Der erste Grund, den ich für eine Verknüpfung der beiden Daten sehe, ist die Genese beider Ereignisse in erinnerungswürdigen Momenten demokratischer Entwicklungen in unserem Land. Der zweite ist, dass es durch die Einheit erst wieder möglich wurde, die Entwicklung von
1920 für die gesamte Stadt aufzunehmen, die Infrastruktur weiter auf- und auszubauen und leistungsfähige öffentliche Dienstleistungen für alle Berlinerinnen und Berliner zu gewährleisten – zumindest theoretisch.
Der Euphorie der staatlichen Einheit Deutschlands und Berlins folgte bald eine Katerstimmung auch in unserer Stadt. Die hochfliegenden Pläne der Neunzigerjahre mit einer global operierenden Berliner Bankgesellschaft und einem raschen Wachstum der Stadt zerplatzen an der Realität, die durch die Deindustrialisierung und eine schrumpfende Einwohnerzahl gekennzeichnet war. Daraus folgten fehlende Einnahmen und galoppierende öffentliche Verschuldung. Für viele Ostdeutsche – auch für die Menschen aus dem Ostteil der Stadt – bettete sich das in Erfahrungen ein, die einerseits durch das kohlsche Versprechen auf schnelle, blühende Landschaften und andererseits den Verlust des Arbeitsplatzes geprägt waren, durch das Agieren einer Treuhand, die auf den Weg gebracht wurde, um das Vermögen der DDR für die Menschen dort zu sichern, es aber letztlich für einen Appel und ein Ei verscherbelt, durch Nepp von Autodealern, Versicherungsaufschwatzerei, den Verlust der Datsche.
Dazu kommt die andauernde Ungerechtigkeit bei Löhnen und Renten. Denn die Renteneinheit in Deutschland ist auch nach 30 Jahren nicht hergestellt. Das liegt vor allem an zwei offenen Fragen. Erst 2025 soll der Rentenwert angeglichen sein. Wir sind der Meinung, dass es für dieselbe Arbeit zum selben Lohn in Ost und West auch heute schon die gleiche Rente geben muss.
Zweitens setzen wir uns weiter dafür ein, dass diskriminierende Wirkungen des Rentenüberleitungsgesetzes und des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes für Rentnerinnen und Rentner aus Ostdeutschland aufgehoben werden. Es gibt eine ganze Reihe von Personen und Berufsgruppen, deren Rentenansprüche teilweise im Zuge der Einheit untergingen und die einen Ausgleich verdienen. Dazu zählen etwa in der DDR geschiedene Frauen, Mitglieder von Ballettensembles, Bergleute, Angehörige der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post der DDR, Beschäftigte des Gesundheits- und Sozialwesens, aber auch Land- und Forstwirte, Handwerker sowie Angehörige des öffentlichen Dienstes, der Armee, der Polizei, des Zolls, die mit DDR-Beschäftigungszeiten nach 1990 ihre Tätigkeit fortgesetzt haben.
Die Absurdität der Situation spiegelt sich in der Tatsache, dass die SED jahrzehntelang versuchte, den Menschen in der DDR eine eigene Identität aufzuschwatzen. Die Erfahrungen nach 1990 haben wesentlich dazu beigetragen, über Ausgrenzungserfahrungen eine ostdeutsche Identität zu entwickeln. Etwa so, wie es im folgenden Witz zum Ausdruck kommt: Sagt ein Wessi zu einem Ossi „Wir sind ein Volk!“, lächelt der Ossi „Wir auch!“. – Beide
Worte, Wessi und Ossi, lernte ich übrigens Anfang 1990 in meinem neuen Westberliner Freundeskreis kennen: als Bezeichnung für Menschen aus dem Osten Ossis und aus Westdeutschland Wessis.
Die ständigen Einwohner von Berlin-West, wie es damals hieß, nahmen sich selbst aus diesem Spiel heraus. Doch auch sie hat die Einheit vor Änderungen gestellt. Noch heute ist in Kommentarspalten auf der RBB-Homepage zu lesen, wie schwer es vielen Westberlinern und Westberlinerinnen fällt zu akzeptieren, dass der Regierende Bürgermeister natürlich Teilnehmer der Ost-MPK ist, dass auch das 1990 entstandene Berlin ein neues Bundesland der alten BRD geworden ist.
Und die Erfahrung aus dem Witz trifft auch eine Erfahrung der Entität Berlin: Als die hochverschuldete Stadt nach dem politischen Wechsel 2001/2002 auf Bundeshilfe vor dem Bundesverfassungsgericht klagte und 2006 die Mitteilung bekam: Kommt mal selber klar! –, entwickelte sich auch ein gewisser Berliner Trotz, der das wowereitsche – herzlichen Glückwunsch übrigens zum Geburtstag! –
„arm, aber sexy“ aufnahm, selbstbewusst damit umging und damit eine Dynamik auslöste, die zu wirtschaftlichem Aufschwung und zu Wachstum führte – Wachstum, das wenige Jahre zuvor kaum jemand für möglich hielt. Und das haben die Berlinerinnen und Berliner selbst gemacht. Deshalb bleibt es für mich richtig, dass die 2016 entstandene Koalition aus SPD, Linken und Grünen die Berlinerinnen und Berliner an diesem Erfolg teilhaben lässt über kostenfreies Schulmittagessen, kostenfreie Tickets für Schülerinnen und Schüler und sich andererseits der Wachstumsschmerzen in einer kapitalistischen Metropole annimmt, Mieten deckelt und neuen bezahlbaren Wohnraum auch in kommunalem Eigentum schafft.
Was bleibt – ja, auch das ist Berlin – und manchmal etwas länger dauert, ist der Ausbau der Infrastruktur. Manche kennen diesen Baustein schon von mir, aber wenn jetzt, 100 Jahre nach der Gründung von Groß-Berlin über den Neubau der Straßenbahnstrecke am Groß-Berliner Damm in Johannisthal – dort nach Adlershof – eine zweite Verbindung zwischen der ehemaligen Berliner, und der großen Cöpenicker Straßenbahn zustande kommt, zeigt das: Wir müssen schneller werden!
30 Jahre deutsche Einheit sind ein Anlass zurückzublicken, aber auch nach vorne, ein Anlass zu formulieren, was wir besser machen können und müssen. Deshalb will ich sagen, dass mir der Diskussionsaufschlag von Staatssekretäre Nägele, Bezirksbürgermeisterin Herrmann und Bezirksbürgermeister Benn gut gefällt, der auch die Frage
stellt: Wo müssen wir Strukturen in unserer Verwaltung ändern, um besser, schneller und transparenter zu werden? –, anders, als übrigens 1990 mit dem Beitritt der DDR zur BRD nichts Neues entstand, sondern, wie Gysi es richtig formulierte, der arme Neffe bei der reichen Tante einzog, und eher in der Tradition von 1920 einen Schritt zu wagen, der Jahrzehnte Entwicklung prägen kann.
In dieser Tradition wäre übrigens auch ein mutiger Schritt für eine qualitativ neue Zusammenarbeit zwischen Berlin und Brandenburg, weniger über- und stattdessen miteinander zu reden und gemeinsame Probleme bei Verkehr, Bauen und Wohnen und im Schulbereich zu lösen.
so beginnt Brechts Kinderhymne, die vor 30 Jahren auch in der Debatte für die Hymne für das vereinte Deutschland war. Ich möchte uns alle aufrufen: Folgen wir diesem Appell Brechts und arbeiten jeden Tag für ein weltoffenes, gerechtes, friedliches, buntes und vielfältiges Berlin als europäische Metropole, die den Herausforderungen der Zukunft zugewandt ist! – Vielen Dank!
[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN – Georg Pazderski (AfD): Politische Amnesie ist das! – Zuruf von Martin Trefzer (AfD)]
Keine Sorge, sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das lese ich nicht alles vor, ich rede wie üblich frei, aber ich habe ein paar Statistiken mitgebracht – mal sehen, wie weit wir kommen.
Ich dachte mir eigentlich, dass wir beim Thema „30 Jahre deutsche Einheit“ auch ein Stück weit Bilanz ziehen sollten, um zu schauen, was funktioniert und was nicht, und wir uns in diesem Haus nicht nur mit Polemiken auseinandersetzen sollten. Ich denke, das wäre eigentlich ein würdiger Umgang mit dem heutigen Thema.
Nun ist es unbestritten so, dass der bevorstehende 30. Jahrestag der Wiedervereinigung unseres Landes formal der Abschluss eines Prozesses ist, der mit der Erinnerung an den 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution und deren wichtigen Etappen im Vorjahr begonnen hat. Es ist klar, dass wir das in diesem Jahr coronabedingt sicherlich nicht so würdigen und fortsetzen können, wie das angemessen gewesen wäre.
Ich erinnere auch an einen der entscheidenden Sargnägel der DDR, an den 7. Mai 1989, an die gefälschten Kommunalwahlen. Das ist etwas Fundamentales. Ich darf bei dieser Gelegenheit auch – dann sind wir beim Thema Bürgerrechtler angekommen – den geschätzten Kollegen Otto zitieren, der heute leider hier nicht reden kann, der aber im letzten Jahr in der „Morgenpost“ ein bemerkenswertes Interview gegeben hat und unter anderem auch darauf eingegangen ist, wie er selbst diese Wahlfälschung am 7. Mai 1989 erlebt hat – Zitat:
Für Weißensee haben wir nachgewiesen, dass es viel mehr Nein-Stimmen gab als offiziell angegeben. Abends gab es eine Wahlparty in der Elisabethkirche in Mitte. Als Egon Krenz mit ernster Miene im DDR-Fernsehen das offizielle Ergebnis von 98,85 Prozent Ja-Stimmen verlas, haben wir laut gelacht. Wir wussten ja, es stimmte nicht. Und es würde jetzt auch bekannt werden. … Danach habe ich das auch in meinem Betrieb an Kollegen weitergegeben, die ich für ansprechbar hielt. So wollten wir Leute motivieren, selbst nachzudenken.
Das zeigt zum einen auch den Mut der Ostdeutschen, auch der Bürgerrechtler, die das möglich gemacht haben. Es zeigt zum anderen aber auch – und da bin ich dann wirklich sauer, Herr Kollege Pazderski, über das, was Sie hier gerade geboten haben –, dass während Andreas Otto damals unter nicht einfachen Bedingungen die Wahlfälschungen vom Mai 1989 mit entlarvt hat, haben Sie in der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg Ihren Hintern plattgesessen und stellen sich heute hier hin, als wären Sie die Erben der Friedlichen Revolution. Das darf doch wohl nicht wahr sein!
[Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU, der LINKEN und den GRÜNEN – Marc Vallendar (AfD): Wie viel Prozent hat die FDP im Osten?]
Es kommen weitere Meilensteine im Jahr 1989 hinzu, die ich der Kürze wegen nur aufzählen möchte: 4. September 1989, die Montagsdemonstration in Leipzig, diese wirklich bewegende Demonstration, die abends in der „Tagesschau“ gezeigt wurde, die dort hineingeschmuggelt wurde, und die letzten Endes auch in der alten Bundesrepublik klarmacht, hier tut sich etwas.
30. September 1989, Genscher in der Botschaft in Prag. – Geschätzter Kollege Dregger, ich stimme bei vielem überein, was die Lebensleistung von Helmut Kohl betrifft. Es wäre Ihnen aber auch kein Zacken aus der Krone gebrochen, gerade auch im außenpolitischen Bereich Hans-Dietrich Genscher, einen gebürtigen Ostdeutschen aus Halle an der Saale, zu würdigen, der mit viel diplo
[Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU, der LINKEN, den GRÜNEN – Beifall von Frank-Christian Hansel (AfD)]
7. Oktober 1989, die erste Großdemonstration in Plauen. 9. Oktober 1989, die deutlich größere Demonstration in Leipzig. 4. November 1989, die knapp eine Millionen Menschen auf dem Alexanderplatz. Der 9. November – die beeindruckenden Bilder mit Gänsehaut. Wir kennen das und können es uns an den Jubiläen immer wieder deutlich vor Augen führen.
Die Leistung der Ostdeutschen, diese Friedliche Revolution, darauf kann man ohne Wenn und Aber stolz sein, auch wenn es natürlich nach 30 Jahren immer noch Punkte gibt, über die man diskutieren kann, was erreicht wurde und was nicht. Diese Leistung bleibt aber, und darauf kann man wirklich stolz sein.
Was folgt letzten Endes daraus? – Wir haben heute, auch im wiedervereinigten Deutschland, auch im wiedervereinigten Berlin, Meinungs-, Rede-, Demonstrations- und Pressefreiheit, was damals nicht selbstverständlich war. Wir haben auch eine deutlich verbesserte Infrastruktur. Ich erinnere mich an die verfallenen Altstädte, zum Beispiel in meiner Heimat Köpenick. Weitere 10 bis 15 Jahre DDR, und sie wäre nicht mehr zu retten gewesen, auch das gehört zur Wahrheit dazu: Das war „Ruinen schaffen ohne Waffen“. Ich bin froh, dass gerade wertvolle Bausubstanz gerettet werden konnte.
Auch das ist eine positive Bilanz der deutschen Einheit, aber auch unterschiedliche Lebensläufe, der Verlust von Arbeit, Transformationsprozesse – auch das gehört dazu.
Man kann bei der Treuhand letzten Endes vieles auch kritisch sehen. Ich will aber darauf hinweisen, dass es ein Sozialdemokrat war, Detlev Rohwedder, der mit höchstem Engagement versucht hat, die Wirtschaft in eine neue Gesellschaft zu transformieren, der sein Leben dafür gelassen hat, weil er von Linksterroristen erschossen wurde. Auch das gehört dazu, auch an solche Leute muss man erinnern. Das war ein mutiger Mann, ein aufrechter Sozialdemokrat und den kann man nicht mit der Treuhand in einen Topf werfen und sagen: Alles war schlecht! – Das gehört dazu.
[Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU, der LINKEN, den GRÜNEN – Beifall von Frank-Christian Hansel (AfD)]
Wichtig ist natürlich auch – und das machen wir hier eigentlich schon ganz gut –, dass die parlamentarische Aufarbeitung funktioniert, dass wir auch entsprechende Initiativen interfraktionell einbringen. Ich danke
ausdrücklich Clara West, Robbin Juhnke, Andreas Otto und Steffen Zillich, mit denen ein wirklich hervorragender Diskurs über diese Fragen funktioniert und wir durchaus den einen oder anderen gemeinsamen Antrag auf den Weg gebracht haben, die auch für konkrete Verbesserungen bei den Opfern der SED-Diktatur gesorgt haben. Das ist auch wichtig: Nicht nur reden, sondern auch handeln, möglichst überparteilich. Das ist, glaube ich, etwas, das wir auch lernen können.
Da kann ich gerne den Kollegen Otto noch mal zitieren, der auch, bei dem, was man lernen kann, gesagt hat:
Die wichtigste Erfahrung ist für mich … Wir haben versucht, mit allen Menschen, auch den ‚Gegnern‘, zu reden. Heute macht mich das SchwarzWeiß-Denken in Politik und Gesellschaft ein bisschen allergisch. Im Abgeordnetenhaus zum Beispiel – hier die Regierung und dort die Opposition – geht es oft zu wenig um die Sache, das ist nicht meins. Ich setze mich lieber mit allen Parteien auseinander und versuche zu verstehen, wie sie ticken. Wenn jeder nur in seiner eigenen Welt lebt, droht die Gesellschaft zu zerfallen.