Protokoll der Sitzung vom 03.02.2000

Nun möchte ich mit allem Nachdruck und mit großer Sorge sechs Punkte anschneiden, die mir wichtig sind und von denen ich meine, dass wir darüber einmal nachdenken müssen.

Erstens: Der Arbeitsmarkt ist seit über zehn Jahren nicht mehr im Gleichgewicht. Seit über zehn Jahren beklagen wir eine Arbeitslosigkeit von deutlich über 5 % in BadenWürttemberg und rund 10 % bundesweit. Um von einem Gleichgewicht des Arbeitsmarkts reden zu können, wäre es erforderlich, diese Quote auf 3 % zu reduzieren.

Bereits 1994 hat die Monopolkommission zum Arbeitsmarkt gesagt:

Ein realistischer Weg zu mehr Beschäftigung führt nicht über zentrale Verbandsvereinbarungen, sondern nur über die Einführung von mehr Wettbewerb am Arbeitsmarkt.

(Abg. Haas CDU: Hört, hört!)

Ich sage deswegen dazu: Markt am Arbeitsmarkt.

(Beifall bei der CDU)

Wenn man unsere Förderungen auswertet, sieht man, dass es nicht die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind, die am meisten in den Arbeitsmarkt führen, sondern vor allen Dingen ausbildungsbegleitende Hilfen und Überbrückungsgeld bei Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit. Ich freue mich, dass nun auch unsere deutsche Arbeitsverwaltung sich nach langem Zögern eine systematische Erfolgskontrolle selbst verordnet hat.

Zweitens: Viele der bisherigen Korrekturversuche sind nicht über kosmetische Teilerfolge hinausgekommen. Viele Sonderprogramme und Aktivitäten waren zu wenig erfolgreich. Ich erwähne hier nur eine paar wenige: Arbeitszeitverkürzung, Frühverrentung, Umschulungen, Lohnverzicht und viele andere.

Ich zitiere hier nun nicht einen CDU-Mann, sondern ich zitiere zwei Autoren, die die rot-grüne Bundesregierung beraten, die zum engsten Beraterkreis gehören, den Sozialwissenschaftler Rolf Heinze und Wolfgang Streeck, den Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung. Sie haben gesagt, dass wir hier einem Denkfehler unterliegen. Ich stimme dem zu. Sie schreiben:

Um dem Arbeitsplatzmangel zu begegnen, setzte die Politik in Deutschland in erster Linie auf eine Verringerung der Nachfrage nach Arbeit (Vorruhestand, Weiterbildung, Arbeitszeitverkürzung). Die Statistik zeigt jedoch: Gerade in Ländern mit hoher Erwerbsquote ist die Arbeitslosigkeit gering.

Dennoch muss ich sagen, dass wir den ESF-Programmen, die hier schon angesprochen wurden, in voller Höhe zustimmen. Ich weiß nicht, warum man immer noch darüber diskutiert, wenn unser Ministerpräsident hier klipp und klar erklärt hat, dass alle Mittel, die wir vom Europäischen Sozialfonds bekommen können, bei uns in Baden-Württemberg komplettiert werden – im Sozialministerium, im Wirtschaftsministerium und im Kultusministerium. Ich denke, dass diese Aussage einmal genügen müsste.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Das ist mehr als eine Verdoppelung der bisherigen Zahlen.

Drittens: Bei der Arbeitslosigkeit lassen sich drei Gruppen unterscheiden: a) saisonale und kurzfristige Arbeitslosigkeit, b) am Arbeitsmarkt nicht nachgefragte Personengruppen, c) Personengruppen, die für eine Beschäftigung vitalisiert werden können. Dies möchte ich nicht weiter ausführen, sondern Ihnen nur zur Kenntnis geben.

Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang, dass in vielen Bereichen die Motivation fehlt. Das erfahren Sie auch in den Betrieben. Hier habe ich eine Studie aus NordrheinWestfalen vorliegen, die ganz klar belegt, dass das größte Einstellungshemmnis die fehlende Arbeitsmotivation ist, noch vor der fehlenden beruflichen Qualifikation. Dies muss uns zu denken geben.

Viertens: Facharbeitermangel wirkt zunehmend wie ein Flaschenhals und behindert ein stärkeres und schnelleres

Wachstum in Schlüsselbranchen. Dies ist mir das allerwichtigste Thema, weil ich immer wieder feststelle: In unseren Betrieben und in unserem Wirtschaftssystem brauchen wir sehr viele Facharbeiter. Allein in meinem Bereich, in der Drehteileindustrie, werden 130 Facharbeiter nachgefragt und 150 Jugendliche zur Ausbildung benötigt.

Hier müssen wir wieder dazu übergehen, dass auch unsere technischen Werkstätten besser ausgestattet werden und dass sie wieder der Stolz unserer Wirtschaft werden. Wir dürfen nicht nur auf die Weiße-Kragen-Berufe setzen, sondern der Stellenwert der gewerblich-technischen Berufe – dies habe ich schon oft gesagt – muss wieder angehoben werden.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Rech CDU: Sehr gut! Der Mann weiß, wovon er redet!)

Fünftens: Im Dienstleistungsbereich wird zunehmend ein nicht regulärer Schwarzarbeitsmarkt zum legalisierten Beschäftigungsverhältnis für viele Mitbürgerinnen und Mitbürger. Die Handwerkskammer hat kürzlich Folgendes veröffentlicht: Die Schwarzarbeit erreicht 18 % des Bruttosozialprodukts; das jährliche Wachstum ist etwa doppelt so groß wie das reguläre Wirtschaftswachstum.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir tun so, als wenn uns das nichts anginge. Wenn jede sechste Mark in der Schattenwirtschaft „Schwarzarbeit“ den Besitzer wechselt, dann ist der Schluss nahe liegend: Es gibt einen Wirtschaftskreislauf neben dem legalen Beschäftigungs- und Arbeitsmarkt. Dieser zweite Wirtschaftskreislauf hat im Bereich Dienstleistungen eine höhere Akzeptanz in der Bevölkerung erreicht als der erste, legale Beschäftigungsmarkt.

Schließlich sechstens: Die Rahmenbedingungen des regulären Arbeitsmarkts machen es vielen Mitbürgerinnen und Mitbürgern nicht mehr möglich, den Produktionsfaktor Arbeit zu erleben, weil gewerbliche Arbeit und somit die Begegnung auf der Grundlage eines legalen Auftraggeberund Auftragnehmerverhältnisses nicht mehr bezahlbar erscheint.

Was meine ich damit? Stellen wir uns vor, in unseren Brusttaschen tickte ein Minutenzähler, und von Minute zu Minute würden auf diesem Zähler 2 DM abgebucht. Eine Begegnung zwischen Menschen würde so dokumentiert und zum absoluten Luxuserlebnis. Überall dort, wo Menschen die hilfreiche Dienstleistung eines anderen Menschen in Anspruch nehmen möchten oder müssten, klappte dies nicht mehr, weil diese Dienstleistung oder, einfacher ausgedrückt, diese Begegnung von Mensch zu Mensch nicht mehr finanzierbar wäre.

Eine Schlussbemerkung: Unsere Konzeption, die Konzeption der Union, ist klar: Wir wollen die Rahmenbedingungen für Wachstum und Beschäftigung verbessern, insbesondere durch eine große Steuerreform für Arbeitnehmer, Unternehmen und Unternehmer. Es ist allemal die beste Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, wenn die Menschen von ihrem verdienten Lohn wieder mehr in der eigenen Tasche haben. Alle Programme wären dann Nebensache.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Veigel FDP/ DVP – Abg. Rech CDU: Das war mitten aus der Praxis!)

Das Wort hat Herr Abg. Nagel.

(Abg. Haas CDU: Kann er die Rede nicht zu Pro- tokoll geben?)

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit – die Schaffung neuer Arbeitsplätze, eine aktive Arbeitsmarktpolitik – ist nach wie vor eine der wichtigsten Aufgaben der Politik und der Gesellschaft. Auch in Baden-Württemberg dürfen wir nicht nachlassen, dieses Thema ständig auf der Tagesordnung zu belassen, trotz im Bundesvergleich gesehen guter Beschäftigungslage.

Es gibt bei uns durchaus regionale Unterschiede. Wir haben nach wie vor Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit, zum Beispiel die Regionen Singen, Lörrach und auch Mannheim. Wir haben Gruppen von Menschen, zum Beispiel Langzeitarbeitslose, Menschen mit geringer Qualifikation, deren Leistungen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr nachgefragt sind, und denen hat unsere Aufmerksamkeit besonders zu gelten.

Wir sind nicht der Auffassung, dass Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe die Endstation für diese Menschen sein darf. Jeder Mensch, der arbeiten kann und will, hat ein Recht auf Arbeit und Ausbildung, damit er seine Zukunft selbst gestalten kann. Menschen brauchen Zukunft, sonst gehen sie unserer Gesellschaft verloren.

(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP/DVP – Abg. Rech CDU: Zustimmung, Herr Nagel! Zu- stimmung!)

Das wird sich gleich ändern.

(Heiterkeit – Abg. Rech CDU: Ich ziehe zurück!)

Dies vermisse ich bei dieser Landesregierung und besonders beim Ministerpräsidenten: die Anstrengungen, eine wirklich aktive Arbeitsmarktpolitik in diesem Land zu gestalten, sich der Menschen anzunehmen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, mitzuhelfen, dass sie wieder eine Chance haben, Ausbildung und Arbeit zu erhalten, für sich und ihre Familie zu sorgen. Dies hat auch etwas mit Würde des Menschen zu tun.

(Beifall bei der SPD)

Stattdessen betreibt man eine Politik, die ein Bündnis für Arbeit in unserem Land scheitern lässt.

(Abg. Haas CDU: Wer ist denn ausgestiegen?)

Die Gewerkschaften will man mit Unverbindlichkeiten abspeisen. Substanzielle Forderungen und Vorschläge wurden abgelehnt. So kann man aber nicht mit einem wesentlichen Partner dieses Bündnisses umgehen.

(Beifall bei der SPD)

Herr Abg. Nagel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abg. Dr. Glück?

Bitte.

Herr Nagel, ich bin jetzt sehr überrascht. Darf ich fragen, für welches Bundesland Sie sprechen, wenn Sie von diesen hohen Arbeitslosenquoten sprechen, und würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass wir in diesen Statistiken ganz vorn stehen und nicht ganz hinten, wie Sie es hier aufzeigen?

(Unruhe)

Herr Glück, Sie bekommen darauf eine Antwort. Es wäre sinnvoll gewesen, Sie hätten bereits am Anfang meiner Rede zugehört, als ich gesagt habe, dass wir im Bundesvergleich eine gute Beschäftigungssituation haben, die aber nicht davon ablenken kann, dass wir regionale Unterschiede haben und dass es besondere Gruppen von Menschen gibt, um die man sich auch besonders kümmern muss.

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: So ist es!)

Ich wiederhole: So kann man mit den Gewerkschaften als wesentlichen Bündnispartnern nicht umgehen. Es zeigt sich, dass dieser Ministerpräsident und sein VorzimmerPalmer

(Heiterkeit bei der SPD)

gar nicht gewillt sind, auf diesem Feld vorwärts zu kommen. Man musste Herrn Teufel ja geradezu nötigen, überhaupt ein Bündnis für Arbeit zu installieren. Was in anderen Bundesländern, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen oder in Bayern, ausgezeichnet funktioniert, ist für den Ministerpräsidenten nur eine lästige Pflicht.

(Abg. Haas CDU: Was funktioniert bei der Ar- beitslosenquote überhaupt?)