Protokoll der Sitzung vom 21.11.2024

Änderungsantrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der SPD Drucksache 19/2029-1

In der Beratung beginnt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und das mit der Kollegin Dr. Haghanipour.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nächsten Montag, am 25. November, jährt sich der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, ein Tag, der uns alle daran erinnern sollte, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der fast täglich eine Frau getötet wird. Erst in dieser Woche wurden im neuen Lagebericht des Bundeskriminalamts Zahlen veröffentlicht, die belegen, dass es in 2023 360 Femizide in Deutschland gab. 360! Diese Zahl ist nicht nur erschreckend, sie ist ein Aufruf zum Handeln.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Wir Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke setzen uns mit aller Kraft gegen Gewalt an Frauen ein und haben anlässlich dieses Jahrestages einen Antrag für einen Betroffenenbeirat eingebracht, den wir heute beraten. Doch ich muss an dieser Stelle erst einmal fragen: Was bringt die Koalition aus CDU und SPD heute ein?

[Anne Helm (LINKE): Einen Änderungsantrag!]

Keinen Antrag, keine eigene Initiative, aber zumindest einen Last-Minute-Änderungsantrag mit heutigem Datum, und ich muss sagen, dass mich das freut. Da sage ich doch: Grün wirkt, liebe Kolleginnen und Kollegen!

[Beifall bei den GRÜNEN – Zuruf von Torsten Schneider (SPD)]

Senatorin Cansel Kiziltepe sagte noch im Gleichstellungsausschuss am 5. September dieses Jahres – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –:

„Der Kampf gegen Gewalt an Frauen hat für mich höchste Priorität … Ich habe deshalb auch gestern einen Brief verschickt an die zuständige Bundesfrauenministerin Lisa Paus …“

Der Tagesspiegel zitierte am 9. September 2024 Senatorin Iris Spranger – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –:

„Die Verhinderung von Femiziden als extremster Gewaltform gegen Frauen hat Priorität für den Berliner Senat …“

Liebe Senatorin Kiziltepe! Liebe Senatorin Spranger! Ich glaube Ihnen, dass Ihnen der Gewaltschutz wichtig ist, aber es reicht nicht aus, symbolisch die Frauenflagge zu schwenken. Wir brauchen auch nicht noch mehr Briefe, sondern Zuständige, die handeln.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Ja, auch aus der Opposition heraus erkenne ich an, dass Sie im Senat richtig gute Initiativen für mehr Gewaltschutz angestoßen haben, zum Beispiel die Unterstützung für mehr Schutzräume und die Kinderbetreuung von für von Gewalt betroffene Mütter. Aber warum legen Sie heute in der Koalition keinen eigenen Vorschlag für die dringend benötigten interdisziplinären Fallkonferenzen vor? Für einen vollständigen Gewaltschutz brauchen wir Fallkonferenzen, die das gesamte Hilfesystem an einen Tisch bringen. Sie im Senat haben selbst gesagt, dass Berlin das braucht. Wir Grünen haben bereits vor einem Jahr einen Antrag für interdisziplinäre Fallkonferenzen eingebracht. Weil Sie nicht in den Tritt gekommen sind, haben wir diesen Monat erst mit einem konkreten Gesetzesentwurf nachgelegt. Die Verbände, Institutionen und vor allem die von Gewalt Betroffenen warten. Ich frage Sie: Wie lange sollen sie noch warten? Ich erwarte von Ihnen, geehrte Kolleginnen und Kollegen: Bringen Sie endlich einen Vorschlag für die Fallkonferenzen ein!

[Torsten Schneider (SPD): Ihr müsst klatschen! – Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Wir haben einen weiteren Vorschlag für mehr Gewaltschutz in Berlin. Wenn wir Betroffene ernst nehmen wollen, dann müssen wir sie aktiv in den Gewaltschutz einbinden. Ihre Erfahrung muss mit der fachlichen Expertise Hand in Hand gehen, um den Gewaltschutz zu verbessern. Die Betroffenen wissen schließlich am besten, welche Maßnahmen notwendig sind. Es gibt viele, die selbst Gewalt erfahren haben und etwas dafür tun wollen, dass es anderen nicht so geht. Diese Frauensolidarität ist doch schön, und die sollten wir nutzen.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Wir Grünen fordern genau deshalb die Einrichtung eines Beirats, in dem Betroffene die Umsetzung des Landesaktionsplans der Istanbul-Konvention begleiten dürfen. Ein Blick nach Bremen zeigt uns, wie erfolgreich ein solcher Beirat arbeiten kann. Berlin sollte diesem Beispiel folgen.

Gerade heute ist es ein wichtiges Signal, wenn wir Betroffenen fraktionsübergreifend eine starke Stimme im Kampf gegen Gewalt geben, ein Signal, dass wir Gewaltschutz ernst nehmen. Gewaltschutz rettet Leben. –Vielen Dank!

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

(Vizepräsident Dennis Buchner)

Es folgt für die CDU-Fraktion die Kollegin Niemczyk.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegin Frau Dr. Haghanipour, ein Änderungsantrag ist auch ein Antrag!

[Beifall bei der CDU – Beifall von Mirjam Golm (SPD)]

Vor einem Jahr hat die Koalition einen bedeutenden – nein, danke schön! – Schritt gemacht. Wir haben uns verpflichtet, die Istanbul-Konvention vollständig umzusetzen und damit ein klares Signal gesendet – gegen Gewalt an Frauen und Mädchen, für Schutz, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Als Koalition haben wir den ersten Berliner Landesaktionsplan auf den Weg gebracht, doch dieser Weg ist noch lange nicht zu Ende. Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist kein Randthema. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die uns alle angeht.

Ich freue mich, über das mir so wichtige Thema der Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt sprechen zu dürfen. Es ist unerträglich zu wissen, dass jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens physische oder sexualisierte Gewalt erlebt, sie ist allgegenwärtig, auf der Straße, am Arbeitsplatz, im Netz. Wir dürfen nicht wegsehen. Es liegt an uns allen, Politikern, Bürgern und Organisationen, aktiv gegen diese Gewalt vorzugehen.

[Beifall bei der CDU und der SPD – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN – Beifall von Anne Helm (LINKE)]

Am Montag wurde das BKA-Lagebild zur Gewalt gegen Frauen vorgestellt. Fast täglich wird eine Frau oder ein Mädchen Opfer von Femiziden. Das Lagebild verzeichnet 52 000 Opfer von Vergewaltigungen, sexueller Belästigung oder Nötigung, über 180 000 Opfer von häuslicher Gewalt, hinzu kommen Bedrohungen, Stalking und frauenfeindliche Hasskriminalität. Diese Zahlen verdeutlichen, wie wichtig es ist, die im Landesaktionsplan festgelegten 134 Maßnahmen in allen Bereichen konsequent umzusetzen. Als Koalition haben wir vereinbart, die Betroffenenperspektive in die Umsetzung des Landesaktionsplans zur Bekämpfung und Verhütung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt einzubeziehen. Darum werbe ich um Zustimmung für unseren Koalitionsantrag, ein Begleitgremium aus Fachpersonal und Betroffenen einzuberufen, das systematisch und strukturiert seine Fachexpertise in den Umsetzungsprozess des Landesaktionsplans einspeisen wird. Das ist mir ein großes Anliegen und eine Herzensangelegenheit. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

[Beifall bei der CDU und der SPD]

Für die Linksfraktion folgt die Kollegin Helm.

Vielen Dank, Herr Präsident! – Es ist schon erwähnt worden; diese Woche wurde das Lagebild des Bundeskriminalamts vorgestellt, und die Ergebnisse sind tatsächlich erschreckend. Die Gewalt gegen Frauen hat in allen Bereichen erneut zugenommen, von Sexualstraftaten bis hin zu Mord. Nahezu jeden Tag stirbt in Deutschland eine Frau oder ein Mädchen durch die Hand ihres Partners, Expartners oder Vaters. Unsere Gesellschaft hat offensichtlich ein sehr gravierendes Problem.

Kommenden Montag begehen wir den Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen. Allein in Berlin kommt es fast wöchentlich zu Femiziden oder zu versuchten Tötungen. Auch wenn Annäherungs- und Kontaktverbote bereits bestehen, die gewaltbereiten Personen umgehen sie einfach. Unsere Gesellschaft muss wesentlich mehr Ressourcen in die Verhinderung und in den nachhaltigen Schutz von Frauen und Mädchen investieren. Wir haben nicht genügend Frauenhausplätze, wir sind immer noch blind, was die digitale Gewalt, die sprunghaft angestiegen ist, angeht, und unsere Hilfs- und Unterstützungsstrukturen sind nicht ausreichend ausgestattet, um all diesen Phänomenen wirklich etwas effektiv entgegensetzen zu können.

Die Regierung streicht die Entschädigung für Opfer von Gewalt 2025 nun auch noch erheblich. Die Umsetzung der Härtefallkonferenzen sowie die Verlängerung der Wegweisung von 14 auf 28 Tage werden nicht angegangen, obwohl alle demokratischen Parteien im Abgeordnetenhaus doch dafür sind, wie das heute auch schon bisher alle betont haben.

Um häusliche Gewalt erfolgreich bekämpfen zu können, müssen wir auch die Perspektive ändern, mit der wir als Gesellschaft auf diese Probleme schauen. Erlauben Sie mir, eine persönliche Erfahrung als Beispiel dafür zu schildern: Als mein Onkel meine Tante tötete, weil sie sich von ihm trennen wollte, und sich danach selbst richtete, wurde uns Angehörigen im Juristendeutsch mitgeteilt, es handele sich dabei um einen erweiterten Suizid – als seien Frauen nur die Erweiterung ihres Mannes. Aber es war Mord. Es war ein Femizid, weil er ihr kein Leben ohne ihn zugestanden hat. Die Ermordete wurde später neben ihrem Mörder begraben.

„Die Scham muss die Seite wechseln“, so lautet das ikonische Zitat von Gisèle Pelicot. Für diesen Perspektivwechsel fordern wir im vorliegenden Antrag die Ein

setzung eines Betroffenenbeirats zur Begleitung des Landesaktionsplans zur Umsetzung der Istanbul-Konvention.

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN]

Wir wollen, und so ist es in der Istanbul-Konvention auch vorgesehen, Überlebenden von sexualisierter Gewalt mehr Mitbestimmung in der Priorisierung und Umsetzung der Einzelmaßnahmen des Landesaktionsplans gegen häusliche Gewalt einräumen. Sie sind neben den Vertreterinnen und Vertretern des Interventionssystems doch die besten Expertinnen. Ihre Erfahrungen und Zugänge müssen wir anerkennen und für unsere Hilfe- und Beratungssysteme nutzbar machen. Bremen hat schon gute Erfahrungen mit einem solchen Begleitgremium gemacht, und auch bei der Fachveranstaltung „Wie weit ist Istanbul?“ vom April 2023 wurde von der Gleichstellungsabteilung ein Beirat der Betroffenen befürwortet. Deswegen finde ich es gut, dass die Koalition unseren Ball aufgenommen hat und einen Änderungsantrag gestellt hat. Lassen Sie uns das in dem dafür zuständigen Ausschuss beraten und uns dann gemeinsam auf diesen Weg machen!

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN – Beifall von Raed Saleh (SPD)]

Zum Perspektivwechsel gehört auch, dass Betroffene von häuslicher Gewalt mit sehr viel mehr gesellschaftlichen Anstrengungen ermächtigt werden müssen, ihr Leben nach Gewalterfahrungen wieder nach außen zu richten. Es kann nicht sein, dass sie es sind, die sich verstecken und die umziehen müssen, dass sie in Zeugenschutzprogrammen untertauchen müssen, ihre sozialen Kontakte aufgeben oder ihre Arbeitsstelle – „die Scham muss die Seite wechseln“. Die Täter müssen viel stärker als jetzt in die Verantwortung genommen werden. Ihnen auferlegte Maßnahmen müssen auch kontrolliert werden. Sie müssen beweisen, dass sie bereit sind, sich zu bessern. Es braucht dringend den Ausbau von Täterprogrammen und die Verpflichtung, daran mitzuwirken.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Hilfe und Schutz sind kein Nice-to-have. Es ist die Grundvoraussetzung und auch expliziter Auftrag des Staates, Frauen und Mädchen ein gewaltfreies Leben zu ermöglichen. Deshalb haben Lisa Paus und Nancy Faeser recht. Es braucht ein Bundesgesetz, das Frauenhäuser mitfinanziert und den Zugang zu Schutz und Beratung in Fällen von häuslicher Gewalt durch einen Rechtsanspruch garantiert. Darum bitte ich Sie: Lassen Sie uns die Beratung im Ausschuss fortsetzen und am besten mit einem gemeinsamen Antrag enden, der die Perspektiven von Betroffenen berücksichtigt und ihnen überparteilich Anerkennung schenkt. – Herzlichen Dank!

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Dann folgt für die SPD-Fraktion die Kollegin Golm.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Am 25. November ist wie jedes Jahr der Tag gegen Gewalt an Frauen – ein wichtiger Tag, denn noch für viele Frauen und Mädchen ist Gewalt ein Teil ihrer Lebensrealität. Es ist auch genau der richtige Zeitpunkt, um über Anträge zur Einsetzung eines Betroffenenrats zu diskutieren. Und ja, unser Antrag hätte pünktlicher kommen können. Das wäre vielleicht besser gewesen. Aber nun ist er da. Sie tun ja förmlich so, als wenn die Idee des Betroffenenrats Ihre gewesen wäre.

[Zuruf von Vasili Franco (GRÜNE)]

Dabei ist allgemein bekannt, dass wir seit April an einem solchen Antrag arbeiten, uns insbesondere mit Fachleuten, aber auch mit ganz vielen Betroffenen ausgetauscht haben. Aber egal! Umso besser, dass wir hier in diesem Ziel einig sind, denn Gewaltschutz für Frauen kann nie genug Unterstützerinnen haben.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU, den GRÜNEN und der LINKEN]