mehr haben, etwas auseinanderfliegt, die deutsch-französische Freundschaft, die eine wichtige Achse unserer Demokratie ist, dass gerade dieses gelebte Europa etwas ganz Wichtiges ist, das nicht selbstverständlich sein darf und immer wieder aufs Neue belebt werden muss, und dafür sollten wir auch kämpfen.

[Beifall bei der FDP, der SPD und der CDU]

An der Stelle, Herr Pazderski, habe ich auch nicht verstanden, warum Sie in Ihrer Argumentation gegen das Wahlrecht für EU-Bürger polemisiert haben, es können ja auch Leute aus dem Ausland wählen – oder so in der Art. Es ist doch gerade Bestandteil des gelebten Europas, dass eben EU-Bürger hier wählen können und Deutsche natürlich auch im EU-Ausland. Wenn Sie das nicht verstanden haben, dass Deutsche auch im Ausland wählen können, dann Guten Morgen, dann haben Sie von Europa wirklich nicht viel verstanden.

[Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU und der LINKEN – Georg Pazderski (AfD): Es geht nicht ums EU-Parlament! Da haben Sie nicht zugehört!]

Natürlich hat Europa auch einige Herausforderungen vor sich und einige Probleme zu bewältigen, wo das künftige Europäische Parlament eine Mammutaufgabe vor sich hat. Es wird darum gehen, wie wir mit dem großen Problem der Überschuldung umgehen, die einige Mitgliedsstaaten haben und die künftig wieder zum Problem werden kann. Italien lässt grüßen. Wie machen wir Europa fit für private Investitionen, die im verstärkten Maße notwendig sind, um wirtschaftliche Stabilität in einzelnen Ländern zu gewährleisten? Wie gehen wir mit dem EUParlament um, das nicht nur gestärkt gehört, sondern wo auch der Wanderzirkus zwischen Brüssel und Straßburg natürlich abgeschafft gehört? Es ist ja so ein Anachronismus wie unser Bonn-Berlin-hin-und-her-Gependel, über das wir beim letzten Mal gesprochen haben.

[Zuruf von Hildegard Bentele (CDU)]

Die Diskussion über die Verschlankung der EU-Kommission steht an. Die Zahl von derzeit 28 Kommissaren auf höchstens 18 zu verkleinern, ist eine Forderung, die die FDP erhoben hat, auch klare Zuständigkeiten und entsprechend schnelleres Handeln. Die Abstimmung im Rat reformieren – das Einstimmigkeitsprinzip, wissen wir, führt dazu, dass oftmals die langsamste Schnecke das Tempo bestimmt. Das kann es auch auf Dauer nicht sein.

[Frank-Christian Hansel (AfD): Das kann mal ganz hilfreich sein!]

Wir wollen auch die Bildungsfreizügigkeit als neue Grundfreiheit etablieren, gerade auch die Diskussionen um mehrsprachige Schulen und Kitas, Förderung einer europäischen Berufsausbildung, das sind alles Themen, die wir im Abgeordnetenhaus immer wieder diskutieren, die sind wichtig, und auch das ist Bestandteil eines gelebten Europas.

[Beifall bei der FDP]

Schließlich müssen wir uns mit Chancen durch Innovation beschäftigen, Stichwort digitaler Binnenmarkt. Auch da gibt es noch viele Standards, die harmonisiert werden müssen, die zusammen gedacht werden müssen und die auch insgesamt natürlich eine große Herausforderung darstellen.

Wir müssen – auch das ist ganz wichtig, es soll nicht als last but not least verstanden werden, sondern ist ein sehr wichtiger Punkt – insbesondere natürlich auch eine gemeinsame europäische Außen- und Verteidigungspolitik finden. Wir müssen gerade bei der Asyl-, Flüchtlings- und Einwanderungspolitik wieder mit einer Stimme sprechen. Das ist ganz wichtig, wenn man sich die Konflikte in der Welt ansieht und auch schaut, wo die Herausforderungen liegen, dass sich Europa da nicht auseinanderdividieren lässt, sondern gerade im Bereich von Außenpolitik, von Asyl- und Flüchtlingspolitik, von Einwanderungspolitik mit einer Stimme spricht, die Lasten gerecht verteilt und auch gemeinsam vertritt. Wir sind in der Welt gut beraten – Europa ist so klein –, wenn wir in diesem weltweiten Konzert nicht noch mit 16, 20 oder 28 verschiedenen Stimmen sprechen.

[Beifall bei der FDP]

Insofern ist der heutige Tag eine gute Gelegenheit, noch einmal daran zu erinnern, dass uns das Grundgesetz wirklich 70 Jahre Wohlstand, Freiheit und viele gute Errungenschaften beschert hat. Wir müssen aber eben auch daran denken, Deutschland und Europa zukunftsfest zu machen. Wir dürfen uns nicht auf den Erfolgen ausruhen, sondern müssen immer wieder dafür streiten, auch für die nächsten Jahrzehnte, auch für die nächsten 70 Jahre. 70 Jahre sind in der geschichtlichen Epoche eine enorme Zeit, auch vor dem Hintergrund vieler historischer Veränderungen. Es ist eine Epoche, die Deutschland in dieser Dauer noch nie erlebt hat. Wir müssen gerade auch dafür sorgen, dass die nächsten 70 Jahre von ähnlichen Vorzeichen geprägt sind und wir dann auch – und unsere Nachfolger, die hier vielleicht debattieren oder vielleicht auch in einem Berlin-Brandenburger Landtag in Potsdam, wo auch immer – durchaus sagen können, auch bei 140 Jahren Verfassung oder Grundgesetz: Wir sind gut dabei. – Herzlichen Dank!

[Beifall bei der FDP]

Für die Fraktion 90/Die Grünen hat jetzt Frau Kollegin Gebel das Wort. – Bitte schön!

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Europa, das ist mehr als ein Kontinent. Europa, das ist der Beweis, dass Mut und dass Idealismus etwas Großes erreichen können. Denn Europa, die Europäische Union, das ist ein Versprechen. Es ist ein Versprechen an unsere Kinder für Frieden und für Freiheit. Das ist mir und das ist uns Grünen sehr wichtig, denn wir fühlen uns diesem Versprechen besonders verpflichtet.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und der LINKEN]

Ich hoffe, das gilt für alle hier im Raum, denn gerade wir hier in Berlin haben in den vergangenen Jahrzehnten wie vermutlich keine andere Stadt von Europa profitiert. Europa hat uns vor 30 Jahren den Frieden und die Freiheit zurückgebracht. Die friedliche Revolution vor 30 Jahren war eingebettet in eine europäische Bewegung voller Mut, für Frieden und für Freiheit. Sie hat eine vereinigte EU in Ost- und in Westeuropa ermöglicht. Doch in den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass es keine Garantie für Frieden und Freiheit gibt. Politische Kräfte von rechts außen versuchen täglich, unser Europa zu schwächen und damit unseren Frieden und unsere Sicherheit.

[Stefan Franz Kerker (AfD): So ein Blödsinn!]

Sie wollen kein starkes, sie wollen kein einiges Europa, sondern sie wollen ein Rollback zu einem Europa der Vaterländer.

[Marc Vallendar (AfD): Ja, genau! – Beifall bei der AfD – Zuruf von Henner Schmidt (FDP)]

Was das bedeutet, haben wir gesehen, als sich Herr Strache unbeobachtet gefühlt hat und in Ibiza mal aus dem Nähkästchen geplaudert hat. Dieser Ibiza-Skandal sollte uns eine Mahnung sein, mit welchen politischen Allmachtsfantasien die Demokratie und die Pressefreiheit ausverkauft werden, wie in Österreich von der rechtspopulistischen FPÖ.

[Stefan Franz Kerker (AfD): So ein Schwachsinn!]

Und Strache ist weiß Gott nicht allein. Nein, er steht Schulter an Schulter mit den Le Pens, mit den Farages, mit den Orbáns, mit den Höckes und Co.

[Stefan Franz Kerker (AfD): Orbán hat sich für Demokratie stark gemacht!]

Deshalb ist diese Europawahl eine Schicksalswahl,

[Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN]

eine Wahl, in der wir einen Rechtsruck in Europa erfolgreich bekämpfen müssen.

Heute ist nicht nur die letzte Plenarsitzung vor der Europawahl, heute ist der 23. Mai. Heute vor 70 Jahren wurde das Grundgesetz beschlossen. Das Grundgesetz, es war seiner Zeit voraus. Er setzte auf radikale Gleichheit, auf radikale Menschlichkeit. Es stärkt den einzelnen in seinen Abwehrrechten gegenüber dem Staat, aber es setzt eben auch den einzelnen in die soziale Verantwortung mit der Sozialpflichtigkeit des Eigentums gegenüber der Allgemeinheit. Es sagt Deutschland, dass es nur mit Europa geht. Und das ist gut so.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

(Stefan Förster)