Noch mehr trifft das auf den Vorschulbereich zu. Das wird aus der Antwort der Landesregierung ganz deutlich. Das Essverhalten wird in den ersten vier, fünf Lebensjahren geprägt. Das Bewegungsverhalten wird in den ersten vier, fünf Jahren geprägt. Deshalb meine ich, dass es ganz richtig ist, dass wir von der SPD-Landtagsfraktion immer Wert gelegt haben auf Qualitätssicherung in den Vorschuleinrichtungen, Ganztagsbetreuungseinrichtungen, qualifizierte Angebote und Weiterbildung der Erzieherinnen. Das sind die Punkte, die letztendlich Investitionen in Gesundheit darstellen.
Ein letzter Punkt, den ich noch ansprechen will, betrifft ein Thema, das hier gar nicht vorkommt; die Landesregierung geniert sich vielleicht wegen ihrer Untätigkeit. Kinderschutzambulanzen waren eine Forderung der Enquetekommission „Kinder in Baden-Württemberg“. In dieser Hinsicht ist in den letzten Jahren überhaupt nichts passiert. Hier könnte das Land selbst etwas tun, und es könnte natürlich auch im Bereich der Prophylaxe etwas tun.
Mich als Arzt ärgert es immer, dass wir es nie geschafft haben, Jodprophylaxe flächendeckend durchzuführen.
Ja. – Wenn wir die Jodprophylaxe – die ist mir jetzt ein Anliegen, deshalb werde ich den Satz noch zu Ende führen, Herr Präsident –...
... flächendeckend durchführen würden, könnten wir manche chirurgische Abteilung, die im Land Baden-Württemberg Kröpfe operiert, schließen. Das heißt, wir müssen einen breiteren, einen sozialpolitischen Ansatz der Gesundheitspolitik haben. Dann werden wir in diesem Bereich auch weiterkommen. Die bisherige Devise „Mehr Geld ins System, mehr Geld ins Budget“ ist falsch. Wir brauchen einen Gesamtansatz. Dann kann man mit weniger Mitteln mehr erreichen.
(Beifall bei der SPD – Abg. Brechtken SPD: Ge- gen Jod kann sich nicht einmal der Präsident weh- ren!)
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist sehr verdienstvoll, und die Antwort der Regierung bietet eine Fülle von Fakten. Um auf all diese einzugehen, reicht die Redezeit von fünf Minuten natürlich nicht. Deswegen will ich drei Punkte herausgreifen.
Erstens: Frau Bender, Sie haben es auch schon angedeutet: Es ist eigentlich überraschend, dass gerade in Baden-Württemberg entgegen dem bundesweiten Trend bei Allergien und Erkrankungen des asthmatischen Formenkreises bei Kindern tendenziell eher eine Abnahme als eine Zunahme zu konstatieren ist. Ähnlich verhält es sich übrigens bei der internen Belastung durch Schwermetalle, Quecksilber, Blei, chlororganische Schadstoffe.
Einzig bei dem Punkt „Auswirkungen von Arzneimittelbelastungen von Gewässern“ sehe ich die Aussage der Landesregierung, dass Angaben über Auswirkungen bisher nicht vorlägen, als nicht sonderlich hilfreich an. Denn ich denke, es gibt Anhaltspunkte. Es steht ja auch in der Antwort der Landesregierung, dass aquatische Organismen durchaus auf diese Substanzen reagieren. Es ist klar, dass gerade ein wachsender Organismus durch hormonelle Einwirkungen aus dem Grundwasser Folgen ausgesetzt ist. Hier sehe ich, Herr Minister, deutlichen Forschungsbedarf.
Insgesamt wird aus der Großen Anfrage als Fazit für mich deutlich, dass die öffentliche Wahrnehmung und vor allem die Risikoeinschätzung manchmal eben nicht den Fakten entspricht. Denn wenn Sie die Antwort genau lesen, dann erkennen Sie doch, dass nicht die für den Einzelnen zunächst einmal unabwendbaren, weil von der Umwelt auf ihn einwirkenden Risikofaktoren das große Problem in Baden-Württemberg sind, sondern, wie die Landesregierung zu Recht sagt, eben die Faktoren, die lebensstilbedingt sind, zum Beispiel Ernährungsmängel, Bewegungsmangel und, und, und.
Dafür sind in der Regel nicht Umweltfaktoren, sondern die Erwachsenen mit ihrem Vorbild und mit ihrem eigenen Verhalten verantwortlich.
(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU – Abg. Wacker CDU: So ist es! – Abg. Rech CDU: Da fällt es schwer, nicht zu klatschen!)
Lassen Sie mich zum zweiten Punkt kommen, dem klassisch-medizinischen Bereich. Ich denke, es hieße Eulen nach Athen tragen, den Vorrang von präventiven Maßnahmen und Vorsorgeuntersuchungen gerade im Kindesalter zu betonen, ohne übrigens – Sie haben es zu Recht gesagt, Herr Müller – die durchaus positiven Fortschritte in der kurativen Medizin – Krebsbehandlung usw. – hier gering zu schätzen. Vorrang müssen Prävention und Vorsorge übrigens nicht in erster Linie unter Kostenaspekten haben, sondern weil Kindern damit Chancen auf eine gesunde Entwicklung und bei Früherkennung von Entwicklungsstörungen bessere Heilungschancen geboten werden und damit späteres Leid vermieden wird.
Deshalb muss eines klar sein. Herr Müller, ich habe das jetzt bei Ihren Ausführungen fast vermisst. Ich bin es ja schon gewohnt, dass Sie dann wieder auf unser Konzept „Vertrags- und Wahlleistungen“ hinweisen.
(Abg. Dr. Walter Müller SPD: Ich habe mehrere Platten! Sie haben bloß eine, und die hat einen Sprung!)
Deswegen sage ich Ihnen: Gerade Prävention und Vorsorgeuntersuchungen für Kinder und Jugendliche gehören definitiv zum Kernbereich unserer gesetzlichen Krankenversicherung und sollen dort auch bleiben.
Wenn Sie sich die Mühe machen, das Konzept der Zahnärzte, das übrigens nicht mehr Grund- und Wahlleistungen, sondern Vertrags- und Wahlleistungen heißt, einmal gründlich zu lesen,
so werden Sie feststellen, dass dort bis zum 18. Lebensjahr Prophylaxe vorgesehen ist, und zwar voll auf Kosten der GKV. Ich denke, gerade die Zahnheilkunde liefert ein tolles Beispiel – Sie haben es auch erwähnt –, wie Prophylaxe wirksam werden kann.
Da brauchen wir inzwischen nicht mehr in die Schweiz oder nach Skandinavien zu schauen, sondern wir haben in Baden-Württemberg die WHO-Werte, die Werte der Weltgesundheitsorganisation, längst erreicht bzw. übertroffen,
was naturgesunde Kindergebisse betrifft. Was die übrigen ärztlichen Vorsorgemaßnahmen angeht, nämlich U 1 bis U 9 – das geht ja auch aus der Antwort auf die Große Anfrage hervor –, werden sie im Wesentlichen sehr gut in Anspruch genommen. Die relativ neue J 1, also die Jugenduntersuchung, hat noch ein bisschen Nachholbedarf.
Das größte Problem ist in der Tat der Zugang zu bestimmten Gruppen. Aus meiner persönlichen Erfahrung als ehrenamtlicher Jugendzahnarzt kann ich sagen: Kinder von ausländischen Eltern sind, weil sie auch sprachlich nicht
integriert sind, sehr schwer zu erfassen. Wir werden unsere Präventionsprogramme – das tun wir übrigens in der Zahnmedizin schon – ganz gezielt auf diese Gruppen orientieren müssen.
Was mich an der Großen Anfrage ein bisschen ärgert, Frau Bender, ist, dass Sie wieder einmal relativ undifferenziert den Umgang mit Medikamenten durch die Ärzteschaft hier anhand des Beispiels Ritalin kritisieren. Ich finde es einfach unverantwortlich, wenn man gerade Eltern von ADSKindern hier gar noch ein schlechtes Gewissen einreden will und dass Sie Ärzte, die nach sorgfältiger Diagnostik – Sie werden ja wohl zugeben, dass es Fälle gibt, wo man Ritalin einsetzen sollte – und unter therapeutischen Begleitmaßnahmen Ritalin einsetzen, in eine Ecke stellen, in die sie wirklich nicht hingehören.
(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Abg. Birgitt Bender Bündnis 90/Die Grü- nen: Das Problem ist die Zunahme der Verschrei- bung und der Verzicht auf ein therapeutisches Ge- samtkonzept!)
Sollte es Fehlentwicklungen geben, so, denke ich, hat die Selbstverwaltung – völlig zu Recht wurde von der Regierung darauf hingewiesen – die entsprechenden Instrumente in der Hand. Auch die Krankenkassen sind da natürlich gefragt.
Dritter und wichtigster Punkt – leider schon ganz zum Ende –: Wir wissen, dass Ernährungsmängel und Bewegungsmangel die Hauptgründe sind. Es ist richtig, dass man in der Schule und schon im Kindergarten – die Antwort auf die Große Anfrage liefert ja viele Beispiele, was derzeit getan wird – die Voraussetzungen schafft für gesunde Ernährung und für mehr Bewegung. Aber wir sind uns, glaube ich, alle einig, dass noch vor Kindergarten und Schule, nämlich von der Geburt an, die Familie letztlich die Lebensform ist, in der diese Verhaltensweisen, und zwar in der Regel lebenslang, geprägt werden.
Ich denke, jedes Kind, egal in welcher Familienform es aufwächst, hat ein Anrecht auf gleiche Chancen, auf eine gesunde körperliche und geistige Entwicklung. Es geht ja auch aus der Antwort hervor, dass gerade materielle Armut – Sie, Herr Müller, haben es gesagt – von Familien die gesundheitliche Situation der Kinder gefährdet. Übrigens gefährdet auch die geistig-emotionale Armut die Entwicklung von Kindern, sodass sie nicht zu starken Persönlichkeiten werden können und daher suchtgefährdet sind und, und, und. Insofern hat die Familienpolitik die Aufgabe, die materielle Situation von Familien zu verbessern.
Da hoffe ich sehr, dass mit der zweiten Stufe des Familienleistungsausgleichs aus Berlin – mit der ersten waren wir ja nicht so ganz glücklich – das Thema ein bisschen stärker vorangebracht wird. Aber Familienpolitik ist eben nicht nur – –
Herr Abgeordneter, bei allem Engagement, das auch Sie auszeichnet, bitte ich Sie, zum Ende zu kommen.
Bei allem Reden über Steuer- und Transferpolitik ist Familienpolitik mehr. Sie bedeutet nämlich, die Erziehungsfähigkeit der Familien von Anfang an zu stärken. Deswegen wird uns dieses Thema „Stärkung der Erziehungsfähigkeit von Vätern und Müttern, Stärkung der Familienbildung“ in der nächsten Legislaturperiode noch ganz speziell beschäftigen.
Dann haben wir, glaube ich, den richtigen Ansatz, die Probleme, die aufgezeigt worden sind, zu lösen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Große Anfrage und insbesondere die Beantwortung dieser Großen Anfrage liefert in der Tat – das ist schon mehrfach gesagt worden – eine Fülle von Material unterschiedlichster Fachbereiche, unterschiedlichster Themenkomplexe. Man sieht hier wunderbar, wie umfangreiche Themen und Gebiete, rechtliche und juristische Dinge, aber vor allem medizinische, psychologische und pädagogische Dinge hier mit hineinreichen.
Was mir bei den bisherigen Beiträgen ein wenig zu kurz gekommen ist, ist die Frage der politischen Verantwortung und der politischen Führungsfunktion, die die Politik hat. Es ist, denke ich, zu einfach, wenn man sich zurückzieht und sagt, das sei eine Sache, die wir der Familie überlassen, oder das seien gesellschaftliche Entwicklungen, denen wir machtlos gegenüberstünden. Ich denke, wir haben es hier mit Entwicklungen zu tun, zum Beispiel im Bereich der Familie und deren fortschreitender Auflösung, die durchaus politisch initiiert und politisch betrieben sind, und die Folgen spüren wir natürlich auch in den Ergebnissen, die in diesen Einzelfeldern dann zutage treten. Lassen Sie mich auf einige Einzelaspekte eingehen.