Protokoll der Sitzung vom 21.03.2024

[Sebastian Schlüsselburg (LINKE): Und nach den Osterferien?]

Und wir müssen die Sozialämter personell weiter stärken, damit Grundsicherungsempfänger nicht monatelang auf die Auszahlung von Leistungen warten müssen.

Wir brauchen gerade in Zeiten knapper werdender finanzieller Mittel keine neuen Studien. Was wir brauchen, ist eine nachhaltige und wirksame Armutsbekämpfung. Als Koalition werden wir diese Aufgabe entschlossen angehen. – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU – Beifall von Lars Düsterhöft (SPD)]

Vielen Dank, Herr Kollege! – Für die Linksfraktion hat jetzt die Kollegin Schubert das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, die Union spricht heute bemerkenswerterweise immerzu an den Anträgen vorbei. Der eine wollte irgendwie über eine Beschlussempfehlung im Ausschuss diskutieren. – Herr Kollege Wohlert! Sie reden nicht über den Antrag, sondern allgemein über Armut.

[Zuruf von Heiko Melzer (CDU)]

Das finde ich befremdlich, denn wir sind hier im Parlament. Natürlich ist verdeckte Armut ein großes Problem. Wenn über 50 Prozent der Leistungsberechtigten die Leistungen nicht in Anspruch nehmen, dann muss uns das doch Sorgen machen, denn es ist ja nicht so, als würden sie das freiwillig tun, es ist auch niemand freiwillig arm, sondern ganz oft gibt es unterschiedliche Gründe, die für diese Nichtinanspruchnahme ihrer Rechte verantwortlich sind, zum Beispiel eine mangelnde Kenntnis der eigenen Rechte, zum Beispiel bürokratische Hürden – die Auslastung der Sozialämter ist da sicher ein gutes Beispiel –, zum Beispiel Sprachhemmnisse, weil die Sozialämter nicht ausreichend ausgestattet sind mit Fremdsprachlern, mit leichter Sprache, mit anderen Möglichkeiten, um Zugänge zu öffnen und Hindernisse abzubauen,

[Beifall von Sebastian Schlüsselburg (LINKE)]

aber eben auch die Angst vor Stigmatisierung. Denn noch immer ist es so, dass ein Teil der Menschen sich schämt, staatliche Leistungen in Anspruch nehmen zu müssen, weil sie glauben, sie seien selbst schuld an ihrem Zustand. Die Hetzkampagne der Union gegen das Bürgergeld in den letzten Tagen und Monaten

[Unruhe bei der CDU]

ist Wasser auf genau diese Mühlen,

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN]

dass Menschen meinen, sich schämen zu müssen, wenn sie Leistungen in Anspruch nehmen, auf die sie ein Recht haben. Das muss aufhören. Deswegen ist es auch richtig,

(Taylan Kurt)

dass wir sehen: Wo sind denn all die versteckten Armen? – Jetzt zu glauben: Ist doch gut, wenn die keine Leistungen in Anspruch nehmen, dann ist es ja billiger! – nein, das verschiebt nur die Kosten, denn Armut macht krank, und kranke Menschen brauchen doch erst recht Unterstützung.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN – Zuruf von Heiko Melzer (CDU)]

Viel wichtiger wäre es doch, dass wir endlich dafür sorgen, dass niemand arm ist, obwohl er oder sie zum Beispiel arbeitet. Wie viele Menschen haben wir in den Niedriglohnsektoren, die trotz Arbeit, trotz Vollzeitjobs auf ergänzende Leistungen angewiesen sind. Deswegen brauchen wir einen ordentlichen Mindestlohn, 15 Euro, damit es armutsfest ist. Deswegen brauchen wir eine höhere Tarifbindung, damit die Leute auch von ihrer Arbeit leben können, damit sich Arbeit tatsächlich in dem Sinne lohnt, dass man davon ein vernünftiges Leben führen kann. Das ist wichtig.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Deswegen brauchen wir Schutz vor Arbeitsausbeutung.

[Zuruf von Michael Dietmann (CDU)]

Wie viele Menschen werden arm, weil sie sich zum Beispiel nicht darauf einlassen, für jeden kleinen Cent zu arbeiten, weil sie sich nicht darauf einlassen, an den Sozialversicherungsträgern vorbei viel länger zu arbeiten, als sie müssen, weil sie sich zur Wehr setzen gegen Ausbeutung und dann ihren Job verlieren und gleich noch die Wohnung

[Sandra Khalatbari (CDU): Langsam!]

und dann als Wohnungslose hier in Berlin sind, die noch viel mehr Unterstützung brauchen? Es ist doch sinnvoll, all diese Formen verdeckter Armut aufzudecken, damit man dann, und da gehe ich wieder auf den Kollegen Wohlert ein, zielgerichtet Maßnahmen ergreifen kann, damit diese Armut verhindert wird.

[Beifall von Sebastian Schlüsselburg (LINKE)]

Das heißt eben auch, dass die Menschen um ihre Rechte wissen, dass sie in allen Sprachen um ihre Rechte wissen, dass wir sie ermutigen, ihre Rechte auch in Anspruch zu nehmen, und dass es eben nicht gut ist, wenn wir verdeckte Armut haben, sondern dass es das Ziel sein muss, überhaupt keine Armut mehr zu haben. – Vielen Dank!

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN]

Vielen Dank, Frau Kollegin! – Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Düsterhöft das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat sich in seiner 32. Sitzung am 29. Februar 2024 mit dem Thema befasst. In dieser kurzen Befassung – sie dauerte, ich habe nachgeschaut, exakt auf die Sekunde 7 Minuten inklusive Abstimmung – äußerte der Kollege Schatz einen Gedanken, den ich gerne heute aufgreifen möchte. – Leider ist er heute nicht da. –:

[Anne Helm (LINKE): Er hört bestimmt zu!]

Wenn wir über verdeckte Armut sprechen, sprechen wir über die Nichtinanspruchnahme von staatlichen Leistungen, sprich: Menschen verzichten freiwillig auf die Hilfe der Solidargemeinschaft. Dies kann unterschiedlichste Gründe haben. Herr Schatz mahnte in der Beratung, dass es auch viele Menschen gebe, die sich durch die Gesellschaft und durch politisches Handeln der demokratischen Parteien stigmatisiert fühlen. – Diesen Ausführungen möchte ich mich anschließen und diese Mahnung tatsächlich wiederholen: Wer staatliche Leistungen bekommt, wer arbeitslos, erkrankt, alleinerziehend, obdachlos, wohnungslos, zu uns geflüchtet oder aufgrund eines Schicksalsschlags in finanzielle Nöte geraten ist und die Hilfe von uns allen, der Solidargesellschaft braucht, ist kein schlechterer Mensch.

[Beifall bei der SPD und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Er ist nicht pauschal faul, nicht dumm oder selbstverschuldet in dieser Situation. Ein Kunde des Jobcenters ist genauso wichtig für uns, genauso ein Teil unserer Gesellschaft wie die Millionärin mit ihrer Villa in Zehlendorf und dem viel zu großen SUV. Das möchte ich hier in dieser Deutlichkeit festhalten.

Äußerungen aus dem politischen Raum, egal woher diese nun kommen, die beispielsweise Empfängerinnen und Empfänger von Bürgergeld in ein schlechtes Licht rücken wollen, sind unanständig, beschämend und menschenverachtend.

[Beifall bei der SPD und der LINKEN]

Wir Demokratinnen und Demokraten sollten uns immer an diesen Grundsatz erinnern, wenn wir Sozialpolitik diskutieren. Und ja, da darf man auch sehr kontrovers diskutieren; das gehört zu unserer Demokratie dazu. Das Stigmatisieren von bedürftigen Menschen sollten wir getrost der AfD überlassen.

[Zuruf von Katina Schubert (LINKE)]

Ich komme auf Ihren Antrag zurück: Ich bin ehrlich gesagt ein bisschen verwundert, dass wir den hier heute beraten. In der kurzen Beratung – ich sagte es: Sieben Minuten hat sie gedauert – wurde im Ausschuss ja sehr deutlich, dass der Senat, erstens, die verdeckte Armut durchaus erfasst. Die Armutsgefährdungsquote wird ermittelt, aus dieser kann man die verdeckte Armut durchaus ableiten. Der Senat schaut sich die Armuts

(Katina Schubert)

gefährdungsschwelle an. Und zweitens bringt der Senat bereits in diesem Jahr eine wissenschaftliche Studie auf den Weg, welche sich mit der Frage beschäftigen soll, was die Menschen davon abhält, auf die Solidargemeinschaft zuzugehen und die Hilfen, die ihnen zustehen, in Anspruch zu nehmen. Das wird der Senat machen – tätiges Handeln.

Ich dachte, so wie der Kollege Carsten Schatz es im Ausschuss auch geäußert hat, dass der Antrag zurückgezogen wird.

[Zuruf von Anne Helm (LINKE)]

Somit kann ich heute sagen, dass wir diesen Antrag ablehnen werden; nicht weil er schlecht ist, sondern weil er tatsächlich an der Stelle überholt ist und wir mit tätlichem Handeln diesem Anliegen nachkommen. – Danke!

[Beifall bei der SPD und der CDU]

Vielen Dank! – Für die AfD-Fraktion spricht nun die Abgeordnete Auricht.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass wir, und damit meine ich uns alle, uns mit der Armut, sei sie verdeckt oder nicht, auseinandersetzen müssen, steht außer Frage. Es ist unerlässlich, besonders jene in den Blick zu nehmen, denen ein Leben in Würde verwehrt bleibt.

Berlin, bekannt für seine lebendige Kultur und Partys, beherbergt auch das unsichtbare Elend, das hinter der schönen Fassade der Großstadt gedeiht – die Armut. Und das auch schon, liebe Grüne, als Sie regierten. Weshalb ich ehrlich gesagt ein bisschen verwundert bin, warum Sie während Ihrer fast siebenjährigen Regierungszeit nichts unternommen haben, wo Sie doch die Mehrheit hatten. Aber Statistiken zu zitieren und Koordinierungsstellen aufzuzählen, reicht nicht aus, um diejenigen zu schützen, die in einem Netz aus Scham und Isolation gefangen sind; auch nicht, Themen nur medienwirksam abzuhandeln. Wieso ist Ihnen nicht aufgefallen, dass seit Jahren eine erhebliche Unterversorgung in der Schuldner- und Insolvenzberatung besteht? Der Rechnungshof stellte fest, dass nur 3 Prozent der verschuldeten Personen in Berlin überhaupt versorgt werden, und Berlin hat eine der höchsten Armutsquoten bundesweit.

Die Nichtinanspruchnahme von Leistungen als Teil der verdeckten Armut stellt daher ein großes Problem dar. Das Traurige ist, dass die Leidtragenden besonders Kinder und Jugendliche sind, die ohnehin schon überproportional von Armut betroffen sind. Das ist wirklich beschämend.

[Beifall bei der AfD]

Der im Antrag erwähnte DIW-Bericht von 2019 – da waren Sie übrigens auch noch in der Regierung – empfahl einiges, um verdeckte Armut zu bekämpfen. Es sollten Antragsverfahren vereinfacht und Bewilligungsdauern verlängert werden. Was haben Sie denn davon umgesetzt?

Ich glaube, an Erkenntnis mangelt es uns nicht, warum Menschen Leistungen nicht in Anspruch nehmen. Die SPD sagte ja schon vor 20 Jahren, das Thema verdeckte Armut sei hinlänglich bekannt und ausreichend erforscht. Forscher aus Jena haben auch im letzten Jahr schon eine Studie bereitgestellt, warum Leistungen nicht in Anspruch genommen werden. Die Hauptgründe waren schlichtes Nichtwissen, zu großer Aufwand, Unerreichbarkeit oder Scham über die Armut.