Protokoll der Sitzung vom 13.12.2000

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei Ab- geordneten der SPD)

Das Wort erhält Herr Abg. Wacker.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Zunächst sage ich der Landesregierung herzlichen Dank für die umfangreiche und auch detaillierte Beantwortung dieser Großen Anfrage.

(Zuruf von der SPD: Das ist ihr Job!)

In dieser Antwort wird eine Fülle von Informationen zu diesem Thema vorgelegt. Das gibt Anlass zu einer sachlichen Diskussion, wobei ich vermerken möchte: Eine sachliche Diskussion über dieses Thema führen wir gerne. Anlass zur Panikmache und Alarmzeichen sehen wir aber nicht.

(Beifall des Abg. Rech CDU)

Die Datenlage, meine Damen und Herren, ergibt Folgendes: Das Sozialministerium hat in seinem Kindergesundheitsbericht, der im Mai dieses Jahres veröffentlicht wurde, zunächst den Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen im Land als ordentlich, als gut bis befriedigend dargestellt. Besondere Krankheitszeichen sind aufgeführt worden, wie beispielsweise Erkrankungen der Atemwege, Störungen im Ernährungsverhalten, auch Anfälligkeiten bei psychischer Beanspruchung und bei sozialen Anforderungen.

Daneben muss man aber andere Untersuchungen nennen, beispielsweise die des Bundesumweltamtes aus dem Jahr 1999. Dafür sind auch Daten des Landes herangezogen worden. Bei dieser Untersuchung ist ganz klar zum Ausdruck gekommen, dass bei Erkrankungen der Atemwege und im Bereich der Allergien seit Anfang der Neunzigerjahre eher von einem Rückgang zu sprechen ist. Diese Daten belegen ganz klar: Natürlich haben wir nach wie vor diese Krankheitssymptome; wir haben aber keinen Anstieg, sondern eher eine Tendenz nach unten festzustellen.

Die Ausgangslage, meine Damen und Herren, ist zu untersuchen: Woran liegt es, dass bei Kindern und Jugendlichen gerade in diesen Bereichen Erkrankungen zu verzeichnen sind? Hier wird das Stichwort Bewegungsmangel aufgeführt. Das hat Gründe im gesellschaftlichen Bereich, beispielsweise spielt das veränderte Mobilitätsverhalten eine Rolle, auch das veränderte Freizeitverhalten. Hierfür kann man natürlich nicht der Politik die Verantwortung zuschieben, sondern es zeigt sich wieder einmal, dass die Kinder lediglich das Spiegelbild der Erwachsenenwelt sind –

(Abg. Deuschle REP: Bei manchen Abgeordneten ist das eher umgekehrt, glaube ich!)

hier darf ich sinngemäß aus dem Abschlussbericht der Jugend-Enquetekommission zitieren –, dass die Kinder und Jugendlichen sich so verhalten, wie es die Erwachsenen ih

nen beibringen, sowohl im Bereich der Tugenden wie auch im Bereich der Untugenden. Daraus geht ganz klar hervor, dass die Erwachsenen eine besondere Vorbildfunktion ausüben, was das Bewegungsverhalten betrifft, was das Ernährungsverhalten betrifft und auch andere Verhaltensweisen, die dann natürlich zu Krankheitsanfälligkeiten bei den Kindern führen können.

(Abg. Rech CDU: Da kann ich mit einem Vorbild leider nicht dienen!)

Ich glaube, dass die Politik im Besonderen gefordert ist, wenn es um Präventionsmaßnahmen geht. Hier muss man sagen, dass die Landesregierung ihre Hausaufgaben wirklich mehr als erfüllt hat. Ressortübergreifend sind viele Initiativen zu nennen, die auch eine flächendeckende Ausweitung erfahren haben. In der Kürze der Zeit darf ich holzschnittartig einige Beispiele nennen.

Es ist nicht nur der Schulsport, der im Stundenplan ausgewiesen ist. Darüber hinaus werden die Stundentafeln flexibler gestaltet hin zu mehr Bewegungszeiten, zu Aktivpausen mit der Folge, dass auch die Schulhofgestaltung vor Ort dahin gehend optimiert werden kann, dass solche Aktivpausen sich zu regelrechten Bewegungspausen entwickeln. Dafür sind aber Initiativen vor Ort gefordert, sprich von Kommunen, von Eltern, von der SMV und auch von anderen.

Ein weiterer Punkt sind die Kooperationsprojekte von Schulen und Sportvereinen, und auch die Jugendverbandsarbeit engagiert sich in diesem Bereich immer stärker.

Zu den Gesundheitschecks – dazu hat die Antwort auf die Große Anfrage sehr deutliche Angaben gemacht –: Es gibt Pflichtuntersuchungen, die durch den Leistungskatalog der Pflichtkrankenkassen nach wie vor abgedeckt werden. Erfreulich ist, dass die Untersuchungen vor Eintritt der Kinder in den Kindergarten in verstärktem Maß in Anspruch genommen werden. Das spricht dafür, dass das Problembewusstsein auch bei den Eltern zunimmt. Das ist gut so. Je früher man das Problem erkennt, umso weniger Behandlungen durch Ärzte werden später erforderlich.

Es gilt Landesprojekte weiterhin auszudehnen und zu bündeln. Da bin ich mit Ihnen völlig einig, ohne dass hierzu über einen Entschließungsantrag abgestimmt werden muss. Aber darüber kann man im Sozialausschuss gern noch einmal diskutieren. Ich denke in diesem Zusammenhang an die Präventionsinitiativen zu Ecstasy, an die Kooperation der Pflichtkrankenkassen mit den Jugendringen, gerade wenn es um Alkoholpräventionsprojekte geht, an Nichtraucherkampagnen, an Ernährungs- und Erziehungsprojekte, die durch das Ministerium Ländlicher Raum initiiert wurden, oder an ein modellhaftes Projekt der Jugendhilfe im Rems-Murr-Kreis, wo es um die stadtteilbezogene Gesundheitsförderung geht.

Fazit, meine Damen und Herren: Gesundheit kann vom Staat nicht angeordnet werden. Gesundheitserziehung ist ein Bereich, in dem der Staat Aufgaben mit übernimmt. Die Familien als wesentlicher Bestandteil der Erziehung sind da im Besonderen gefordert. Hier gilt es auch mehrere Partner zu motivieren, sich in diesem Bereich zu engagieren.

Eine letzte Bitte, die aber mehr in die Richtung Bundesgesetzgeber geht: Natürlich ist die Budgetierung – das sage ich jetzt als medizinpolitischer Laie – eher eine Handschelle für die Ärzte. Wenn man die Budgetierung endlich einmal aufheben könnte,

(Abg. Birgitt Bender Bündnis 90/Die Grünen: Wir haben die Gesundheitsförderung wieder einge- führt, die ihr abgeschafft hattet!)

gäbe es hier mehr Möglichkeiten, auch für die Mediziner, vielleicht andere Behandlungsmethoden anzuwenden, damit auch von dieser Seite her mehr Flexibilität und Effizienz bei den Behandlungsmethoden ermöglicht werden. Das wäre eine Chance, Frau Kollegin Bender, gerade in diesem Bereich einen deutlichen Schritt voranzukommen. Vielleicht können Sie diese Anregung auch in Berlin vortragen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP)

Das Wort erhält Herr Abg. Dr. Müller.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Antwort der Landesregierung zeigt Fortschritte, aber auch deutliche Defizite im Bereich der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Baden-Württemberg auf.

Fortschritte treten überall dort auf, wo es um die technisierte Medizin geht – Behandlung krebskranker Menschen, Intensivmedizin Neugeborener –, oder auch im Bereich der Pharmakologie, wobei es in diesem Bereich Grenzen gibt. So meine ich in diesem Zusammenhang bei hyperaktiven Kindern eher ein Zuviel als ein Zuwenig zu entdecken.

Aber es bestehen auch deutliche Defizite in den Bereichen gesunde Ernährung, Bewegung, Umweltmedizin sowie erhebliche Impflücken. Ferner gibt es die sehr wichtige Erkenntnis: Diese Defizite sind nicht gleichmäßig verteilt.

In Baden-Württemberg ist die Situation bei Karies von Kindern und Jugendlichen sehr gut. Andererseits aber entfallen auf 10 % der Kinder 70 % der Kariesfälle. Das heißt, es besteht eindeutig eine soziale Schichtung. Da sehe ich gegenwärtig das gesundheitspolitisch größte Problem.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Birgitt Bender Bündnis 90/Die Grünen und Dr. Noll FDP/DVP)

Ich zitiere aus der Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage:

Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien gesundheitlich ungünstigere Lebensmittel bevorzugen...

Das ist so. Ich weiß nur nicht, ob der Begriff „bevorzugen“ stimmt. Ich möchte fragen: Was ist in den Familien im Angebot? Können sie wählen? Dort sind eben vielfach Cola und Chips im Angebot, und die Jugendlichen werden daran gewöhnt. Das heißt, auch da werden kompensatorische Angebote benötigt.

Die Landesregierung sagt in ihrer Antwort außerdem: Kinder aus sozialen Unterschichten und Migrantenfamilien beteiligen sich weniger an Vorsorgeuntersuchungen.

Zusammengefasst: Deutliche Fortschritte bei der Hochleistungsmedizin, aber Stagnation und Rückschritt bei der Prävention, der Durchimpfung, gesunder Ernährung und Bewegung. Das macht deutlich, dass es im Gesundheitssystem der Markt nicht richten wird. Das ist eine deutliche Erkenntnis.

Man kann auch nicht sagen, Herr Kollege Wacker: das Budget ein bisschen erhöhen. Das Budget, das Sie erhöhen würden, würde den Familien, die zu Hause ungesund ernährt werden, überhaupt nichts nützen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Bünd- nisses 90/Die Grünen)

Das heißt, da werden insgesamt andere Antworten benötigt. Wir müssen nach wie vor sehen, dass Gesundheit auch in Zukunft im Wesentlichen Teil der sozialen Daseinsfürsorge und eine öffentliche Aufgabe bleiben wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch die Konsequenzen aus den Beobachtungen der Gesundheitsämter – für deren Arbeit ich danken will; es ist sehr wichtig für unser Land, dass wir sie haben – entziehen sich marktwirtschaftlichen Gesetzen. Man muss begreifen, dass Gesundheitspolitik eine Querschnittsaufgabe ist; sie betrifft auch den Umweltschutz, die natürliche Nahrungsmittelproduktion, die gesunde Bauweise – wie bauen wir unsere Schulen, wie dichten wir sie ab, warum haben wir so viele Schimmelpilze? –, und sie betrifft natürlich auch den Sport und die Förderung der Sportvereine.

(Abg. Brechtken SPD: Sehr richtig!)

Ich zitiere weiter aus der Antwort der Landesregierung:

Die Defizite im familiären und sozialen Umfeld vieler Jugendlicher erfordern nachhaltige gesamtgesellschaftliche Lösungsansätze.

Die Landesregierung spricht von Defiziten im familiären Bereich und von gesamtgesellschaftlichen Lösungsansätzen. Das halte ich für einen Fortschritt. Sie haben bisher immer auf die Familie verwiesen, die es schon richten werde, wenn man sie fördert. Die zitierte Aussage ist meiner Ansicht nach ein Schritt in Richtung Realität. Die Familien werden es nicht mehr überall richten können. Das heißt also, wir brauchen kompensatorische Einrichtungen.

Sie verweisen in Ihrer Antwort auch darauf, dass es Angebote im Bereich Prävention gibt. Aber ich frage Sie: Wer nutzt das Angebot? Zum Beispiel ist das Angebot der Prävention im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung mittelstandsorientiert. Wer geht zur Verbraucherberatung zwecks gesunder Ernährung? Derjenige, der wissen will, welches Müsli noch ein wenig besser ist als das andere. Aber derjenige, der seine Kinder mit Cola und Chips versorgt, geht nicht zur Verbraucherberatung.

(Beifall bei der SPD – Abg. Zeller SPD: So ist es!)

Das heißt, wir müssen uns auch fragen, wie wir gesundheitspolitische Ansätze schichtenspezifisch umsetzen können.

Im Land gibt es gute Beispiele dafür, etwa im Bereich der Drogenprophylaxe. Der Drogenbeauftragte vor Ort bemüht sich darum, gewisse Gruppen zu erreichen. Ein anderes Beispiel ist die Prävention der Aids-Initiativen in BadenWürttemberg. Das zeigt, dass man die Erhaltung der Gesundheit nicht allein dem Medizinbetrieb überlassen kann – der macht das in seinen Teilbereichen gut –, sondern sie ist insgesamt eine sozialpolitische Aufgabe. Wenn Sie nun sagen, die Familien packten das nicht mehr – das sehen wir genauso –, ist die logische Folgerung daraus, dass Sie auch im pädagogischen Bereich für mehr Ganztagsangebote eintreten müssen.

(Beifall bei der SPD – Abg. Braun SPD: Jawohl! Sehr gut!)

Sie können nicht sagen: Wir packen das alles in den bisherigen Stundenplan. Die Kinder, die es zu Hause nicht erfahren, können vielleicht in der Schule gesunde Ernährung lernen. Sie können Bewegung in der Schule erfahren.

(Abg. Zeller SPD: So ist es!)