Protokoll der Sitzung vom 28.06.2000

Meine Damen und Herren, zwei Jahre ist diskutiert worden. Über die allermeisten Elemente ist ein breiter Konsens hergestellt, über manches sind wir im Dissens. Es gibt einen breiten Konsens mit dem Hochschulverband, der Landesrektorenkonferenz, dem Forum Gymnasium – Hochschule – Wirtschaft, dem Philologenverband, der Direktorenkonferenz und den Fachverbänden.

Diejenigen, die im Gymnasium wirken, die die Geschichte des Gymnasiums kennen, wissen, dass in dieser Neuordnung eine große Chance steckt; sie haben die Neuordnung wesentlich mit auf den Weg gebracht und mitgestaltet.

Mit dem Landesschülerbeirat und dem Landeselternbeirat ist nicht in allen Punkten Konsens erreicht. Das bezieht

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

sich auf die Leistungskurse. Aber sowohl die Vertreter der Eltern als auch die des Landesschülerbeirats sind jetzt an der Weiterentwicklung der Lehrpläne beteiligt. Die Lehrplanarbeit ist in vollem Gang, unter Beteiligung von Eltern und auch von Schülervertretern, unter Beteiligung der Hochschulen und der Wirtschaft. Lehrpläne der Zukunft können nur vernünftig erstellt werden, wenn diejenigen, die in der nächsten Phase, der des Studiums und der beruflichen Bildung, damit zu tun haben, auch frühzeitig beteiligt werden, damit die Anschlussfähigkeit zwischen den verschiedenen Stationen einer Bildungs- und Ausbildungsbiographie gegeben ist.

Wir beraten heute in erster Lesung das, was aus der neugeordneten Oberstufe für das Schulgesetz an Konsequenzen erwächst. Wir beraten ein bildungspolitisches Projekt, das ein wichtiges Segment im Kontext eines zukunftsfähigen und in sich stimmigen künftigen Gymnasiums sein wird. Die neue Oberstufe ist ein Segment, aber sie ist ein bedeutsames Segment. Sie ist mit einer Neuordnung verbunden, die die Qualität des Abiturs stabilisiert, die das Vertrauen in gymnasiale Bildung stärken soll und die vor allem den Schülern und Schülerinnen eine moderne, eine zukunftsfähige Form ihrer letzten Schuljahre möglich macht.

In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung.

(Lebhafter Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, zusammen mit dem Gesetzentwurf sind zwei Anträge aufgerufen: ein Antrag der Fraktion der SPD und ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Das Präsidium hat ausdrücklich eine Gesamtredezeit von zehn Minuten je Fraktion bei gestaffelten Redezeiten festgelegt. Ich darf bitten, zu berücksichtigen, dass es nach dem einstimmigen Beschluss des Präsidiums für die Begründung der Anträge keine gesonderte Redezeit gibt.

Das Wort hat Herr Abg. Zeller.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf bedeutet die Abschaffung des bewährten Kurssystems. Er bedeutet trotz gegenteiliger Behauptungen eine deutliche Einschränkung der Wahlmöglichkeiten. Er bedeutet in der Konsequenz größere Lerngruppen, da in den Jahrgangsstufen 12 und 13 wieder zum Klassenprinzip zurückgegangen wird.

(Zurufe von der CDU, u. a.: Gott sei Dank!)

Er bedeutet für die Abiturientinnen und Abiturienten aus Baden-Württemberg unter Umständen größere Schwierigkeiten bei der Findung von Studienplätzen, also quasi eine Benachteiligung. Und der Gesetzentwurf bedeutet, dass Baden-Württemberg einen Alleingang macht, einen Sonderweg beschreitet, und dies, obwohl es immer wieder auch anderweitige Behauptungen gibt. Weder Bayern noch Hessen gehen diesen Weg mit. Gegen diesen Sonderweg – Herr Rau, daran möchte ich Sie erinnern – hatten Sie sogar am 7. Mai 1998 von dieser Stelle aus ausdrücklich gesprochen. Heute findet dieser Sonderweg statt.

(Abg. Rau CDU: Zitieren Sie einmal, was ich ge- sagt habe, Herr Kollege!)

Meine Damen und Herren, ich muss auch das demokratische Verständnis der Frau Ministerin und der die Regierung tragenden Koalition anzweifeln.

(Abg. Rückert CDU: Ha no!)

Zum einen wird hier eine bisher offene Diskussion, eine breite Diskussion auch hinsichtlich der Lehrpläne nicht gewährleistet.

(Zurufe von der CDU, u. a. Abg. Wacker CDU: Das ist doch unwahr!)

Sie veröffentlichen Broschüren und tun den Beteiligten gegenüber so, als ob das schon alles beschlossene Sache sei. Das ist ja Ihre angebliche Dialogbereitschaft. Die entpuppt sich hier als wahres Feigenblatt. Aber wahrscheinlich gehen Sie, Frau Schavan, davon aus, dass Sie, egal, was Sie bringen, in diesem Haus immer die Mehrheit bekommen.

(Abg. Wacker CDU: Das ist auch gut so!)

Die Mehrheit wird dies abnicken. Dieses Verhalten ist nichts anderes – so haben Sie es in Ihren Broschüren dargestellt, und zwar bisher am Landtag vorbei – als ein Ausdruck der Arroganz der Macht, die Sie hier im Haus haben.

(Abg. Rau CDU: Sie dürfen die Broschüren lesen!)

Der vorliegende Gesetzentwurf, meine Damen und Herren, ist ein eindeutiger Rückschritt und keine echte Reform. Er ist eine Flickschusterei. Anstatt eine echte Reform des Gymnasiums von unten zu betreiben, wollen Sie vom Dach her beginnen, und Sie verwenden dabei auch noch die falschen Materialien. Sie wollen, dass das Gesetz gegen den Willen von Schülerinnen und Schülern durchgedrückt wird. Der Landesschülerbeirat hat sich Ihrem Entwurf nicht angeschlossen. Es gibt auch eine Stellungnahme des Landeselternbeirats – ebenfalls keine Zustimmung.

(Abg. Rau CDU: Ist da eine Ablehnung drin, Herr Kollege Zeller? Erwecken Sie hier nicht falsche Eindrücke! Der Landeselternbeirat hat nicht wider- sprochen!)

Und in vielen Gesprächen mit Betroffenen, mit Lehrerinnen und Lehrern, mit Schulleitungen habe ich erfahren, dass Ihre Oberstufenreform kritisiert wird und dass auch eindeutig gegen das Durchpeitschen Stellung genommen wurde. Sie wollen mit der Brechstange Ihre bildungspolitische Stärke demonstrieren, so nach dem Motto, hauptsächlich noch vor der Wahl hier etwas zustande gebracht zu haben, nachdem Sie bisher kläglich versagt haben, sowohl im Bereich der verlässlichen Halbtagsschule wie auch bei der Unterrichtsversorgung.

(Beifall bei der SPD – Abg. Ingrid Blank CDU: Mäßiger Applaus der SPD!)

Stimmen aus der Wirtschaft und aus der Wissenschaft, die den Vorteil des jetzigen Systems loben, wischen Sie weg. Es gibt dort Stimmen, die sagen, dass es ein Idealfall ist, wenn Schüler in verstärktem Maß ihren Interessen, ihrem

Engagement nachgehen können, ihren Leistungswillen und ihre Leistungsbereitschaft zeigen und sich auch einmal vertieft mit einem Fach und einem Thema beschäftigen können. Solche Stimmen und Meinungen ignorieren Sie. Sie passen nicht in Ihr Bild. Sie passen nicht in Ihren Alleingang.

Zu Recht kritisiert zum Beispiel Professor Ernst von der Universität Tübingen, dass bestehende Mängel bei Grundkenntnissen und Grundfertigkeiten durch die jetzige Oberstufenreform von Ihnen eben nicht behoben werden. Wie denn auch? Eine Stunde mehr in Mathematik, Deutsch und in einer Fremdsprache, also vier Stunden statt drei Stunden im Grundkurs, soll die Lösung sein.

Übrigens kritisieren Sie nur die Grundkurse, nicht die Leistungskurse. Gleichzeitig erhöhen Sie mit Ihrem Modell die Zahl der zweistündigen Fächer auf insgesamt sechs. Für mich ist völlig unlogisch, wie man einerseits genau dieses kritisiert und sagt, dass zu wenig gemacht wird, und wie andererseits dieser Schritt bewusst gegangen wird. Wenn Sie schon die Grundfertigkeiten verbessern wollen, dann müssen Sie von unten anfangen. Dann müssen Sie zum Beispiel auch erklären, warum die Realschülerinnen und Realschüler beispielsweise in den Klassen 9 und 10 je vier Stunden in Deutsch und in der Fremdsprache haben, die Schülerinnen und Schüler am Gymnasium aber nur drei Stunden haben. Dort wäre anzusetzen. Dort wäre sozusagen die Grundlage für das zu schaffen, was Sie hier kritisieren.

Das Haus, meine Damen und Herren – das wissen wir alle –, wird von unten aufgebaut. Eine echte Reform muss deshalb mit der Klasse 5 beginnen. Also sage ich Ihnen klipp und klar: Fummeln Sie hier nicht an der Oberstufe herum, die Sie übrigens bis vor kurzem noch in Ihren Informationsschriften für Elftklässler in wunderschönen Tönen lobten. Fangen Sie nicht bei der Oberstufe an, sondern entwickeln Sie ein Gesamtkonzept für eine echte Reform des Gymnasiums, das die Unter-, die Mittel- und die Oberstufe einbezieht.

Eine solche Reform, meine Damen und Herren, ist natürlich schon längst überfällig. Ich sage Ihnen: Wir wollen die jungen Menschen im Interesse der Zukunftschancen der jungen Generation auf die Anforderungen vorbereiten, die auf sie zukommen: auf die Anforderungen einer Kommunikationsgesellschaft, auf die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen sowie von außerfachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Fächerübergreifendes Wissen hat eine immer größere Bedeutung. Beginnen Sie mit der Reform der Lehr- und Lerninhalte, der Lehrpläne, von unten. Überflüssiges Faktenwissen muss raus aus den Lehrplänen. Dringend notwendig sind neue Schwerpunkte wie Informationstechnik und Kommunikation, wie Technik und Wirtschaft. Es ist auch notwendig, die Berufs- und Lebenswelt stärker in den Schulalltag einzubeziehen und die Lernortvielfalt zu verbessern. Geben Sie den Schulen mehr Gestaltungs- und inhaltlichen Freiraum, die Schwerpunkte selbst setzen zu können.

Meine Damen und Herren, zu einer echten Reform gehört auch eine Reform der Unterrichtsarbeit, vermehrte Projektarbeit, Teamarbeit sowie fächerübergreifender Unterricht, der diesen Namen auch tatsächlich verdient. Entgegen Ih

rer Behauptung, Frau Schavan, stelle ich fest, dass noch lange nicht alle Schulen ein eigenes Schulprofil und ein eigenes Schulprogramm erarbeitet haben. Unsere Schulen brauchen dabei die volle Unterstützung der Schulverwaltung bis hin zu externer Beratung. Lassen Sie Schulversuche zu, insbesondere natürlich auch zu der Oberstufe. Lassen Sie diese Schulversuche wissenschaftlich begleiten, damit wir eine fundierte Grundlage haben.

Noch ein Wort zur FDP/DVP. Der Kollege Pfister ist jetzt leider nicht da.

(Abg. Drexler SPD: Wo ist er denn? – Abg. Rückert CDU: Aber die Frau Berroth!)

Mir tut der Kollege Pfister eigentlich Leid; denn ich schätze ihn auch als Mensch sehr.

(Abg. Rückert CDU: Ach was! – Abg. List CDU: Krokodilstränen!)

Er hat sich in den letzten Legislaturperioden mehrfach für das jetzige Kurssystem stark gemacht. Ich erinnere mich zum Beispiel noch sehr gut daran: 1995 waren wir zu einem Expertengespräch Gast bei der GEW. Dort hat er sich eindeutig für das Gymnasium mit dem jetzigen Kurssystem ausgesprochen. Der Landesparteitag der FDP/DVP im Januar dieses Jahres hat beschlossen, die fünfstündigen Leistungskurse beizubehalten. Gleichzeitig aber haben die FDP/DVP-Minister im Kabinett dem Schavan-Modell zugestimmt und es abgenickt. Aber wahrscheinlich ist es ja bei der FDP/DVP in Baden-Württemberg so wie anderswo auch:

(Abg. Christa Vossschulte CDU: So wie bei der SPD!)

Die Fähnchen werden in den Wind gehängt; Hauptsache, man kann an der Macht bleiben.

(Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Wie bei der SPD!)

Meine Damen und Herren, unser Fazit ist: Das Gymnasium muss sich ebenso wie die anderen Schularten verändern, um den neuen und künftigen Anforderungen der Kommunikationsgesellschaft in einer globalisierten Welt gerecht zu werden und die Zukunftschancen zu verbessern. Durch die Oberstufenpläne der Landesregierung wurden wesentliche Zukunftsfragen der Gymnasialbildung nicht beantwortet oder mit der faktischen Abschaffung des Kurswahlsystems sogar die falschen Weichen gestellt. Notwendig ist nicht die Einschränkung des Kurswahlsystems, sondern die Ausweitung im Sinne einer stärkeren Profilbildung der Schulen. Notwendig sind eine Ausweitung der Unterrichtsangebote, beispielsweise in Informatik, und die Einführung dezentraler Abiturprüfungen. Da sind wir völlig anderer Meinung als Sie.

Solange also kein Gesamtkonzept vorliegt, Ergebnisse aus entsprechenden Schulversuchen fehlen, Abstimmungen mit den anderen Bundesländern verweigert werden, sollten Sie Ihren Gesetzentwurf zurückziehen und tatsächlich zunächst einmal Ihre Hausaufgaben machen.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort hat Frau Abg. Rastätter.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf soll nun die neue Oberstufe nach dem Modell unserer Kultusministerin mit „aller Macht“ kommen. So dringend ist es Ihnen, Frau Schavan, dass eine Broschüre für die Schüler und Schülerinnen schon gedruckt und verteilt wurde, bevor überhaupt die notwendige Gesetzesänderung in den Landtag eingebracht wurde. Meine Damen und Herren, ich halte das für eine Missachtung demokratischer Spielregeln.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei Ab- geordneten der SPD – Abg. Christa Vossschulte CDU: Das soll in der Öffentlichkeit diskutiert wer- den!)

Nun mache ich mir über das Abstimmungsverhalten bei den Mehrheitsfraktionen keine Illusionen, Frau Vossschulte, aber wir sehen hier erneut, wie ernst die Kultusministerin den tatsächlichen Dialog nimmt, der auch noch eine Änderung von Positionen bei den Schulgesetzberatungen zuließe. Was wir im Verlauf der Diskussion erlebt haben, war lediglich ein Prozess diverser Umdeutungen. Das Modell selbst ist in den letzten zwei Jahren nicht wesentlich verändert worden.

Wenn man die geplante Strukturreform kritisiert, wird neuerdings auf die geplanten inhaltlichen Veränderungen verwiesen, auf die neuen Unterrichtsmethoden, die Unterrichtsformen und die Lehrpläne. Diese und nicht strukturelle Innovationen stünden im Mittelpunkt der Neuregelung, so schreibt die Kultusministerin in der Stellungnahme zu unserem Antrag. Wir Grünen, Frau Kultusministerin, würden eine tatsächliche Diskussion und eine Reform der Inhalte begrüßen, da uns diese Diskussionen ohnehin lieber sind als die Schulstrukturdebatten. Die inhaltliche Reform setzt aber einen Dialog voraus, setzt eine Diskussion über das voraus, was wir wollen, und einen breiten Erfahrungsaustausch. Vor allem setzt eine inhaltliche Reform der Oberstufe ein systematisches Nachdenken über eine Reform des Gymnasiums ab Klasse 5 voraus. Ein Gesamtkonzept für das Gymnasium ist überfällig, statt immer mehr Baustellen an allen Ecken und Enden des Gymnasiums zu schaffen. Wer zum Beispiel die Kernkompetenzen Deutsch und Mathematik stärken will, der muss damit doch in der Klasse 5 beginnen und darf den Blick nicht nur auf die Oberstufe richten.